Das kranke Paradox

Achtlos vorwärts musst Du streben, nie ermüdet stille stehen, willst Du das bittre Ende sehen

Die globale Gesellschaft leidet unter einem Virus. Die Symptome: zerstörerischer Größenwahn, soziale Verrohung und ein sterbender Planet. Ausgerechnet ein neuer Erreger könnte die Menschheit heilen.

Wenn es um den Urlaub geht, verstehen viele von uns keinen Spaß. Egal ob in den Winter- oder Sommerferien, das Motto ist immer dasselbe: Nichts wie weg! Welche zerstörerische Kraft dieser Massentourismus entfaltet, interessiert aber insbesondere die Deutschen nur so lange, bis sie mit Sonnenbrille und Strohhut zu unterirdischen Preisen ins Urlaubsdomizil nach Malle oder in die Türkei jetten. Und so hat der deutsche Kolonialismus auch im 21. Jahrhundert noch kein Ende gefunden.

Interessanterweise war für die meisten von uns soweit alles in Ordnung. Bis plötzlich Corona die Welt zuerst in eine Schockstarre versetzte und dann in den Hausarrest zwang. Für die urlaubsfreudigen Deutschen ist die derzeitige Situation an Dramatik nicht zu überbieten. Laut aktuellem ZDF-Politbarometer verzichten 37 Prozent in diesem Jahr ganz auf ihren Urlaub, 31 Prozent versuchen es innerhalb Deutschlands und 18 Prozent wissen gar nicht, was sie tun sollen.

Am Wachstumsdrang drangsaliert

Angesichts der globalen Krisen sind unsere Prioritäten ein krankhaftes Paradox. Obwohl den meisten mittlerweile klar sein dürfte, wie es um unseren welkenden Planeten bestellt ist, nutzten viele weiter die Möglichkeit, um für 34 Euro einen Tagesausflug auf den Ballermann zu unternehmen. Billig und effizient – damit lässt sich die Entwicklung unserer Gesellschaft in den letzten Jahren wohl am besten beschreiben. Und sie gilt nicht nur für Auslandsreisen. Landwirtschaft und Gesundheitssystem sind kaum einen Pfennig wert. Topmanager*in schlägt Pflegekraft und Spargelstecher*innen. Sollen doch die Ausländer den Kranken die Betten machen und in der Hitze auf den Feldern schuften. Hat ja zur Hochzeit des Imperialismus auch super funktioniert.

Dasselbe gilt für unseren Konsum. Im Summer Sale machen die Preise denen auf Flohmärkten Konkurrenz. Was nicht verkauft wird, landet im Schredder, wie es unter anderem bei H&M und Burberry üblich ist. T-Shirts und Hosen, die wir in der nächsten Saison nicht mehr tragen, bringen wir in die Altkleidersammlung, von wo sie in die Produktionsländer zurück verschifft werden. Produktion und Kleiderspenden zum Zweck der Wohltätigkeit.

Auch an uns geht das beständige Streben nach wirtschaftlichem Wachstum nicht spurlos vorbei. Ruhelos hetzen wir von einem Termin zu nächsten, sammeln Überstunden, schieben unsere Kinder schnellstmöglich in die Kita ab, verpassen es, sie aufwachsen zu sehen. Scheidungen sind normal, weil uns die Zeit fehlt, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Der deutsche Alkoholkonsum ist seit Jahren bedenklich, jeder zweite fühlt sich vom Burnout bedroht.

Der jährliche Urlaub ist da für die meisten ein Rettungsring, um wenigstens kurzfristig dem schnelllebigen Hamsterrad zu entfliehen. Trotzdem geht er weiter, der Drang nach maximalem Gewinn auf Kosten von Mensch, Tier und Ökosystem. Damit ist die globale Gesellschaft wohl am Zenit der Perversion angelangt.

Tritt in den Hintern

Als das Coronavirus die globale Bevölkerung unter Arrest stellte, wurden Stimmen nach Freiheit und Rechten laut. Die Maßnahmen während des Lockdowns schienen vielen vollkommen ungerechtfertigt und alles andere als menschenfreundlich. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen sind dramatisch. Aber wir müssen uns auch vor Augen führen, wie es überhaupt soweit kommen konnte. Das Virus traf auf sein System, das weit fragiler war, als es schien.

Auf den Dahamas und Balkonien können sich die Menschen nun fragen, ob ihr Egoismus, ihre Ignoranz und ausbeuterischer Größenwahn, die dieses System stützen, weiterhin der Preis unserer Freiheit sein soll. Und ob wir die Verantwortung weiter an Eliten abschieben wollen – und können. Peinlich berührtes Klatschen für Verkäufer und Pflegepersonal reicht da nicht aus.

Auch wenn Corona zahlreiche Leben und wirtschaftliche Existenzen kosten wird, so sollten wir das Virus nicht nur als mörderisches Ungeheuer, sondern auch als Chance sehen – und sie ergreifen. Kaufprämien für Autos sind keine Lösung, wenn wir unseren herrlich blauen Himmel weiterhin behalten wollen. Nachhaltige Ideen und Konzepte für Innenstädte und Mobilität sowie zur Sicherung von kleinen und großen Existenzen müssen schleunigst her, das ewige Herumgeeiere können sich Politiker nicht mehr leisten. Menschen sind Gewohnheitstiere und häufig träge, ja faul, wenn es um aufwendige aber zwingend notwendige Veränderungen geht. Womöglich ist Corona der Tritt, den die Menschheit schon lange nötig hatte.