Polen: Geisterwahlen und andere Gruselgeschichten

In Polen wurde erst vier Tage vor offiziellem Termin publik, dass die Wahlen ausfallen werden.

In Polen fand in Folge der Coronakrise gestern eine Geisterwahl statt. Das Land wird seit Wochen von der Debatte dominiert, ob die für den vergangenen Sonntag geplanten Präsidentschaftswahlen hätten stattfinden sollen oder nicht. Vier Tage vor der Wahl dann die Entscheidung: Sie werden verschoben. Eine Rekonstruktion.

Stell dir vor es sind Wahlen und keiner geht hin. Ziemlich skurril, fast unrealistisch für Menschen mit einem gesunden Verständnis von Demokratie. In Polen ist es gestern so geschehen, dort fanden im Zuge der Corona-Pandemie Geisterwahlen statt. Bedeutet, formal gab es Wahlen, praktisch aber nicht. Wait – what? Was hier in Deutschland nur am Rande Thema ist, beherrscht und füllt die nationalen Schlagzeilen in Polen seit Monaten. Denn wie so oft gehen die politischen Meinungen weit auseinander und darüber, was der beste Umgang mit Präsidentschaftswahlen während einer Pandemie ist, herrscht große Uneinigkeit.

Fakt ist, zumindest heute: Die Wahlen finden voraussichtlich im Sommer statt, wenn die Amtszeit des derzeitigen Präsidenten, Andrzej Duda, offiziell vorübergeht. Bis Mittwochabend, vier Tage vor den Wahlen, wusste allerdings niemand so recht, ob am 10. Mai gewählt wird, oder nicht. Gegen etwa 23 Uhr, als die Kandidaten gerade mit einer stundenlangen TV-Debatte abgeschlossen hatten, wurde dann publik: Die Wahlen werden verschoben. Bei den vielen Drehungen und Wendungen der vergangenen Wochen konnte Beobachtern des politischen Diskurses schon mal schwindelig werden – wie bei einer wilden Karussellfahrt. Aber auf Anfang, alle einsteigen, bitte.

Präsident sein in Polen, was bedeutet das?

In Polen wird alle vier Jahre ein neuer Präsident gewählt. Er ist das Staatsoberhaupt des Landes und besitzt eine Kompetenz, die seine politische Bedeutung definiert: das Veto-Recht. Dieses Recht räumt ihm die Macht ein, politische Entscheidungen des Sejms, der das polnische Pendant zum Bundestag ist, zu stoppen und stellt deswegen insbesondere für die Opposition eine Möglichkeit dar, Entscheidungen des durch die Regierung dominierten Sejms zu blockieren. Dementsprechend bedeutend ist es für die nationalkonservative Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), ihren Parteifreund Duda im Amt zu halten.

Duda liegt in den Umfragen vorne, er ist beliebt unter den Polen. Dennoch benötigt er im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit, um nicht in eine Stichwahl mit dem am zweit-häufigsten gewählten Kandidaten zu müssen. Käme es zu solch einer Stichwahl, wäre das Rennen deutlich knapper als die Statistik, in der alle zehn Präsidentschaftskandidat*innen gelistet sind.

Info: Übrigens ging der Debatte um die Verschiebung der Wahlen ein anderer Skandal voraus: Bei der Registrierung der Kandidaturen, für die 100.000 Unterschriften je Kandidat*in nötig sind, tummelten sich bei voneinander unabhängigen Kandidaturen mehrere Namen von Menschen, die bereits seit Jahren verstorben waren. Die betroffenen Kandidat*innen wurden anschließend von der Wahl ausgeschlossen.

