Wann erfüllt sich der Traum von der „Fahrradstadt Hamburg“?

Fahrradstadt, Hamburg, Fahrrad, Verkehrswende, Uni Hamburg, Student, Bike Lanes Der Bau neuer Fahrradstraßen ist Teil des Ausbaus zur Fahrradstadt. Verlangsamter motorisierter Individualverkehr (MIV) ist hier trotzdem meist erlaubt. (Foto: Clara Fussan)

Im Hamburger Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen für die Jahre 2020 bis 2025 heißt es: „Hamburg wird Fahrradstadt“. Doch wie realistisch ist diese Vision wirklich? Auf welchem Stand befindet sich der Ausbau momentan und was sind die Forderungen der Radfahrgemeinschaft?

Von Clara Fussan

Wie aus dem Nichts endet der Radweg auf der Stresemannstraße kurz vor der Kreuzung unter der Sternbrücke und wird zu einem engen, geteilten Weg für Fußgänger:innen und Radfahrende. Auch hinter der viel befahrenen Kreuzung an der Sternbrücke ändert sich das nicht. Die Alternative: Radfahrende müssen dicht an dicht mit Autos auf der Straße fahren. Auf dem Bürgersteig kann die Situation jedoch auch für Fußgänger:innen gefährlich werden. „Ich bin schon mehrmals beinahe mit vorbeifahrenden Radfahrenden zusammengestoßen als ich das Haus verlassen wollte“, berichtet eine Anwohnerin. „Jetzt öffne ich immer ganz vorsichtig die Tür, damit ich nicht angefahren werde.“  

Beim Blick auf Städte wie Amsterdam oder Kopenhagen mit gut ausgebauter Radinfrastruktur wird schnell klar: Dort kommt man auf dem Rad bequemer von A nach B als in vielen deutschen Städten. Doch es gibt Hoffnung. Im Hamburger Koalitionsvertrag von SPD und Grünen (2020 bis 2025) wird das klare Ziel formuliert, Hamburg zur Fahrradstadt auszubauen. Dadurch soll die Mobilitätswende in Hamburg neuen Schwung bekommen. Doch ist das wirklich so?

Breitflächiger Ausbau geplant

Das Radfahren in Hamburg soll laut Koalitionsvertrag „so einfach, schnell und komfortabel wie möglich“ werden. Dafür sollen Radwege, Fahrradstraßen, Radschnellwege und Velorouten ausgebaut und die Sicherheit von Radfahrenden durch Protected Bike Lanes und durchdachte Kreuzungsdesigns gewährleistet werden.

Der Begriff Protected Bike Lanes bezeichnet geschützte und vom Kfz-Verkehr abgetrennte Radwege, beispielswiese durch baulich fest integrierte erhöhte Trenninseln oder Poller.

Pop-Up-Bikelanes sind temporäre und kurzfristig geschaffene Radfahrstreifen, die auf Straßen mit unzureichender Radverkehrsinfrastruktur schnell errichtet werden, um die Sicherheit der Radfahrenden zu erhöhen. Pop-Up-Bikelanes stellen somit eine Übergangslösung bis zum Bau der eigentlichen Radwege dar.

Das Veloroutennetz der Stadt Hamburg besteht zurzeit aus 14 Velorouten, die durch durchgehende Radwege ein zügiges und stadtteilübergreifendes Radfahren ermöglichen sollen. Dadurch werden alltägliche Wege komfortabel befahrbar sein.

Quelle: hamburg.de

So soll der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen bis 2030 auf 25 bis 30 Prozent erhöht werden. Im Jahr 2017 lag dieser Anteil noch bei 15 Prozent. „Wir wollen den Bau von Radverkehrsanlagen deutlich steigern – und zwar auf 60 bis 80 Kilometer pro Jahr. Mit im Schnitt 59 Kilometern pro Jahr wurden in Hamburg in den vergangenen beiden Jahren etwa 70 Prozent mehr Radwegkilometer saniert oder neu gebaut als in den Jahren 2015 bis 2019 zusammen“, sagt Dr. Anjes Tjarks, Senator für Verkehr und Mobilitätswende in Hamburg.

Das Modal Split zeigt die Aufteilung des Verkehrsaufkommens. Angaben in Prozent.
Die nächste Erhebung der Studie „Mobilität in Deutschland“ wird 2023 durchgeführt. Quelle: MiD 2017, Analysen zum Radverkehr und Fußverkehr, eigene Darstellung.

Umbauarbeiten bereits begonnen

Tatsächlich ist der Ausbau schon an einigen Stellen erkennbar. So wurden bereits neue Fahrradstraßen und Pop-Up-Bikelanes errichtet. Letztere lassen sich zum Beispiel auf der Hallerstraße in Uni-Nähe finden. „Die Hamburgerinnen und Hamburger wollen mehr Rad fahren und das trifft auf eine Politik, die sagt: ‚Wir wollen, dass ihr mehr Rad fahrt, und wir bauen euch auch die Infrastruktur dafür aus‘“, erklärt Tjarks.

