Unsere Psyche in der Krise

Durch die Kontaktbeschränkungen und Isolation im Shutdown fühlen sich viele Menschen zurzeit einsam. (Foto: Free-Photos / Pixabay)

Die zweite Corona-Welle ist ausgebrochen. Erneut werden Läden geschlossen, Kontakte reduziert und Verbote ausgesprochen, um möglichst viele Menschen vor einer Infektion mit dem Virus zu schützen. Die Gefahr einer Ansteckung ist den meisten längst bewusst geworden, doch was passiert mit unserer Psyche in der Krise?

Franziska, eine 33-jährige Rechtsanwaltsfachangestellte aus Erding in Bayern, lebt allein. Ihr macht in der Krise vor allem die Einsamkeit zu schaffen. „Mir fehlt einfach das Zusammensein, das gemeinsame Ausgehen, das Feiern von Geburtstagen und auch das Taekwon-Do Training als Gruppe,“ beschreibt sie ihre Situation. Um sich davon abzulenken, telefoniert sie täglich mit ihrem Großvater und trifft sich nach der Arbeit im Home-Office gelegentlich mit Freunden – allerdings in einem virtuellen Zoom-Raum. Das helfe ihr zwar, mit der Situation zurechtzukommen, „aber,“ meint sie, „im Grunde, bin ich die ganze Zeit allein“.

Allein ist Franziska allerdings nicht mit dem, was sie erlebt. Schon Ende November empfahl Angela Merkel eine „Woche des Schutzes“– also eine freiwillige Isolation – und großzügige Homeoffice-Regelungen vor Weihnachten und seit Mittwoch, 16.12.2020, gelten bundesweit strenge Shutdown-Maßnahmen. Man kann also davon ausgehen, dass ein Großteil der Menschen gerade Zuhause bleibt – und damit nicht besonders zufrieden ist. Darauf deutet zumindest das vorläufige Ergebnis einer Studie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) hin. Die Forscher fragten bei denselben Personen zu verschiedenen Zeitpunkten die allgemeine Lebenszufriedenheit (von 1-10) ab und fanden im November einen extremen Abfall der Werte um 0.9 Punkte. Dieser Rückgang sei ähnlich stark ausgeprägt wie bei dem Verlust eines Angehörigen, sagt Gregor Leicht, einer der Autoren der Studie.

Erste Ergebnisse einer Studie am UKE zeigen den Abfall der Lebenszufriedenheit während der zweiten Corona-Welle. Die Daten für den Dezember werden noch ausgewertet. (Grafik: Martin Schröder)

Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf unsere Psyche?

Neben der allgemeinen Lebenszufriedenheit gibt es eine große Bandbreite an Reaktionen auf die Covid-19-Pandemie, darunter Schlafstörungen, Gereiztheit, Unruhe, Ängstlichkeit, Sorgen, Antriebslosigkeit und niedergeschlagene Stimmung. Eine Studie der Donau-Universität Krems vom April weist zum Beispiel einen Anstieg der Depressions- und Angstsymptome in der österreichischen Bevölkerung nach – auf das Drei- bis Fünffache der Werte vor der Pandemie.

Auch die Psyche von Kindern leidet unter der aktuellen Situation. Einer zweiten Studie des UKE zufolge zeigt etwa jedes dritte Kind während der Corona-Krise ein Risiko für psychische Probleme – zuvor war es jedes fünfte. „Wir haben mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens gerechnet, dass das allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht,“ kommentierte die Studienleiterin Ulrike Tavens-Sieberer die Befunde in einer Pressekonferenz.

Die COPSY-Studie belegt einen Anstieg der psychosomatischen Beschwerden von Kindern und Jugendlichen während der Pandemie. (Grafik: Deutsches Ärzteblatt)

Gregor Leicht arbeitet am UKE nicht nur in der Forschung als Studienautor, sondern auch als Oberarzt an der Depressionsstation. Auf Anfrage von KOPFZEILE berichtet er, dass zurzeit über die Hälfte aller neuen Patienten von Symptomen mit Bezug zur Corona-Krise erzählen, „sei es die Angst vor einer tatsächlichen Infektion oder Einsamkeit aufgrund der sozialen Distanzierung“.

Wen trifft die Krise besonders hart?

Die Pandemie betrifft zwar alle Menschen, ihre jeweilige Wirkung ist jedoch sehr individuell und von verschiedenen Faktoren abhängig. Dazu gehören unter anderem die finanzielle Lage und Sicherheit der Arbeitsstelle, der persönliche Umgang mit Stress, die Einsamkeit zu Beginn der Pandemie und vorbestehende psychische Erkrankungen. „Viele Menschen, die schon einmal von einer Depression betroffen waren, erleben nun eine Verschlimmerung ihrer Symptomatik,“ sagt Gregor Leicht. Da sie in depressiven Phasen zum Rückzug neigten, hätten sie ohnehin eher wenige soziale Kontakte. „Wenn dazu noch ein äußerer Faktor kommt, der das Sozialleben massiv einschränkt, dann ist das Vielen einfach zu viel,“ so der Psychiater.

Besonders gefährdet für psychische Probleme durch die Pandemie sind ebenfalls Fachkräfte in der Altenpflege und medizinisches Personal, die in ihrer täglichen Arbeit einer sehr hohen Belastung ausgesetzt sind und auch Alleinerziehende und Alleinlebende gehören zu der Risikogruppe.

Wer kommt gut klar?

