Neue Regeln für angehende Psychotherapeut*innen: Eine Entscheidung mit Konsequenzen

Viele Psychologiestudierende wollen Psychotherapeut*in werden. Doch werden sie ihr Ziel erreichen können? (Foto: Gerd Altmann/Pixabay)

Die Reform der Psychotherapeutenausbildung sollte vieles verbessern. Für die Bachelor-Studierenden bringt sie aber vor allem negative Konsequenzen: Zusätzlicher Zeit- und Leistungsdruck zwingen viele ihren Berufswunsch aufzugeben.

„Ich habe mich dazu entschieden, Psychotherapeut zu werden, da ich in dem Beruf eine große Bedeutung sehe – für die Gesellschaft und für mich persönlich“, sagt Dennis Warnholtz. Für ihn sei es ein langjähriger Wunsch, diesen Beruf auszuüben. Aus diesem Grund begann er im Wintersemester 2019/20 sein Psychologiestudium an der Universität Hamburg. Als das Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung am 15. November 2019 verabschiedet wurde, sah Dennis seinen Traum plötzlich in Gefahr.

Der Weg zum/r Psychotherapeut*in nach dem alten Gesetz von 1998

Wer Psychotherapeut*in werden wollte, musste bisher einen Bachelor (min. 3 Jahre) und Master (min. 2 Jahre) in Psychologie machen und anschließend an einem Ausbildungsinstitut mindestens weitere 3-5 Jahre den Beruf erlernen. Nur dann konnten die Absolvierenden nach einer staatlichen Prüfung die Approbation erhalten. Das ist die Zulassung, die Therapeut*innen brauchen, um Patient*innen behandeln zu dürfen.

Der alte Weg zum*r Psychotherapeut*in (Foto: Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV))

Was ändert sich durch die Reform?

Künftig soll es ein „Direktstudium“ zum/r Psychotherapeut*in geben, heißt es auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums. Dafür soll an den deutschen Hochschulen der neue Masterstudiengang ‚Psychotherapie‘ in den kommenden Jahren eingeführt werden. Auch die Inhalte des Bachelorstudiums Psychologie wurden leicht abgeändert, damit die Studierenden alle notwendigen Qualifikationen erhalten, die sie für den neuen Master brauchen. Die aktuellen Erstsemester an der Universität Hamburg studieren bereits die reformierte Variante.

PiA und PiW

PiA steht für Psychotherapeut*in in Ausbildung und bezeichnet die Schüler*innen der Ausbildungsinstitute nach dem alten Gesetz. Nach dem neuen Gesetz werden diese PiW genannt: Psychoterapeut*in in Weiterbildung

Damit soll die Approbation schon nach Abschluss des Masterstudiums erteilt werden können. Die Absolvent*innen werden dann Psychotherapeut*innen in Weiterbildung (PiW) genannt und dürfen zwar noch nicht selbständig als Therapeut*innen arbeiten, werden aber während ihrer fünfjährigen, berufsbegleitenden Weiterbildung für die Behandlung von Patient*innen besser bezahlt. Auch der Praxisanteil soll erheblich steigen. Die derzeitigen Psychotherpeut*innen in Ausbildung (PiA) werden seit der Reform mit mindestens 1000 Euro im Monat bezahlt.

Was ist daran problematisch?

Die neuen Bezahlungsregeln könnten unerwünschte Nebeneffekte haben. „Es gibt Kliniken, in denen eine Stelle bisher mit 450 Euro vergütet wurde. Wenn jetzt 1000 Euro vom Bund festgelegt werden, werden manche kaufmännischen Leitungen entscheiden, die Stellen zu halbieren, anstatt mehr Geld auszugeben,“ berichtet Michael Schödlbauer, Leiter des Adolf-Ernst-Meyer-Instituts für Psychotherapie in Hamburg. „Wir müssen also damit rechnen, dass es bei den praktischen Anteilen der Ausbildung Engpässe geben wird.“

Weiterhin ist noch nicht entschieden, wie sich der neue Masterstudiengang finanzieren wird. Auf Anfrage berichtet die Universität Hamburg, dass aktuell noch Gespräche mit der Wissenschaftsbehörde laufen und der Start des Masterstudiengangs Psychotherapie für das Wintersemester 2023/24 geplant sei.

