Hinz&Kunzt – Ein Sprungbrett aus der Obdachlosigkeit

Der Hinz&Kunzt-Verkäufer Thomas vor dem Abaton Kino. (Foto: Anneke Rietkerken)

Die Verkäufer:innen des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt prägen das Stadtbild ebenso wie Franzbrötchen und Fernsehturm. Was hinter dem Magazin steckt, wer die sogenannten Hinz&Künztler:innen sind und was den Verkauf besonders macht, hat sich Anneke für KOPFZEILE angeschaut.

Von Anneke Rietkerken

Es ist ein lauer Sommerabend vor dem Abaton Kino im Grindelhof. Während die letzten Studierenden die Bibliotheken verlassen, schlendern die ersten Gäste in die umliegenden Restaurants und Bars. Mittendrin, beladen mit einem dicken Stapel an Straßenmagazinen, steht Thomas. Den stets gut gekleideten Mann mittleren Alters erkennen die Grindelhof-Besucher:innen schon von Weitem an seinem Rollator und dem breiten Grinsen im Gesicht. Viele Vorbeiziehende grüßen den langjährigen Hinz&Kunzt-Verkäufer. Wie alte Bekannte bleiben einige auch für ein kurzes Gespräch stehen.

Zu dem Straßenmagazin kam der gebürtige Hamburger im Jahr 2001. Zwischenzeitig ist er einer anderen Erwerbstätigkeit nachgegangen. Nun verkauft er täglich in den Gastronomiebetrieben im Grindelhof zwischen Abaton und Casa Mia.

Mit seiner freundlichen und erzählfreudigen Art ist Thomas nicht nur bei den Servicekräften seiner Verkaufsstrecke ein gern gesehener Mensch. Über die Jahre hat er sich eine feste Stammkundschaft aufbauen können.

„Es sind tolle Leute hier, wirklich. Nicht nur diejenigen, die hier arbeiten, auch die, die hier wohnen oder zum Essen herkommen. Ich bekomme hier von vielen Leuten Kleidung oder werde gefragt, was ich brauche. Letztes Jahr ist von einer langjährigen Kundin der Mann gestorben. Von dem habe ich sogar die komplette Garderobe bekommen“, erzählt Thomas. „Vor sechs Jahren hat eine andere Stammkundin, Susanne, mir diese Uhr zum Nikolaus geschenkt“, erinnert er sich und zeigt stolz die schöne schwarze Armbanduhr, die ihm offensichtlich viel bedeutet. Eine Kette und ein Armband hat Susanne ihm ebenfalls geschenkt. Auch wenn sie bereits das neueste Exemplar des Straßenmagazins haben, treffen sich seine Kund:innen gerne mit dem Verkäufer auf einen Kaffee.

Weit gestecktes Ziel der neuen Koalition: Obdachlosigkeit soll bis 2030 überwunden werden

Begriffsdefinitionen Wohnungslos, Obdachlos und Wohnungsnotfall. (Grafik: Anneke Rietkerken)

Mit dem Verkauf der Straßenzeitungen möchte sich Thomas auf unbürokratischem Weg ein Zubrot verdienen. Denn er ist einer von mehr als 250.000 Menschen in Deutschland, die nach aktuellen Schätzungen von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Den Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe (BAG W) zufolge leben davon 45.000 Menschen ohne jegliche Unterkunft auf der Straße – Tendenz steigend. Im Jahr 2018 sind bei einer Untersuchung der Stadt Hamburg knapp 2000 obdachlose Menschen angetroffen worden. Seit der letzten Schätzung im Jahr 2009 haben sich die Zahlen in der Hansestadt somit verdoppelt.

Um den inhumanen Bedingungen des Lebens auf der Straße ein Ende zu setzen, hat es sich die neue Bundesregierung Ende 2021 in ihrem Koalitionsvertrag zum Ziel gesetzt, Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu beenden.

Konkrete wohnungs- und sozialpolitische Maßnahmen müssen jedoch noch ausgearbeitet werden. Auch die Sozialbehörde der Stadt Hamburg äußerte sich auf Anfrage noch nicht zu geplanten Maßnahmen. Die Diakonie Hamburg wies noch im Juni 2022 auf 13.000 unversorgte Wohnungsnotfälle hin. „Die Lage für Wohnungsnotfälle ist und bleibt dramatisch“, wird der Landespastor Dirk Ahrens auf der Homepage des Diakonischen Werks zitiert.

Auch Jonas Gengnagel, Sozialarbeiter bei Hinz&Kunzt, zeigt sich skeptisch und hält es für unrealistisch, dass bis 2030 keine Menschen mehr auf der Straße schlafen müssen. „Solange die Stadt mit Kürzungen auf Hartz-IV-Empfänger:innen zugeht, wird es auch Wohnungslose geben“, sagt er. Erfreulich sei jedoch, dass die Thematik durch die politische Debatte präsenter werde.