Ein von der Straße getrennt geführter Radverkehr sei laut der Hamburger Behörde für Verkehr und Mobilitätswende mit das Wichtigste. Außerdem müssten die Radwege vergrößert werden, um komfortables Überholen und Schutz vor öffnenden Autotüren zu ermöglichen. An finanziellen Mitteln werde dabei nicht gespart: „Wir haben in den letzten zwei Jahren rund 90 Millionen Euro pro Jahr für den Radverkehr ausgegeben. Das macht in 2021 etwa 49 Euro pro Einwohner in Hamburg. Damit liegen wir auf einem Niveau wie Städte wie Kopenhagen. Zum Vergleich: 2017 waren es nur rund 12 Euro im Jahr pro Kopf“, so Anjes Tjarks.

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Doch Fahrradstadt heißt nicht nur, die Innenstadt fahrradfreundlicher zu gestalten. Das Ziel ist, auch Außenbezirke und Vororte in das Radwegnetz einzugliedern. So wurden inzwischen die ersten Abschnitte des geplanten Radschnellwegs in Harburg gebaut. Im Kern geht es hier darum, auf einem bis zu vier Meter breiten Radweg mit wenig bis gar keinen Ampeln den Weg vom Umland in die Stadt – und umgekehrt – zu fahren.

Meine Vision ist eine Fahrradstadt, in der das Fahrrad für viele Verkehre oder die Verkehre unter fünf Kilometern das dominierende Verkehrsmittel ist.

Anjes Tjarks, Hamburger Verkehrssenator

Digitale Verkehrswende?

Im Zusammenhang mit dem Radverkehr klingt das Stichwort der Digitalisierung zunächst etwas merkwürdig. Doch genau hierauf legt die Verkehrsbehörde einen weiteren Fokus. Die grüne Welle auf den Velorouten 1 in Ottensen und 3 in Eimsbüttel Richtung Uni Hamburg soll bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 18 km/h ein komfortables und schnelles Radfahren ohne Ampelwartezeiten ermöglichen. Hierfür soll eine App herausgebracht werden, „die die Restgrünzeiten und eine Ampelprognose für jede Hamburger Ampel anstellt, damit man seine Fahrgeschwindigkeit darauf einstellen kann“, so Tjarks.

Diese und weitere Maßnahmen sollen dazu beitragen, Hamburg fahrradfreundlicher zu gestalten. „Meine Vision ist eine Fahrradstadt, wie wir sie aus Amsterdam und Kopenhagen kennen, in der das Fahrrad für viele Verkehre oder die Verkehre unter fünf Kilometern das dominierende Verkehrsmittel ist“, erklärt der Verkehrssenator.

„Maßstab der Radverkehrsplanung muss sein, dass ein zehnjähriges Kind sicher mit dem Fahrrad fahren kann.“

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. (ADFC) Hamburg begrüßt die Verkehrsversuche der Stadt und den Ausbau von Pop-Up Bikelanes. Die Ansätze seien positiv, so Dirk Lau vom ADFC Hamburg. Trotzdem seien diese zu punktuell und würden nicht flächendeckend auf die Straße gebracht werden.

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. vertritt die Interessen der Radfahrenden und setzt sich für die Förderung des Radverkehrs sowie den Ausbau von Radverkehrsinfrastruktur ein. Dies findet durch Projekte und Kampagnen, Stellungnahmen zu Planungen der Politik, aber auch durch Touren, Seminare und Workshops statt.

Quelle: ADFC Hamburg

Einen besonders kritischen Punkt für viele Radfahrende in Hamburg stellt die Radverkehrssicherheit dar. Auch wenn an einigen Stellen geschützte Radstreifen eingeführt wurden, fahren auf vielen Straßen die Radfahrenden noch immer direkt neben den Autos. Dort, wo keine geschützten Radwege gebaut werden, müsse der Verkehr durch langsameres Tempo und weniger Schwerlastverkehr beruhigt werden, meint der ADFC. Die Radverkehrsinfrastruktur müsse so sicher sein, dass ein zehnjähriges Kind ohne Bedenken mit dem Fahrrad unterwegs sein kann.

Auch Kreuzungen seien besondere Hindernisse für Radfahrende. In den Planungen werden diese allerdings bereits bedacht. „Wir wollen erstens bei Neuplanungen auf Radstreifen in Mittellage verzichten und zweitens rote Markierungen an Kreuzungen sehen, um den Radweg deutlich kenntlich zu machen“, sagt Anjes Tjarks. Leitbild solle eine geschützte Kreuzung sein, an der der Autoverkehr verlangsamt wird und Radfahrende mehr Vorsprung an den Kreuzungsarmen haben.

