Eine der bekanntesten spanischen Traditionen wird durch einen gesellschaftlichen Stimmungswechsel in Frage gestellt. Auch ökonomisch gesehen kriselt das Spektakel schon länger und überlebt nur mithilfe von Subventionen. Wie lange geht das noch gut? Wäre es legitim, eine kulturelle Ausdrucksform zu verbieten? Wie findet sich eine Lösung in diesem Konflikt, der die Bevölkerung so stark spaltet?
Im August diesen Jahres blockierte Twitter den Account des spanischen Stierkämpfers Morante de la Puebla, da seine Inhalte gegen die Richtlinien zur Gewaltdarstellung verstießen. Diese Aktion löste eine Polemik im Land aus und warf wieder die altbekannte Frage auf: Ist Stierkampf Kultur oder Folter? Auch wenn man in Deutschland nicht viel davon mitbekommt, das weltberühmte Spektakel findet noch heute in Spanien statt – in 15 der 17 autonomen Gemeinschaften. Auf den kanarischen Inseln wurde die Praktik bereits 1991 verboten, in Katalonien werden trotz eines gescheiterten Verbots keine Stierkämpfe mehr veranstaltet.
Besonders präsent ist la fiesta (das Fest) auf dem Land, der nationale Verband der Stierkampf-Veranstalter ANOET schreibt dazu auf seiner Website: „In ländlichen Gebieten gibt es eine stärkere Verbindung zum Stierkampf. Viele Gemeinden organisieren Stierfeste als Teil ihrer lokalen Feierlichkeiten und als weitere Freizeitaktivität für ihre Bürger.“ Doch auch in den Städten finden gelegentlich Stierkämpfestatt, vor allem im Sommer. In der größten Arena Madrids, „Las Ventas“, kostet der Eintritt dabei platzabhängig zwischen 6 und 175 Euro. Neben den klassischen corridas (Stierkampf) gibt es in Spanien eine Vielzahl weiterer Traditionen mit Stieren. Dazu gehören auch die encierros, bei denen die Tiere durch die Straßen getrieben werden.
Vor der Corona-Pandemie wurden 2019 in Spanien laut einem Bericht des Kulturministeriums insgesamt 1.425 „Stierfeste“ organisiert, davon knapp 350 corridas – der geringste Wert in den vergangenen Jahren. Zwischen 2012 und 2019 ist dem Ministerium für Kultur zufolge die Anzahl der Stierkämpfe um ein Viertel gesunken. Auch die Zahl der aktiven professionellen Stierkämpfer:innen nimmt ab: Waren es 2012 noch insgesamt 6.700 Stierkämpfer:innen, so sind es 2020 nur noch knapp 5.000, davon 464 matadores. So nennen sich die Protagonist:innen des Kampfes, welche sich dem Stier im letzten „Akt“ allein gegenüberstellen und ihn töten.

Wie stehen die Spanier:innen zu dem Thema?
In der Bevölkerung ist das Fest sehr umstritten: In einer Umfrage der „Huffington Post“ im Jahr 2018 positionierte sich die Mehrheit der Befragten (52 Prozent) gegen die Stierkämpfe und sprach sich sogar für ein Verbot aus. Ein Drittel (35 Prozent) stimmte gegen das Verbot und 10 Prozent zeigten sich unentschlossen. Dabei hatte etwa die Hälfte der Befragten schon einmal einen Stierkampf in der Arena gesehen. Laut einem Bericht des Kulturministeriums besuchten zwischen 2018 und 2019 nur 8 Prozent der Spanier:innen ein „Stierfest“, bei den 15-19-Jährigen waren es allerdings 10,5 Prozent – der höchste Wert innerhalb aller Altersgruppen.
Tatsächlich hat die Tradition auch viele Befürworter:innen, eine davon ist Neyva Sánchez Pérez aus Granada. Sie meint, die Arena sei jedes Mal voll, wenn sie einen Stierkampf besuche. „Manchmal bekomme ich sogar keine Tickets, weil die so schnell ausverkauft sind,“ sagt sie. Entgegen dem Abwärtstrend glaubt sie daher, dass das Spektakel durchaus weiterhin sein Publikum hat. Und dieses bestehe eben nicht nur aus älteren Generationen. „Ja, es gibt ältere Menschen in der Arena, aber auch sehr viele junge Leute,“ beschreibt sie ihren Eindruck. Sie selbst ist 29 Jahre alt und wuchs mit der Kultur rund um den Stierkampf auf. „Schon meine Eltern und Großeltern waren Fans und auch in meiner Freundesgruppe haben wir uns seit der Schulzeit dafür eingesetzt, zusammen zu Stierkämpfen zu gehen.“
Was ist so besonders an der Tradition?