Eigener, bezahlbarer Wohnraum als oberstes Ziel der Obdachlosenhilfe

Lukas Gilbert, stellvertretender Chef vom Dienst in der Hinz&Kunzt-Redaktion, betont, dass sich die Stadt Hamburg bereits mit einem vielfältigen Angebot für Obdachlose einsetze. Expert:innen der Obdachlosenhilfe sind sich dennoch einig, dass vieles besser funktionieren könne. Ein wiederkehrender Kritikpunkt ist, dass das Winternotprogramm obdachlose Menschen tagsüber vor die Tür setzt und keine ganzjährige Unterkunft darstellt. Gengnagel fordert zudem, Obdachlosenhilfe zu dezentralisieren und mehr auf „Housing First“ zu setzen – ein Ansatz, bei dem Menschen ohne Vorbedingung eine Wohnung erhalten.

Um zu zeigen, wie ein wirksameres Winternotprogramm gestaltet werden könnte, hat Hinz&Kunzt in den vergangenen Jahren ein eigenes, spendenbasiertes Projekt umgesetzt. Die in einer Farmsener Monteurs-Unterkunft untergebrachten Menschen konnten ihre Zimmer den gesamten Winter über nutzen, um auch tagsüber Ruhe und Kraft zu tanken.

Arbeits- und Organisationspsychologin Clara Hemshorn de Sanchez sieht einen solchen Rückzugsort als notwendig an. „Die Forschung zeigt, dass Gefühle von Ruhe und Sicherheit eng mit der Möglichkeit, sich zu erholen, verbunden sind. Sobald der Unsicherheitsfaktor – und damit eine existenzielle Stress- und Angstquelle – genommen ist, bestehen wieder mehr Ressourcen, um sich anderen Dingen zu widmen“, erklärt sie. Im vergangenen Herbst wurde zudem das neue Hinz&Kunzt-Haus in St. Georg eingeweiht, in dem auch 24 ehemals wohnungslose Hinz&Künztler:innen dauerhaften Wohnraum erhalten haben.   

Das neue Hinz&Kunzt-Haus in St. Georg bietet Platz für Vertrieb, Redaktion, Sozialarbeit und Wohnungen für 24 ehemals Wohnungslose. (Foto: Hinz&Kunzt)

Hinz&Kunzt soll ein Sprungbrett, ein Weg aus der Obdachlosigkeit, aber keine langfristige Perspektive sein

Das im Jahr 1993 gegründete Hamburger Straßenmagazin versteht sich als inklusives Projekt, das Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt kaum Chancen haben, nicht nur eine unbürokratische Beschäftigung bietet. Im Idealfall sollen zusätzlich auch Wohnraum und Arbeitsplätze vermittelt werden.

Im Hinz&Kunzt-Haus ansässig ist neben der Redaktion und dem Vertrieb daher auch die Sozialarbeit. Ob bei Geldsorgen, Einsamkeit oder Scheu vor Ämtern: Die Verkäufer:innen können sich mit allen Problemen an die Sozialarbeiter:innen wenden. Bevor Hinz&Künztler:innen mit ihren Magazinen zum Verkauf losziehen, finden unter den Kolleg:innen Gespräche am Kaffee-Tresen statt.

In der Redaktion arbeiten fünf festangestellte und zusätzliche freie Journalist:innen an den Beiträgen für das monatlich erscheinende Magazin mit starkem sozialpolitischen Fokus. Zudem werden tagesaktuelle, sozialpolitische Themen auf der Webseite veröffentlicht. Mit einer aktuellen monatlichen Druckauflage von 55.000 Exemplaren ist Hinz&Kunzt Deutschlands auflagenstärkstes Straßenmagazin. Den rund 530 aktiven Verkäufer:innen wird somit die Möglichkeit geboten, mit dem Verkauf des beliebten Magazins einer sinnstiftenden Aufgabe nachzugehen. Das Prinzip ist einfach: Hinz&Künztler:innen bezahlen in der Zentrale 1,10 Euro pro Magazin und verkaufen es für 2,20 Euro weiter. Den Gewinn und gern gesehene Trinkgelder dürfen sie behalten.

Besonders bedeutend ist jedoch auch der Kontakt zu den Kund:innen. Bei der Vermittlung von Verkaufsplätzen ist es dem Team von Hinz&Kunzt wichtig, den Verkäufer:innen Festplätze zu verschaffen. Es wird unterschieden zwischen Festplätzen vor Supermärkten und an Orten mit vielen gastronomischen Betrieben. „Durch die regelmäßige Interaktion mit den Menschen vor Ort sollen die Hinz&Künztler:innen Anerkennung erfahren und in die soziale Struktur des Stadtteils eintauchen“, so Gengnagel.