Die gravierendsten Konsequenzen tragen wohl die derzeitigen Psychologie-Studierenden, die ihr Studium vor dem Beschluss der Reform begonnen haben und für dessen Ausbildungsweg nun eine zeitliche Frist gesetzt wurde.

Was passiert mit dem alten System?

Bis alle Bereiche auf die neuen Regelungen umgestellt werden, wird es noch dauern. Bis dahin laufen die zwei Ausbildungswege parallel. „Das bedeutet unter anderem, dass die Uni zwei Master anbieten muss und das ist natürlich nicht sehr ökonomisch,“ erklärt Dennis, der sich als Student im Fachschaftsrat (FSR) Psychologie engagiert. „Es ist also völlig ungewiss, wie lange der alte Master überhaupt noch angeboten wird. Dabei müssen die meisten Studierenden zwischen Bachelor und Master einige Wartesemester einlegen, manche studieren in Teilzeit. Wenn die Uni beschließen sollte, den alten Master in den kommenden Jahren zu streichen, könnte das für viele einen Ausschluss vom Masterstudium bedeuten.“

Auch die Aus- und Weiterbildungsinstitute kennen das Problem. „Allein die Organisation des Unterrichts wird eine große Herausforderung,“ sagt Michael Schödlbauer. „Wir müssen darauf achten, dass die Seminare eine ausreichende Teilnehmerzahl haben. Einige praktische Anteile, wie beispielsweise Fallseminare, funktionieren nur mit einer bestimmten Zahl von Teilnehmern, weil man mit der Resonanz der Gruppe arbeitet.“ Es geht also nicht nur um wirtschaftliche Fragen, auch wenn diese natürlich auch zu bedenken wären, so Schödlbauer.

Im Gesetz wurde diese Übergangsphase klar befristet: Personen, die ihr Studium vor dem 1. September 2020 begonnen haben, können die Ausbildung zum/r Psychotherapeut*in bis zum 1. September 2032 abschließen.

Wie realistisch ist die Frist?

Was sich im ersten Moment nach viel Zeit anhört, täuscht. Im Idealfall erfordern Psychologiestudium und Therapieausbildung derzeit 8-10 Jahre – der Großteil der Studierenden benötige jedoch deutlich mehr Zeit, schreibt der FSR Psychologie der Universität Hamburg in einem Positionspapier. Das betreffe besonders Studierende mit Kindern oder Angehörigen, die gepflegt werden, Migrant*innen, chronisch Kranke oder Studierende, die auf die eigene Erwerbstätigkeit angewiesen sind. Weitere Faktoren, die das Studium verlängern, seien der begrenzte Zugang zu Master-Studienplätzen, die Wiederholung von Prüfungen, persönliche Schicksalsschläge und natürlich auch die Corona-Pandemie, heißt es in dem Papier.

Der Idealfall spiegelt nicht die Realität der Studierenden wider. Viele werden es bis 2032 wohl nicht schaffen. (Foto: FSR Psychologie Universität Hamburg)

„Es wird auf jeden Fall knapp,“ bestätigt Schödlbauer. Liegt ein Härtefall vor, besteht zwar die Möglichkeit, die Frist bis 2035 zu verlängern, aber nicht jedem*r wird die zusätzliche Zeit bewilligt. Der Leiter des Adolf-Ernst-Meyer-Instituts meint: „Das ist jedes Mal eine Einzelfallentscheidung.“

Dennis Warnholtz, der an einer rheumatischen Arthritis leidet, vermutet, dass er sein Studium nicht in der Regelstudienzeit von fünf Jahren schaffen wird. „Gerade weil die Krankheit in Schüben verläuft, kann ich nicht abschätzen, wie sehr sie zukünftig noch mein Studium beeinflussen wird und, ob ich die Frist einhalten kann.“ Hätte er ein Jahr später angefangen, wäre er direkt mit dem neuen System gestartet. „Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich lieber noch ein Jahr gewartet.“

Wer kann noch Therapeut*in werden?