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Kreuzung Kennedybrücke-Alsterufer-Alsterglacis: Hier wurde bereits mit auffälligen Kreuzungselementen gearbeitet. (Foto: Clara Fussan)

Kfz-Verkehr muss zurückstecken

Mobilitätswende bedeute das fundamentale Umdenken in der Planung, das nur durch die Vorgaben der Politik geschehen könne. Außerdem müsse der Ausbau auch im Alltag breitflächig zu spüren sein, nicht nur an den Hotspots, so Dirk Lau vom ADFC.

Und: Der Autoverkehr müsse drastisch zurückstecken. „Wenn sich das in den Planungen nicht widerspiegelt, dann wird man das Ziel, bis 2030 nur noch 20 Prozent Autoverkehrsanteil in Hamburg zu haben, nicht erreichen“, sagt Lau. „Es findet keine Umverteilung der Straßenverkehrsfläche statt. Und das ist ein grundlegendes Merkmal der Mobilitätswende. Man muss Straßen anders aufteilen, und zwar so, dass man zuerst fragt, wie viel Platz der Fußgänger, der Bus- und Bahnverkehr und der Radverkehr braucht. Und wenn dann noch etwas übrig ist, kann man noch einen Fahrstreifen für individuellen Autoverkehr einführen.“

Auch Studierende nehmen diese Situation war: Ein wirkliches Problem sei die schlechte Kennzeichnung von Radwegen, berichtet eine Studentin der Universität Hamburg. Außerdem wären die Radstreifen manchmal so eng, dass man oft keine andere Wahl hätte als auf der Straße zu fahren. „Für mich ist das Problem an den Hamburger Radwegen, dass sie so inkonstant sind“, gibt ein weiterer Student an. „Eine ganze Route auszubauen ist für mich das Wichtigste.“

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Critical Mass: eine wirkungsvolle Bewegung?

Viele der Radfahrenden, die Veränderungen fordern, trifft man bei der sogenannten Critical Mass. Auch in Hamburg treten hier monatlich mehrere Tausend Menschen in die Pedale, um auf die Situation auf den Straßen aufmerksam zu machen.

Seit 1992 ist die Critical Mass eine weltweite Bewegung, die für den Ausbau von Radverkehrsinfrastruktur und Rechte für Radfahrende einsteht. Meist treffen sich die Radfahrenden am letzten Freitag im Monat und fahren mehrere Stunden durch die Stadt. Als Demonstration angemeldet ist die Critical Mass nicht, da laut Straßenverkehrsordnung eine Gruppe ab 15 Radfahrenden eine ganze Spur auf der Straße einnehmen darf.

Ob die Critical Mass viel bewirkt, ist bei den Teilnehmenden umstritten. „Die Critical Mass ist eine Instanz, die einmal im Monat stattfindet, und das wissen die Leute. Aber ihr fehlen die wegweisenden Instrumente, um Maßnahmen nach sich zu ziehen. Sie kann zwar aufzeigen, aber nicht handeln“, so die Meinung eines Teilnehmers. Trotzdem sei die Aktion ein Anfang und zeige das Interesse für den Radverkehr gegenüber der Politik.

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Teilnehmende der Critical Mass Hamburg am 24.06.2022. (Foto: Clara Fussan)

Tretet in die Pedale!

Wie realistisch ist also der Ausbau Hamburgs zur Fahrradstadt? Aus den Gesprächen wird deutlich: Es wird etwas gemacht, doch das, was gemacht wird, sei zu wenig. Teilnehmende der Critical Mass sind der Meinung, dass es daher umso wichtiger sei, sich aufs Fahrrad zu setzen, um Fahrradfahrende in Hamburg zu repräsentieren und sich zu engagieren. Egal, ob Familien oder Alleinstehende, Studierende oder Berufstätige – damit sich so viele Menschen wie möglich von selbst gegen ihr eigenes Auto entscheiden, müsse die Infrastruktur geschaffen werden, um komfortables und sicheres Radfahren möglich zu machen. Das kann bei Projekten vor der Haustür anfangen, beispielsweise bei Initiativen, die sich für Tempo-30-Zonen einsetzen, empfiehlt Dirk Lau.

Dass Radfahren einfach, bequem, schnell und günstig ist, sagt auch Anjes Tjarks. Es schützt das Klima und verbraucht weniger Platz. Vor allem Studierende können sich aus finanziellen Gründen oft kein eigenes Auto leisten und sind somit auf alternative Fortbewegungsmöglichkeiten angewiesen. Und die Maßnahmen scheinen bereits etwas gebracht zu haben. „Der Radverkehr hat seit zwei Jahren deutlich zugenommen, etwa um 24 Prozent“, so Tjarks. Der Anfang ist also getan.

Lesetipp:

Katja Diehl: Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt. Erschienen 2022 im S. FISCHER Verlag.

Passend dazu: Podcast „she drives mobility“, ebenfalls von Katja Diehl.

Anm. d. Red.: Alle Informationen aus dem Artikel sind auf dem Stand vom Juni 2022.