Der russische Angriff auf die Ukraine betrifft auch in Hamburg viele Studierende und Wissenschaftler:innen. Sie sorgen sich um ihre Familie und Freunde, können nicht in ihre Heimat zurückkehren und fühlen sich hilflos angesichts der Lage. Die beiden Promovierenden Alona und Kostiantyn sind zwei von ihnen. In KOPFZEILE erzählen sie, wie sie die aktuelle Situation wahrnehmen.
Von Anna Ströbele Romero und Tabea Kirchner
Mehr als 2 Millionen Menschen aus der Ukraine sind laut UN-Angaben seit Putins Angriff auf der Flucht. Jeden Tag erreichen uns neue Bilder von Zerstörung und Leid, Kämpfen und Widerstand, aber auch von Solidarität aus allen Ecken der Welt. Wir wollen wissen, wie es ukrainischen Studierenden an der Universität Hamburg geht, was ihre Gefühle, Sorgen, Ängste, aber auch Hoffnungen sind. Dafür haben wir mit Alona und Kostiantyn gesprochen. Die beiden sind bereits vor einigen Jahren zusammen nach Hamburg gekommen und promovieren am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft.
Ich weiß nicht, wer von ihnen noch lebt.
Alona Shestopalova
Alona Shestopalova kommt ursprünglich aus der Ostukraine. Ihre Heimatstadt Sumy liegt nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt und sei bereits vier Stunden nach dem Angriff am 24. Februar von russischen Truppen und Panzern umzingelt gewesen, berichtet sie. „Niemand konnte gehen.“ Am meisten sorge sie sich um ihre Eltern, ihre Schwester und ihre Nichten, die ihre Zeit nun überwiegend in Badezimmern, Kellern und Luftschutzbunkern verbringen, um sich vor den Bomben zu verstecken. Manche ihrer Freunde kämpfen in der sogenannten Territorialen Verteidigung mit. Der Kontakt zu ihnen gestalte sich schwierig. „Ich weiß nicht, wer von ihnen noch lebt“, spricht sie die harte Wahrheit aus.
Ihre Mutter müsse aktuell noch das Haus verlassen, um zur Arbeit in einem Studierendenwohnheim zu gehen. „Dort leben Jugendliche zwischen 15 und 18 Jahren, die Künstler:innen werden wollen“, erklärt die Ukrainerin. „Obwohl sie aus der Region Sumy stammen, konnten sie ihre Familien nicht erreichen, weil die Stadt eingekreist war.“ Vor ein paar Tagen, als ihre Mutter bei der Arbeit war, habe Alona mit ihr telefoniert und sich nach den Jugendlichen erkundigt. „Meine Mutter fragte ein Mädchen im Vorbeigehen, ob sie zu Hause angerufen hätte, weil ihre Stadt gerade bombardiert worden war. Die Antwort war: ‘Ich habe zu Hause angerufen. Es gibt kein Zuhause mehr.’ Das Blockhaus, in dem ihre Eltern lebten, war vollständig zerstört worden“, erzählt Alona.
77 Jahre später fallen wieder Bomben
Auch die Stadt Sumy wird immer wieder bombardiert. „Neulich war meine Mutter auf dem Weg zur Arbeit, als es passierte und sie sagte, obwohl die Bombe ziemlich weit entfernt einschlug, sei das Geräusch so laut gewesen, dass sie nichts anderes tun konnte, als sich auf den Boden zu setzen.“ Alonas Großmutter kommt ebenfalls aus der Ostukraine. Sie wurde 1940 geboren. „Ich wuchs mit ihren Geschichten darüber auf, wie sie sich vor Bombenangriffen der Wehrmacht versteckte“, erinnert sich Alona. „Meine sechsjährige Nichte hat jetzt auch ihre Geschichten, die sie mal ihren Enkeln erzählen kann. Wenn sie denn am Ende der Geschichte noch lebt.“
Aktuell würden ihre Nichten Zuhause in der Badewanne schlafen, denn es gebe täglich mehrere Warnungen vor Luftangriffen. „Die Supermarktregale sind mittlerweile fast überall leer, doch die Menschen unterstützen sich gegenseitig sehr und teilen, was sie haben“, berichtet Alona. Immerhin sei vor Kurzem eine Lieferung mit humanitärer Hilfe in der Stadt angekommen – trotz der russischen Blockade. Als Folge jüngster Angriffe seien in der Sumy Region derzeit Tausende ohne Strom, Heizung und Wasser. Aktuell beginnen Tagesschau zufolge erste erfolgreiche Evakuierungen aus der Stadt Sumy.
