Stell dir mal vor. Deine Staatsangehörigkeit: Europäisch. Dein Zuhause: Europa. Einige Organisationen und Parteien sehen die Zukunft der EU in der Gründung eines Europäischen Bundesstaates. Die Kopfzeile Redaktion ist diesem Zukunftsszenario einmal nachgegangen. Wie sähe ein europäischer Bundesstaat aus?
von Annalena Kofler
Das Jahr 2022 wurde von der europäischen Union zum Jahr der Jugend benannt. Es soll neue Chancen für junge Menschen eröffnen und ihren Meinungen und Ideen mehr Gehör verschaffen. Wie stellen sich gerade junge Menschen ihre Zukunft auf dem Kontinent vor? Szenarien, Stimmungen und Tendenzen gibt es derzeit viele: pro- aber auch antieuropäische.
So hat der Brexit beispielsweise gezeigt, dass die EU-Zugehörigkeit keineswegs selbstverständlich ist. Andere wünschen sich das Gegenteil: mehr Integration und Zusammenarbeit in der EU. Manche Organisationen und Parteien haben sich etwa die Gründung eines Bundesstaates Europa zum Ziel gesetzt, also die Entwicklung der EU zu einem souveränen Staat, ähnlich wie heute die USA. Was würde sich dadurch verändern? Wie realistisch ist das? Und wer setzt sich eigentlich dafür ein?
Pro Bundesstaat Europa
Es gibt einige Organisationen und Bewegungen, die für ein starkes Europa und einen Bundesstaat einstehen: So beispielsweise die Europa-Union, eine Bürgerinitiative, die sich unabhängig von Parteiangehörigkeit für die Einigung Europas einsetzt. Oder die JEF – die Jungen Europäischen Föderalisten – eine Jugendbewegung mit ähnlichen politischen Forderungen und Zielen wie die Europa-Union. Die politische Arbeit der JEF besteht zum einen aus Diskussionen mit Organisationen, Parteien und deren Jugendverbänden. Zudem leisten sie auch Bildungsarbeit und sind an Schulen und Unis unterwegs, um gerade mit Schüler:innen oder Studierenden über Themen mit politischem und europäischem Bezug zu sprechen.
Bekannt geworden ist in den letzten Jahren auch die Partei VOLT, die dezentral organisiert Politik betreibt – immer aus der europäischen Perspektive. Auch sie kämpfen für die Gründung eines Vereinten Staates.
Auch die Ampelregierung spricht sich in ihrem Koalitionsvertrag 2021 deutlich für die Verstärkung der Zusammenarbeit innerhalb der EU aus und spricht vom langfristigen Ziel eines föderal geführten, europäischen Bundesstaats.
Vorteile vor allem in der Bewältigung großer Krisen
In einem Gespräch mit dem JEF-Landesvorsitzenden von Hamburg, Christian Kisczio, berichtet dieser, wie er sich ein Leben in einem Europäischen Bundesstaat vorstellt und von möglichen, alltäglichen Veränderungen: „Ich glaube zum einen würde man noch stärker die Möglichkeit wahrnehmen, woanders zu leben und zu arbeiten. Außerdem wäre das europäische Selbstverständnis viel mehr vorhanden.“ Die Hemmung davor, ins Ausland zu ziehen, sei immer noch sehr groß, obwohl es auch jetzt schon deutlich einfacher sei, als vor der EU. Für Studierende könnte das heißen, dass der Besuch einer Universität in einem anderen Teil Europas mit Dozent:innen und Kommiliton:innen aus ganz Europa zur Normalität werden würde. Kisczio sieht den größten Vorteil eines gemeinsamen Bundesstaates aber bei der gemeinsamen, europäischen Bewältigung der großen Krisen unserer Zeit: „Wir sehen, dass viele Probleme nicht auf dieser staatlichen Ebene gelöst werden können, sondern vielmehr auf einer überstaatlichen – der Klimawandel oder die Mobilität in Europa wären Beispiele hierfür. Es ergibt nur Sinn, wenn wir mehr zusammen machen.“
Dem stimmt auch der Politikwissenschaftler Dr. Michael Koß zu. Er ist Professor für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union an der Leuphana Universität in Lüneburg: „Die Veränderungen würden in alle Bereiche des täglichen Lebens reinstrahlen.“ Den größten Vorteil sehe er ebenfalls in der Zusammenarbeit und vor allem in der Erweiterung der gemeinsamen Sicherheitsarchitektur der EU.
Ist die EU zu divers für einen gemeinsamen Staat?
Neben vielen möglichen Chancen, die ein europäischer Bundesstaat mit sich bringen könnte, gäbe es aber auch einige Herausforderungen. Die Mehrsprachigkeit, genauso wie das Fortbestehen der verschiedenen Kulturen zum Beispiel. Besonders müssen dabei auch die geschichtlichen Hintergründe der einzelnen Staaten berücksichtigt werden.