„Vivir sin torear no es vivir“ – „Ein Leben ohne gegen Stiere zu kämpfen ist kein Leben“, schreibt der 49-Jährige torero Curro Díaz in seiner Instagram-Biografie und stellt damit klar, welche persönliche Bedeutung das sogenannte große Fest für ihn hat. „Es ist spanische Kultur, der Stierkampf hat schließlich hier seinen Ursprung“, findet auch Neyva. „Daher denke ich, dass wir ihn respektieren sollten.“ Tatsächlich hat die tauromaquia in Spanien eine jahrhundertelange Tradition und beinhaltet neben dem rituellen Ablauf des Kampfes auch spezielle Kleidung (traje de luces), typische Musik und einen regelgeleiteten Publikumsdialog: Nachdem der Kampf beendet ist, wedeln die Zuschauer:innen beispielsweise mit Taschentüchern und geben so ihre Zufriedenheit mit dem matador und dem gebotenen Spektakel kund. Bei besonders positiver Resonanz werden dem „besiegten“ Tier ein oder zwei Ohren abgeschnitten und dem matador als Trophäe überreicht.

Auch der spanische Staat hat den „unbestreitbar kulturellen Charakter“ des Stierkampfes offiziell anerkannt. Mit der Begründung, den „Schatz des Landes“ erhalten zu müssen, wurde die Praktik im November 2013 von der Regierung zum immateriellen Kulturgut erklärt und damit gesetzlich unter Schutz gestellt. Einer der berühmtesten spanischen toreros der Gegenwart, Enrique Ponce, kommentierte auf einer anschließenden Pressekonferenz im Dezember 2013: „Wir Stierkämpfer betrachten uns in erster Linie als Künstler. Daher wollen wir, dass auch der Stierkampf in diesem Sinne angesehen wird.“
„Purer Nervenkitzel“

Auf die Frage, was sie an den corridas so schätze, antwortet Neyva: „Wenn ich einen Stierkampf besuche, spüre ich Aufregung, puren Nervenkitzel. Ich sehe da einen Mann, der sich allein einem Stier stellt.“ Je nach torero sei das Erlebnis anders. Und: „Auch die Stimmung in der Arena ist einzigartig.“ In Neyvas Heimatstadt Granada in Südspanien sei es üblich, kleine Kühlschränke mitzunehmen. „Dann machst du da ein kleines Picknick mit Essen und Getränken und alle teilen was sie dabeihaben,“ erzählt die 29-Jährige.
„Das Tier wird langsam zu Tode gefoltert“
So begeistert sprechen allerdings nicht alle von der fiesta. Die Gegner:innen des Stierkampfes (antitaurinos) machen immer wieder mit massiven Demonstrationen, hunderttausendfach unterschriebenen Petitionen (auch in Deutschland) oder anderen Protestformen auf sich aufmerksam. Eine von ihnen ist Miriam Jiménez Lastra aus Madrid. Neben ihrem Aktivismus auf der Straße, gibt die 24-Jährige auf TikTok und Instagram Einblicke in ihr Leben, teilt vegane Rezepte und erklärt bestimmte Verhaltensweisen aus einer soziologischen Perspektive. Sie möge Stierkämpfe nicht, „weil das Tier an einen Ort gebracht wird, wo es gestresst ist, wo es seine Orientierung verliert, wo es leidet und schließlich langsam bis zum Tod gefoltert wird,“ fasst sie zusammen. „Wir sollten keinem Tier so etwas antun – und noch viel weniger für die reine Belustigung und den Spaß der Menschen,“ so die Soziologin und Content Creator aus der spanischen Hauptstadt.