Es ist wie ein einziger, niemals endender Tag.
Kostiantyn Yanchenko
Kostiantyn Yanchenko forscht eigentlich gerade über populistische Kommunikation in der Ukraine. Kurz nach dem Angriff erreichte ihn die Nachricht, dass sein zweites Paper, das er im Rahmen seiner Dissertation geschrieben hatte, in einem bekannten Journal zur Publikation angenommen wurde. Freuen konnte er sich darüber bisher nicht. Auch an die Arbeit kann er schon seit Tagen nicht mehr denken. „Am 24. Februar ist für mich die Zeit stehen geblieben. Seitdem ist es für mich wie ein einziger, niemals endender Tag“, sagt er.
Der junge Forscher kommt aus Lwiw (dt. Lemberg), im Westen der Ukraine. Die Stadt wurde bislang von Angriffen verschont und ist aktuell für viele Ukrainerinnen und Ukrainer der Zwischenstopp auf ihrer Flucht ins Ausland. „Ich fühle mich schuldig, hier in Hamburg in Sicherheit zu sein, während mein Land angegriffen wird“, sagt er. Vor Ort bei der Territorialen Verteidigung wäre er allerdings auch nutzlos. Er habe nie eine vergleichbare Ausbildung gehabt, geschweige denn könne er eine Waffe bedienen, gesteht er. „Wenn ich jetzt in der Ukraine wäre, würde ich vermutlich als Journalist mein Bestes geben.“
Getrennt von der Familie
Das Land verlassen dürfte er jedenfalls nicht mehr, alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren haben Ausreiseverbot. Was das konkret bedeutet, sieht der Doktorand an seinem Bruder. Dieser musste sich in der vergangenen Woche von seiner Frau und seinen Kindern trennen und alleine zurückbleiben. Er habe lange gezögert, aber „ich habe zu ihm gesagt, dass es das einzig Richtige war, was er tun konnte“, erzählt Kostiantyn. Seinem Bruder fiel die Entscheidung sehr schwer. „Er weiß nicht, und das höre ich gerade von vielen Menschen aus der Ukraine, wann er seine Familie wieder sieht. Oder, ob.“
In Hamburg nutzt Kostiantyn nun jede Sekunde, „um wenigstens irgendetwas Sinnvolles für die Menschen vor Ort beizutragen.“ In seinem Wohnhaus haben sie eine Sammelaktion für humanitäre Hilfe und Sachspenden organisiert, erzählt er. Menschen können dort Lebensmittel, Kleidung, Decken oder Medikamente abgeben, die sie nicht mehr benötigen. Am vergangenen Freitag ist der erste Transport in Richtung Ukraine gestartet.

Angst vor dem Vergessen
„Ich bin wirklich dankbar für all die Demonstrationen und Solidarität mit der Ukraine”, bemerkt Kostiantyn. „Aber ich habe Angst davor, dass die Menschen müde werden.“ Bald würden die Schlagzeilen weniger und es kämen wieder andere Themen auf die Agenda. „Bald ist die Ukraine nur noch eine weitere traurige Geschichte, ein weiteres Afghanistan oder Syrien.“ Damit der Krieg nicht so schnell in Vergessenheit gerät, versucht Alona auf Twitter aktiv zu bleiben und informiert dort über die Situation in ihrer Heimat. Für sie sei es „absolut logisch“, dass das Thema mit der Zeit in den Hintergrund rücke. Das Leben in Deutschland sei schließlich immer noch da. „Es ist nur unsere Welt, die nun völlig ruiniert ist“, meint sie traurig.