Auf die psychische Bewältigung der Corona-Krise hat die persönliche Einstellung einen großen Einfluss. Gregor Leicht geht davon aus, dass ein Unverständnis über die von der Politik beschlossenen Maßnahmen zu Verbitterung und einem Gefühl der Hilflosigkeit führt. Dieses fördere wiederum depressive Reaktionen. Auf der anderen Seite hätten Menschen, die die Einschränkungen als legitim empfinden, das Gefühl, einen aktiven Beitrag im Kampf gegen Corona zu leisten, wenn sie auf Dinge verzichten. „Das macht es ganz entscheidend erträglich oder unerträglich.“

Der Zeitschrift pharmazie sozial zufolge zeigen Menschen mit einem stabilen sozialen Netzwerk und einer guten Gesundheit weniger psychopathologische Symptome. Die Studie der Donau-Universität Krems belegt, dass Personen über 65 Jahren mit Abstand am besten durch die Krise kommen – junge Erwachsene hingegen erleben eine auffallend hohe Belastung.

Wie können wir unsere Resilienz stärken?

Coreszon – Community Resilience Network – heißt eine Hamburger Initiative, die sich intensiv mit der Stärkung der individuellen und gemeinschaftlichen Resilienz befasst. Zu Beginn der Pandemie haben sie auf ihrer Website einen „Werkzeugkasten“ für Zuhause veröffentlicht, der Übungen für den alltäglichen Umgang mit Stress beinhaltet. Roos Kengen, Studentin der Gesundheitswissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), hat kürzlich die Trainerausbildung bei Coreszon abgeschlossen und erklärt: „Im Prinzip verfügt unser Körper über die natürliche Funktion, Stress abzubauen, indem unser Nervensystem auf Umweltreize reagiert und entsprechend hoch- oder runterfährt.“ In Zeiten von Corona gebe es viele Reize, auf die eine entsprechend intensive Reaktion folge. „Das führt dazu, dass der Stresspegel konstant erhöht ist und der Körper zusätzliche Kraft benötigt, um diesen wieder abzubauen. Das kann sich in verschiedenen Symptomen bemerkbar machen, zum Beispiel Gereiztheit, Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme.“

Was können wir tun, um das zu verhindern? Eine Studie der Universität Hamburg kam zu dem Ergebnis, dass Versuchsteilnehmer*innen, die ihre Beziehungen im Lockdown weiterhin pflegten, insgesamt weniger belastet waren als diejenigen, die das nicht taten. Dabei spielte es keine Rolle, ob man räumlich voneinander getrennt war. Auch Vertreter*innen der Initiative Coreszon sehen soziale Unterstützung als einen der wichtigsten Faktoren, der vor psychischer Erkrankung in Folge von Stress schützt. Daher verfolgen sie die Mission, möglichst viele Menschen dazu zu ermutigen, mit ihrem Umfeld über die eigene seelische Gesundheit zu sprechen. „Redet darüber, wenn es euch nicht gut geht, seid ehrlich zu euch selbst und fragt auch Andere, wie sie mit der Situation umgehen,“ appelliert Roos Kengen.

Ein weiterer Faktor, der das psychische Wohlbefinden positiv beeinflusst, ist das Einhalten einer festen Tagesstruktur. Und auch Sport kann uns dabei helfen, mental gesund zu bleiben. Der Autor der österreichischen Studie, Christoph Pieh, betont: „Regelmäßige körperliche Bewegung hat mitunter eine ähnlich gute Wirkung wie ein Antidepressivum“.

Was mache ich, wenn es mir schlecht geht?

„In einem starken Stressmoment kann es helfen, ein Glas Wasser zu trinken, da das ein automatisches Signal an den Körper sendet, sich zu entspannen,“ rät Roos Kengen. Franziska, die den Shutdown in ihrem Zuhause in Erding allein verbringt, ist in solchen Momenten für ihre Tiere dankbar. „Wenn es mir an einem Tag nicht so gut geht, nehme ich meine Katzen einmal hoch und spiele mit ihnen – und schon ist alles halb so schlimm,“ meint die 33-Jährige. Sollten die Symptome allerdings wochenlang anhalten und so stark sein, dass der Alltag nicht mehr zu bewältigen ist, empfiehlt es sich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Werden wir alle eine psychische Störung davontragen?

Die aktuelle Lage ist eine Ausnahmesituation und es ist daher normal, sich ab und zu ängstlich oder erschöpft zu fühlen. Das kann ein erhöhtes Risiko für psychische Probleme bedeuten, jedoch noch lange nicht, dass sich daraus tatsächlich eine psychische Störung entwickeln wird. Beispielsweise müssen für die Entstehung einer Depression immer zwei Faktoren auftreten: Eine Veranlagung – dazu gehört die Gene und vorangegangene, kritische Lebensereignisse – und ein Auslöser. Letzterer ist zum Beispiel der Stress durch die Pandemie, weswegen die Krise durchaus weitreichende Konsequenzen für verletzliche Risikogruppen haben könnte. „Ich glaube aber nicht, dass Menschen, die keine Veranlagung haben, das nicht wegstecken werden,“ vermutet Gregor Leicht.

Für die langfristigen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Psyche sei es „von äußerster Bedeutung, ob die gegenwärtigen Ereignisse im Nachhinein als gemeinsames Erfolgserlebnis oder als Misserfolgserlebnis im Gedächtnis abgespeichert werden,“ heißt es in einem Konzeptpapier verschiedener psychologischer Verbände und Institutionen, das im Juni veröffentlicht wurde.

Es ist außerdem davon auszugehen, dass die Pandemie auch noch nach ihrem Ende Konsequenzen für die psychische Gesundheit vieler Menschen haben wird. Solange die sozialen und wirtschaftlichen Folgen anhalten, werden sie Stressfaktoren für die Betroffenen darstellen – und damit ein möglicher Auslöser für psychische Probleme sein.