Opposition boykottiert Wahlen

Die Kandidat*innen, wie auch die gesamte Opposition und die Europäische Union kritisierten das Vorhaben der PiS, die Wahlen am 10. Mai durchführen zu wollen, schon früh. Auch die Bürger des Landes waren Umfragen zufolge gegen Präsidentschaftswahlen am 10. Mai. Selbst intern geriet die Regierung in Streit, da die PiS Polen nicht allein, sondern als Wahlbündnis namens „Vereinigte Rechte“ gemeinsam mit den kleinen Parteien „Solidarna Polska“ und „Porozumienie“ regiert. Der Porozumienie-Vorsitzende, Wissenschaftsminister und Vize-Ministerpräsident, Jarosław Gowin, hatte sich gegen Wahlen in Zeiten einer Pandemie ausgesprochen, er verließ Anfang April sogar die Regierung als klar wurde, dass seinem Protest zu viele PiS-treue Stimmen gegenüberstünden. Derweil rief die Opposition, nachdem ihrer Forderung nach einem Ausnahmezustand und Verschiebung der Wahlen nicht nachgekommen wurde, zum Boykott auf. Die Verhältnisse seien unfair, da sie aufgrund der strengen Vorkehrungen in Polen keinen Wahlkampf führen konnten, während Duda medial omnipräsent ist und sich in Zeiten der Coronakrise in Krankenhäusern als Mann des Volkes zeigt.

Die Briefwahl als Lösung aller Probleme?

Ein besseres Image dürfte Duda so schnell nicht mehr bekommen, die Corona-Fallzahlen in Polen sind gering, national sind nur 15 821 Fälle (Stand: 10. Mai) bestätigt, die Regierung hat dortzulande schneller und strenger reagiert als es in Deutschland der Fall war. Umso größer ist die Sorge rund um eine bevorstehende Wirtschaftskrise, die dem positiven Image der Regierenden schaden und eine Wiederwahl Dudas gefährden könnte. Deswegen wird von der Regierung alles Machbare innerhalb des legalen, aber auch gesetzlich strittigen Rahmens ausgereizt – Politik á la Prawo i Sprawiedliwość. Die Lösung sollte eine Briefwahl sein, die eigentlich 2017 gänzlich abgeschafft wurde. Eine Briefwahl lässt sich einfach von zuhause durchführen und erfordert kaum zwischenmenschlichen Kontakt. Doch leider verstößt sie gegen die polnische Verfassung. Denn eine so maßgebliche Veränderung des Wahlgesetzes ist in Polen sechs Monate vor einer registrierten Wahl unzulässig und, am Rande, so kurzfristig allein aus logistischen Gründen nicht umsetzbar. Dennoch wurde mit den Vorbereitungen für eine ausschließliche Briefwahl schon begonnen, bevor diese offiziell von dem Sejm angenommen wurde – was drei Tage vor den Wahlen geschah, als sie bereits am Vorabend offiziell verlegt worden waren. Und so wurde die nächste Station der wilden Karussellfahrt, die Geisterwahlen, beschlossene Sache. Obwohl die oppositionelle Forderung nach einem Ausnahmezustand die legale Verschiebung der Wahlen in den Sommer oder Herbst ermöglicht hätte. Dann – und davor gruselt sich die Regierung wirklich – hätte man jedoch der Opposition Recht geben müssen. Zwischen diesen beiden Optionen, der Briefwahl und der Verschiebung der Wahlen, existierten noch zig andere konkurrierende Ansätze, die schnell laut diskutiert und genauso abrupt wieder unter den Teppich gekehrt wurden. Beispielsweise eine Verlängerung von Dudas Amtszeit um weitere zwei Jahre. Die Wahrheit dabei ist jedoch, dass die Gewaltenhoheit über solche Entscheidungen nicht bei den in Polen existierenden demokratischen Institutionen liegt, sondern aber einigen wenigen Mächtigen – in den vergangenen Tagen bei PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński und dem ehemaligen Vize-Ministerpräsidenten und Wissenschaftsminister Jarosław Gowin.

Einer der Präsidentschaftskandidaten, Szymon Hołownia, betitelte die Woche vor dem 10. Mai als die wichtigste Woche für die polnische Demokratie seit 30 Jahren. Seit der eiserne Vorhang fiel. Und so bedeutungsträchtig dieser Vergleich auch ist, so verdeutlicht er nur, wie die langersehnte Demokratie in Polen mit Füßen getreten wird, um eigene Interessen durchzusetzen. Die Methoden sind nicht eins mit den damaligen, die während der Sowjetunion Anwendung fanden, jedoch auch nicht wirklich weit davon entfernt.