Doch was genau passiert während einer corrida eigentlich? Zuerst wird der Stier von Lanzenreitern, den picadores, in den Nacken gestochen, sodass er seinen Kopf nicht mehr heben kann. Anschließend werden ihm von einem weiteren Kämpfer spitze Flaggen (banderillas) in den Körper gestochen, wodurch das Tier mehr Blut verliert und geschwächt wird. Nun kommt der matador ins Spiel: Er fordert den Stier im letzten Akt des Spektakels immer wieder zu Angriffen auf, denen er geschickt ausweicht. Ein paar Mal lässt er den Stier ins berühmte rote Tuch laufen, bis er ihm schließlich den Todesstoß versetzt. Dass das Tier während dieser Abläufe Schmerzen spürt, ist wissenschaftlich bewiesen, so ein Bericht der Organisation AVATMA (Tierärzte gegen Stierkämpfe). Nicht selten sei der Stier noch bei Bewusstsein, wenn er nach dem Spektakel aus der Arena gezogen wird, meint Miriam. „Und manche toreros wissen nicht einmal, wie man richtig tötet,“ beklagt die Aktivistin. „Dann brauchen sie bis zu 5 Anläufe mit dem Schwert. Ich weiß das, weil ich es selbst gesehen habe.“
Vom Stierkampf-Fan zu Veganerin
Früher war Miriam einmal selbst begeisterte taurina, also Fan des Stierkampfes. „In meiner Familie war das ganz normal. Wir gingen regelmäßig zur „Las Ventas“-Arena, seitdem ich sehr klein war“, erzählt sie. Sie sagt, sie wuchs vollkommen überzeugt in dem Glauben auf, in dem sie erzogen wurde. Dabei dachte sie nie an das Leiden der Tiere: „Davon war ich sehr weit entfernt.“ Der Wendepunkt kam in ihrer Jugend, als sie ihre Hündin Coco bekam. „Das ließ meinen Kopf explodieren“, erinnert sich die 24-Jährige. „Plötzlich konnte ich das tierische Empfinden verstehen, so grundlegende Dinge wie: Wenn ich auf ihre Pfote trete, weint sie.“
Eine Zeit lang betrachtete Miriam sich noch als taurina und gleichzeitig als Tierfreundin, bis sie die Dissonanz schließlich nicht mehr aushielt. „Je mehr ich mich über das Thema informierte, desto schlechter ging es mir. Zu verstehen, dass sich zwei deiner grundlegenden Werte widersprechen, ist sehr schmerzhaft“, erklärt sie. Sie fragte sich: „Wenn wir es nicht mit einem Hund machen würden, weil wir das schrecklich finden – warum ist es bei einem Stier anders?“

Mittlerweile ist Miriam Veganerin und möchte, dass kein Tier leidet. Trotzdem betrachtet auch sie die Stierkämpfe als Kultur, was für die Aktivistin aber nicht in der Konsequenz bedeute, dass man die fiesta schützen müsse. Die Tierschutzpartei PACMA schreibt zu dem Thema auf Instagram: „Die Kultur muss sich Hand in Hand mit der Gesellschaft entwickeln. Der Stierkampf gehört nicht in dieses Jahrhundert.“ Für PACMA sei es eine „Schande für das Land und die zivilisierte Gesellschaft“ und müsse verboten werden. Ob das allerdings nötig ist, um den Stierkampf zu beenden, ist fraglich. Die Branche steckt nämlich schon seit Langem in einer wirtschaftlichen Krise.
Eine Branche am Ende ihrer Kräfte
Das sinkende Interesse in der Bevölkerung und die wirtschaftliche Krise im Land führten Anfang der 2010er-Jahre dazu, dass die Eintrittsgelder allein nicht mehr reichten, um die Veranstaltungen zu finanzieren. Als 2013 das Gesetz zur Anerkennung der Praktik als immaterielles Kulturgut erlassen wurde, ermöglichte dieses dem Staat, die Stier-Branche mit Subventionen zu unterstützen. Seitdem erhalten gleich zwei Sektoren finanzielle Hilfen vom spanischen Staat und der EU: Der kulturelle Sektor (Veranstaltungen, Gehälter) und der Agrarsektor (Stierzucht). Eine oft zitierte Studie schätzte 2013 die Gesamtsumme aller Subventionen auf ca. 700 Millionen Euro im Jahr. Antitaurinos greifen das Thema immer wieder auf, so etwa die Initiative „Du bezahlst das“.