Außerdem wäre eine tatsächliche Gründung deutlich komplizierter, als man sich das vorstellt. So hat zum Beispiel zurzeit jedes Mitgliedsland das Recht zum Austritt aus der EU – das wäre in einem europäischen Staat nicht möglich. Zudem könnten große soziale Unterschiede in den Bevölkerungen der Mitgliedsstaaten zu Schwierigkeiten führen.
Alle Entwicklungen der EU sind immer gegen alle Wahrscheinlichkeiten verlaufen. Am Ende hat man es gemacht. Und es hat funktioniert.
Prof. Dr. Koß, Politikwissenschaftler
Insgesamt kann sich Koß die Realisierung einer solchen supranationalen Regierung konkret nur sehr schwer vorstellen: In Europa müssten teilweise jahrhundertealte Nationalstaaten und ihre Kulturen verschmolzen werden. Trotzdem sei das Szenario, so Koß, nicht unmöglich: „Alle Entwicklungen der EU sind immer gegen alle Wahrscheinlichkeiten verlaufen. Am Ende hat man es gemacht. Und es hat funktioniert.“ Ebenfalls verlangen Bedrohungen von außen – wie die Supermächte Russland oder China, aber auch der Klimawandel – eine stärkere Beteiligung der heutigen EU-Mitgliedsstaatenstaaten. Darin sehe er „ermöglichende Faktoren für ein solchen Szenario“.
Auch die JEF ist sich bewusst, dass ein europäischer Bundesstaat keineswegs gewiss ist und erst recht nicht so schnell und einfach realisiert werden kann. Dennoch sehen sie Chancen und Möglichkeiten: „Das Verständnis der nötigen stärkeren Zusammenarbeit wird sich mit der Zeit durchsetzen“, so Kisczio. „Wir als JEF schubsen das Projekt in die richtige Richtung, aber uns ist bewusst: Das große Ziel ist noch weit entfernt, aber nicht völlig unrealistisch.“
Europäer:innen und ihr Zuhause
Die Tendenzen und Meinungen gegenüber der EU und ihrer Entwicklungen sind vielfältig. Politikwissenschaftler Koß sieht die größte Mehrheit bei Bürger:innen, die den „Status Quo“ in Europa und ihr aktuelles Leben als Europäer:innen schätzen. Deutlich kleiner ist die Gruppe mit anti-europäischen Tendenzen. Eine ernsthafte, politische Nachfrage nach einem europäischen Bundesstaat sei, laut Koß, in der Bevölkerung allerdings kaum wahrzunehmen.
Auch die JEF sieht in ihrer Bildungsarbeit, für wie positiv, aber auch für wie selbstverständlich junge Menschen die EU halten. Auch das sei gefährlich – man dürfe die EU keineswegs als Selbstverständlichkeit betrachten.
In der europaweite Studie Generation What haben insgesamt mehr als 900.000 junge Menschen aus 35 europäischen Ländern online Fragen zu verschiedenen Themen – unter anderem zu Europa und der EU beantwortet. Über 90 Prozent gaben an sich als Europäer:in zu fühlen. Dennoch fühlt sich in keinem der Länder die Mehrheit primär Europa zugehörig, sondern vielmehr der eigenen Stadt, dem eigenen Land oder der Welt. Trotzdem überwiegen bei den meisten die Vorteile an der EU, würden gegen einen Austritt aus dem Staatenbund stimmen und betrachten nationalistische Entwicklungen großteils als negativ. In Deutschland schätzen junge Leute besonders den Euro, die Mobilität, die kulturelle Vielfalt und den Frieden an der EU. Weitere Infos zur Studie: http://www.generation-what.de/europe/map/europe |


Neben einer grundsätzlich positiven Stimmung der EU gegenüber sieht auch Koß das stärkste Zugehörigkeitsgefühl in der Bevölkerung immer noch im Nationalen oder Lokalen. Ein wirkliches Interesse für einen europäischen Staat sei nicht vorhanden. Obwohl die Meinung der Bevölkerung eine Rolle spiele, sieht er ein starkes europäisches Identitätsgefühl nicht als Voraussetzung für mögliche Entwicklungen in diese Richtung – dieses könne auch nach der Entstehung eines Bundesstaates folgen.
In welche Richtung sich die EU entwickeln wird, ist nicht absehbar. Es gibt einige Stimmen, die sich für einen europäischen, kulturell vielfältigen, friedlichen, föderalen Bundesstaat einsetzen. Auch die jetzige Regierung in Deutschland steht einem stärkeren Europa sehr offen gegenüber. Es gibt aber auch Mitgliedsstaaten, die sich stark gegen eine Vertragsänderung aussprechen. Zunächst bleibt der vereinte Bundesstaat Europa demnach eine schwer vorstellbare Utopie. Vielleicht ein idealisiertes Wunschdenken, das längst nicht die Lösung aller Probleme darstellt. Aber vielleicht eine Idee – mit all den Möglichkeiten und Chancen, die diese mit sich bringen könnte – für die es sich dennoch einzustehen lohnt.