Vor allem Studierende mit einer stabilen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Lage hätten Chancen, ihre Ausbildung rechtzeitig abzuschließen, so Dennis. „In dem Zusammenhang stellt sich die Frage, was für Therapeuten wir als Gesellschaft haben möchten. Soll der Beruf nur einem privilegierten Teil der Studierenden vorbehalten werden oder wollen wir nicht eine möglichst hohe Diversität?“ Schödlbauer zufolge seien die Folgen der zeitlichen Befristung schwer absehbar, er wirft aber ein, „dass der Zugang zu diesem begehrten Beruf durch den hohen NC auch jetzt schon sehr einseitig ist“.

Doch auch für diejenigen, die die Regelstudienzeit einhalten, ergeben sich Komplikationen. „Es zeichnet sich bereits ab, dass einige Ausbildungsinstitute die Psychotherapieausbildung nach dem alten System nicht mehr bis 2032/2035 anbieten werden“, heißt es auf der Seite der DPtV. Dem FSR zufolge bleibe den Studierenden außerdem keine Zeit, um berufliche Erfahrungen zu sammeln, zu promovieren, eine Weile ins Ausland zu gehen oder eine Familie zu gründen. „Das ist besonders dramatisch, wenn man bedenkt, dass ungefähr 80% der Studierenden Frauen sind. Vor allem für Kommiliton*innen ab einem gewissen Alter bedeutet das die Entscheidung: Will ich Kinder haben oder will ich Therapeut*in werden?“ fügt Dennis hinzu.  

Gibt es eine Lösung?

Der FSR Psychologie fordert in einer Petition die Nachqualifizierung der jetzigen Bachelor-Studierenden. Das bedeutet, dass die Studierenden aus dem alten System nachträglich die Inhalte lernen sollen, die sie für den neuen Masterstudiengang ‚Psychotherapie‘ benötigen. „Die Nachqualifizierung würde uns den Umstieg in das neue System ermöglichen,“ erklärt Dennis. „In meinen Augen ist das die einzige Lösung“. Michael Schödlbauer unterstützt den Wunsch der Studierenden und merkt an: „Die privaten Hochschulen bieten eine solche Nachqualifizierung schon an und ich fände es nicht fair, wenn den Studierenden an den staatlichen Universitäten nicht auch die Möglichkeit gegeben wird, über Zusatzkurse oder zusätzliche Semester in den neuen Masterstudiengang ‚Psychotherapie‘ zu wechseln.“

Die Medical School Hamburg, eine private Medizinhochschule in der Hansestadt, verspricht auf ihrer Website beispielsweise: „Die MSH garantiert allen Studierenden, sowohl im Bachelor Psychologie als auch im Master, dass sie ihr Studium auf jeden Fall erfolgreich abschließen können.“

Das neue Gesetz bringt viel Unsicherheit für die Studierenden. Als Mitglied des Fachschaftsrats setzt sich Dennis dafür ein, eine zukunftsorientierte Lösung zu finden. (Foto: Dennis Warnholtz)

Was spricht gegen die Forderungen?

Auf Anfrage berichtet Claudia Sewig, Sprecherin des Präsidenten der Universität Hamburg, es fehle aktuell noch an genügend fachlichen und finanziellen Ressourcen für dieses zusätzliche Angebot. Die Kapazitäten, die in die Nachqualifizierung fließen, ständen dann nicht für die Ausbildung neuer Studienanfänger*innen zur Verfügung und es gäbe keine adäquate Anzahl an Studienanfänger*innenplätzen, um diesen nachqualifizierten Studierenden auch einen Masterstudienplatz anbieten zu können.

Ist die Nachqualifizierung damit also vom Tisch? Nicht ganz. Zunächst solle es eine Befragung der Studierenden geben, auf deren Grundlage der Bedarf an Nachqualifizierung und die damit verbundenen Kosten genauer bestimmt werden, so die Universität Hamburg.  Erst im Anschluss könne darüber entschieden werden, ob und in welcher Form eine Nachqualifizierung möglich wäre.

Vor einem Monat sprachen die Hamburger Studierenden des FSR Psychologie mit Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank, um ihr die studentische Perspektive zu schildern. „Wir glauben, dass sie unser Problem nach dem gemeinsamen Gespräch besser verstanden hat und wünschen uns sehr, dass sie sich nun wirklich für uns einsetzt,“ berichtet Dennis. Auf die Betroffenen kommt also noch ein langer Weg des Wartens zu. Bis dahin studieren sie weiter, in der Hoffnung, dass sie ihr Berufsziel eines Tages erreichen können.