Während der Corona-Pandemie verschärfte sich die Krise und die taurinos fühlten sich von der Regierung benachteiligt, als sie bei der Verkündung der Corona-Hilfen für die Kulturbranche unerwähnt blieben. Bei einer Demonstration im Juni 2020 verlangten sie genauso unterstützt zu werden wie andere Betriebe im Sektor – mit Erfolg. Eine kürzlich verkündete Entscheidung des Kulturministeriums sorgte jedoch erneut für Missmut in der Stier-Community. Alle Spanier, die 2022 volljährig werden, sollen einen Kulturgutschein erhalten, um unter anderem an Veranstaltungen teilnehmen zu können. Im Oktober bestätigte das Ministerium, dass Stierkämpfe nicht beinhaltet sind.
Wie sieht die Zukunft aus?
Könnte eine politische Entscheidung das „große Fest“ beenden? Auf den kanarischen Inseln wurde es bereits verboten und auch in Mexikos Hauptstadt wird aktuell über die Möglichkeit diskutiert. Neyva würde ein Verbot sehr stören und sie gibt zu bedenken: „Es würde für mich bedeuten, in ein anderes Land reisen zu müssen, um einen Stierkampf anzusehen.“ In Spanien scheint ein nationales Verbot allerdings ohnehin unwahrscheinlich – das zeigt der Fall von Katalonien. Die autonome Gemeinschaft beschloss 2010 das Verbot des Stierkampfes, doch als die Praktik 2013 zum Kulturerbe ernannt wurde, kam das katalanische Gesetz ins Wackeln, bis es schließlich vom Verfassungsgericht im Jahr 2016 aufgehoben wurde.
Ein möglicher Kompromiss wären die sogenannten blutfreien corridas wie sie in Portugal veranstaltet werden oder die auch in Spanien gefeierten capeas, bei denen jüngere Stiere verwendet werden. Bei beiden Versionen sterben die Tiere nicht in der Arena. Miriam findet: „Wenn das alles ist, was wir machen können, okay. Aber das ist nicht mein Ziel.“ Denn auch hier würden die Stiere leiden und anschließend getötet werden. Miriam vermutet, dass die Tradition irgendwann „durch ihr eigenes Gewicht fallen“ werde. „Es ist letztendlich keine gewinnbringende Industrie“, meint sie.
Und bis dahin?
Es gibt viele Theorien, doch wie die Zukunft des Stierkampfes konkret aussieht, kann niemand genau sagen. Die Entwicklung in den nächsten Jahren hängt von vielen Faktoren ab: Wer regiert, wie sich die Branche wirtschaftlich verhält, wie viele Besucher:innen zu den Spektakeln gehen, wie sich die öffentliche Meinung entwickelt.
Bis dahin wünscht sich Neyva, in ihrem Hobby akzeptiert zu werden. In ihrem Freundeskreis funktioniere das sehr gut. Auch dort seien nicht alle der gleichen Meinung. Miriam wünscht sich hingegen mehr Empathie und dass der Stierkampf aus der Perspektive des Tieres betrachtet werde, nicht des Menschen. „Wenn du Zweifel hast, schau eine Doku. Dann weißt du wenigstens, warum du wie handelst. Das ist etwas, das jeder klar haben sollte“, findet die Soziologin.
Vokabeln rund um das Thema Stierkampf:
toro | Stier |
corrida de toros, la fiesta | Stierkampf |
torero | Stierkämpfer:in |
matador | Stierkämpfer:in, der:die den Stier tötet |
torear | (Verb) gegen Stiere kämpfen |
tauromaquia | Kultur rund um den Stierkampf |
encierros | Fest, bei dem Stiere durch die Straßen getrieben werden |
taurinos | Befürworter:innen des Stierkampfes |
antitaurinos | Gegner:innen des Stierkampfes |
traje de luces | Kleidung der toreros |
banderillas | mit Bändern verzierte Stöcke mit Metallspitze, die dem Stier in den Rücken gestochen werden |
picadores | Stierkämpfer:innen, die den Stier stechen |
capea | Stierkampf mit jungen Tieren, ohne sie in der Arena zu töten |