Auch Hemshorn de Sanchez sieht in dem Verkauf der Straßenmagazine großes Potential, den Verkäufer:innen zu einer Reintegration in die Gesellschaft zu verhelfen. „Gerade weil mit dem Verkauf Anerkennung einhergeht, Beziehungen zu anderen Menschen aufgebaut werden und die Organisation der restlichen Gesellschaft angegliedert ist, wird ein Übergang in diese einfacher.“ Der Kontakt mit den Verkäufer:innen trägt zudem zum Abbau von Stigmata gegenüber Wohnungs- und Obdachlosen bei.

Auf Ihrer Instagram-Seite beantworten Hinz&Künztler:innen Fragen, die sich Nicht-Wohnungs- oder Obdachlose zum Leben auf der Straße stellen.

Manchmal werde ich einfach auf einen Kaffee eingeladen und man quatscht. Das ist oftmals besser als ein, zwei oder zehn Euro.

Thomas, Hinz&Kunzt-Verkäufer

Für Thomas sind es genau dieser regelmäßige Austausch mit seinen Kund:innen und die herzliche Art der Grindelhof-Anwohner:innen, die ihn an seinem Job begeistern. Ein besonders enges Verhältnis hat der Hinz&Künztler zu Susanne, eine seiner vielen Stammkund:innen, aufbauen können.

„Wir kennen uns bestimmt schon acht Jahre und treffen uns fast jeden Abend hier. Thomas ist wie mein Bruder, dem kann ich alles erzählen“, erzählt sie lächelnd. „Eine halbe Stunde saßen wir jetzt schon hier, haben ein bisschen gequatscht und gelästert“, ergänzt Thomas lachend und auch Susanne muss kurz auflachen. Sie erinnern sich an einen Ausflug, den sie gemeinsam gemacht haben: „Im Sommer bevor der Lockdown losging, im August, sind wir nach Helgoland gefahren, von den Landungsbrücken aus. Das war ein tolles Erlebnis!“  

Susanne und Thomas vor einem ihrer Lieblingsrestaurants (Foto: Anneke Rietkerken)

Auf die Frage, wie er die Restaurant-Schließungen während der vergangenen Lockdowns überstanden hat, sagt Thomas: „Ich bin hier von den Leuten toll unterstützt worden, sowohl von Kund:innen als auch von den Mitarbeitenden. Wirklich! Ich konnte ganz normal meine Runde drehen und habe mich immer zufällig mit den Leuten getroffen, die ihre Bestellungen aus den Restaurants abgeholt haben.“

Auch in der Hinz&Kunzt-Zentrale berichten die Mitarbeitenden von enormer Solidarität gegenüber den Verkäufer:innen. Da das Magazin zwei Monate lang nicht erscheinen konnte, wurde zu Spenden aufgerufen, von denen die Hinz&Künztler:innen für den ausfallenden Verdienst bezahlt werden konnten.

Was die Gelder nicht kompensieren konnten war jedoch das Wegbrechen sozialer Kontakte. „Ich bin ganz froh und auch stolz darüber, dass ich Hinz&Kunzt verkaufen kann. Weil mein Rücken kaputt ist, kann ich nicht mehr normal arbeiten und so habe ich etwas Sinnvolles zu tun. Es macht mir auch Spaß, ich komme unter Leute und mache es einfach wirklich gerne!“, betont Thomas und ergänzt: „Das Vertrauen von Stammkund:innen und den Menschen hier, das habe ich mir auch erarbeitet. Das kommt nicht von allein.“ Thomas macht deutlich, dass der Verkauf des Magazins und das Knüpfen von Kontakten eine besondere Rolle in seinem Leben spielen. Christian Hagen, Vertriebsleiter bei Hinz&Kunzt, sagt dazu: „Der Kauf der Zeitung hat nicht nur einen monetären, sondern auch einen ideellen Wert.“

Die Corona-Pandemie hat wieder einmal gezeigt, welche enorme Bedeutung solidarischem Verhalten gegenüber Obdach- und Wohnungslosen zukommt. Die Wiedereröffnung gastronomischer Betriebe hat nicht nur für Gäste einen Rückgewinn von Lebensqualität bedeutet. Insbesondere für Menschen wie Thomas, für die der Kontakt zu Kund:innen aus verschiedenen Gründen existenzielle Relevanz hat, kann wieder Normalität einkehren.

Bei der Begleitung von einem seiner Verkaufstage ist zudem klar geworden: Nicht nur Thomas, sondern auch seine Kund:innen profitieren von der Begegnung.

Wer demnächst auf dem Nachhauseweg von der Uni einem:r Verkäufer:in begegnet, sollte deshalb im Hinterkopf behalten: Die Hinz&Künztler:innen freuen sich nicht nur über jedes verkaufte Magazin, sondern auch über jede Minute, die für ein Gespräch oder einen gemeinsamen Kaffee mitgebracht wird.