Vor Kurzem habe sie sich an ihre Dissertation gesetzt und eine Stunde konzentriert arbeiten wollen. „Die Zeit danach war für mich die schlimmste seitdem der Krieg im ganzen Land ausgebrochen ist“, erzählt Alona. Sie habe es geschafft, sich vollkommen auf die Arbeit zu fokussieren und habe das Leid für die kurze Zeit vergessen. Als sie sich dann wieder dessen bewusst wurde, sei es schrecklich gewesen, „denn ich habe verstanden, dass man sich davon vollkommen entfernen kann, wenn man einfach weitermacht.“
Putins Propaganda
In Alonas Dissertation geht es um die staatlich kontrollierten Medien in Russland und wie sie über den russisch-ukrainischen Konflikt berichten. „Also arbeite ich auch irgendwie mit dem, was gerade passiert“, kommentiert sie. Als Person, die zu diesem Thema forscht, wisse sie: Die staatlich kontrollierten Medien sind entscheidend dafür, wie die Russ:innen die Situation verstehen. „Sie bekommen ein ganz anderes Bild von dem, was seit 2013 in der Ukraine passiert. Deshalb ist es für mich kein Wunder, dass sie entweder nicht genau verstehen, was gerade passiert, oder den Krieg unterstützen. Ihnen wurde gesagt, dass die Ukraine eine Art Völkermord begeht.“ Das stimme einfach nicht.
Kostiantyn ist selbst in einer russischsprachigen Familie in der Ukraine aufgewachsen. Niemals in seinem ganzen Leben habe das je ein Problem dargestellt. „Diese angebliche Diskriminierung oder Verfolgung ethnischer Russen gab es nie“, sagt er. „Die Argumente, mit denen Putin jetzt Aggressionen und Gewalt rechtfertigt, sind Schwachsinn. Es gibt absolut keine Rechtfertigung für diesen Krieg.“
Frieden, Frieden, aber wie?
Von ihren Kolleg:innen und Freund:innen in Hamburg fühle sich Alona sehr gut unterstützt. Sie seien mit auf Demos gekommen und teilten ihre Tweets. Auch möge sie, wie die deutschen Medien über die Situation berichten. „Ich habe zum Beispiel die Tagesschau gesehen, die Tagesthemen, den Brennpunkt und ich finde, dass sie einen realistischen Eindruck vom Geschehen in der Ukraine vermitteln“, sagt sie.
Manchmal würde sie sich Gespräche über praktische Lösungen wünschen. Die Doktorandin betont, sie sei die Erste, die Frieden für ihre Heimatstadt und Familie wolle. Aber der komme nun mal nicht von alleine. Sie sei froh, dass mittlerweile ein Großteil der Deutschen die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten würden. „Ich möchte nicht, dass noch mehr Menschen in der Ukraine sterben. Aber ich sehe es so: Wenn Waffen geschickt werden, helfen diese, den Frieden schneller herbeizuführen,“ erklärt sie.
Haltung der Universität Hamburg
Die Universität Hamburg verurteilt den Angriff Putins gegen die Ukraine aufs Schärfste. In einem Brief vom 4. März erklärt der neue Präsident der Universität Hamburg, Prof. Hauke Heeren, dass alle bestehenden Wissenschaftskooperationen mit Russland vorerst eingestellt werden. Er betont, dass sich die Universität nicht gegen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Russland positioniert, sondern ausschließlich gegen die russische Regierung. In einem späteren Schreiben fügt Heeren hinzu, die Universität Hamburg stehe „in intensivem Austausch“ mit der Stadt und weiteren universitären Einrichtungen, „um ukrainische und russische Studierende an der Universität bestmöglich zu unterstützen und die Auswirkungen auf ihr Studium so gering wie möglich zu halten.“
Anlaufstellen für Betroffene:
Für drängende Fragen Studierender und Promovierender aus der Ukraine und Russland hat die Universität ein FAQ zusammengestellt.
Hilfe mit Aufenthaltstiteln sowie bei sozialen oder persönlichen Schwierigkeiten bietet die Beratung für internationale Studierende.
Darüber hinaus können sich gefährdete Forschende oder Studierende aus aller Welt auf das Hamburg Programme for Scholars at Risk (HPSAR) bewerben.
Wenn du merkst, dass der Krieg und seine Auswirkungen auf dein Leben deiner mentalen Gesundheit nicht guttut, kannst du dir professionelle Hilfe holen! Die Psychologische Beratung der Universität Hamburg bietet Termine zur Einzelberatung an, zu der du dich online anmelden kannst. Montags von 11 bis 12 Uhr findet außerdem eine offene Sprechstunde statt, in welcher ohne Anmeldung ein kurzes telefonisches Beratungsgespräch geführt werden kann: 040 42838 8916.