gelesen: „Die ideale Frau“

Christine de Pisan war eine französische Autorin des 14. und 15. Jhs. - Miniatur aus einer Handschrift ihrer "La Cité des Dames" (Stadt der Frauen) (frühes 15. Jh. - unbekannter Künstler) Christine de Pisan war eine französische Autorin des 14. und 15. Jhs. - Miniatur aus einer Handschrift ihrer "La Cité des Dames" (Stadt der Frauen) (frühes 15. Jh. - unbekannter Künstler)

In ihrem 2023 erschienenen Buch „Die ideale Frau. Wie uns mittelalterliche Vorstellungen von Weiblichkeit noch heute prägen“ erklärt Eleanor Janega auf 297 Seiten (ohne Anhang) die Entstehung, Auswirkungen und Rezeption von Weiblichkeit. Janega fordert dabei weder historisches noch feministisches Vorwissen ein und verhandelt die oftmals gnadenlose Geschichte von Frauen dennoch respektvoll-humoristisch. 

von Tomke Schöningh

Feministisch durchs Mittelalter mit Eleanor Janega

Dr. Eleanor Janega unterrichtet mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte an der London School of Economics, betreibt den Blog „Going Medieval“ und ist Co-Host des Podcast „We’re not so different“. Inhaltlich umspannt sie dabei die Themen Sexualität, Propaganda und apokalyptisches Denken. Eingangs argumentiert Janega die politische Relevanz eines Buches, welches sich mit mittelalterlichen Weiblichkeitsvorstellungen auseinandersetzt. Im Vordergrund steht dabei der Versuch, die These, unsere Gesellschaft sei schon immer frauenfeindlich gewesen (und dieser Zustand sei eine gegebene Natürlichkeit) zu überprüfen.  Janega kann diese vermeintliche Natürlichkeit eindrucksvoll widerlegen, ohne in das Narrativ „früher war es besser“ abzudriften.

Was war das mittelalterliche Ideal?

Die antike Philosophie wirkt noch weit in das Mittelalter hinein. Hier eine Darstellung aus einer Handschrift der Nikomachischen Ethik von Aristoteles (1455 - unbekannter Künstler)
Die antike Philosophie wirkt noch weit in das Mittelalter hinein. Hier eine Darstellung aus einer Handschrift der Nikomachischen Ethik von Aristoteles (1455 – unbekannter Künstler BM Rouen Ms927 (I.2))

Ihre Beweisführung beginnt in der Antike: bei den großen Philosophen und Frühmedizinern. Was ist eigentlich der weibliche Körper – wie ist er vom männlichen zu unterscheiden und seit wann existiert das Narrativ von der Frau als minderes Geschlecht? Janega analysiert die von Schüler:innen des Mittelalters studierten Texte. Dabei schafft sie es, ein Bild mittelalterlicher Sozialisation zu zeichnen, das eigentlich noch antik ist. Ausgehend von der Schönen Helena forscht Janega den mittelalterlichen, männlichen Blick auf Frauen nach und schafft es, die männliche Idealvorstellung einer Frau zu rekonstruieren: wie ihre Schultern, ihre Knochen, ihre Haare und Haut sein sollten. Es ist alles sehr spezifisch und ein bisschen unmöglich. Denn: Schön sein, das sei Pflicht, Schön machen hingegen Sünde.

Janega macht mittelalterliche Theologie zugänglich, indem sie die Phänomene Eva und Maria erklärt, die Figur des Kirchenvaters definiert, und dessen Meinung zu den sexbesessenen Frauen (das seien übrigens quasi alle Frauen) einordnet. Die sexbesessenen Frauen sind für die mittelalterliche Gesellschaft, die Fortpflanzung braucht und gleichermaßen verteufelt, ein Ärgernis. Und Schuld seien sie: an Lepra, das sie während ihrer Menstruation weitergeben, an sexueller Untreue am mittelalterlichen Hof und an dämonischer sexueller Magie sowieso. Das Kapitel (3) ist, dank Janegas unaufgeregter und gewitzter Art über Sexualität zu schreiben, zum Lachen und Weinen gleichzeitig. Aussagen mittelalterlicher Männer über Frauen sind so tragisch-komisch, dass sich spätestens für diesen Teil ein Buchclub anbietet.

Weiblicher Handlungsspielraum im Mittelalter

„Es ist unsere Aufgabe, diese Frauen [T.S.: Frauen, die im Mittelalter lebten] sichtbar zu machen und das, was sie taten, als das zu bezeichnen, was es war: wertvolle und notwendige Arbeit.“ (S. 265) schreibt Janega und setzt damit den Ton für eine viele Seiten umspannende Liste von Berufsfeldern von Frauen im Mittelalter. Sie waren Bäuerinnen, Mütter, Künstlerinnen, Hebammen, Berufsreligiöse, Sexarbeiterinnen, oder Herrscherinnen. Janega widerlegt die Auffassung „Frauen arbeiten erst seit der Moderne“ als Lüge und spricht ihnen Handlungsspielraum innerhalb dieser Berufe (und teilweise sogar Macht) zu. Zuletzt spannt die Autorin den Bogen in die Gegenwart: Sie vergleicht gegenwärtiges und mittelalterliches Weiblichkeitsideal nach ihrer jeweiligen Entstehung, nach Schönheitskategorien, nach Sexualität und Arbeit. Janega kann feststellen, dass sich Schönheitsstandards und unsere Einstellung zu (weiblicher) Sexualität zwar geändert haben, die Deutungshoheit zu selbigen Themen im Mittelalter wie auch gegenwärtig jedoch durch Männer bestimmt wird. Frauen sind somit noch immer nicht frei von männlichen Vorstellungen über Weiblichkeit, egal ob es den eigenen Körper, Sexualität oder die Lebensgestaltung anbelangt.

Warum nur immer so Binär?

Janega schafft mit „Die ideale Frau“ eine Grundlage, um mit geschichtsinteressierten Freund:innen die eigene Faszination von mittelalterlicher Geschlechtergeschichte zu teilen. Insbesondere die Tatsache, dass sie Weiblichkeitsideale von Bauernschaft bis zum königlichen Hof in einem geografischen Raum von England über Ungarn bis Spanien abdeckt, ist beachtlich. Wo es sich auch anbietet, geht Janega explizit auf nicht-christliche Ideale und Lebensformen ein. Queere Lebensformen erwähnt sie jedoch nur bedingt. Während Janega zwar Gelehrtenmeinungen zu lesbischem Sex wiedergibt, klammert sie – wohl auf Grund mangelnder Quellen – geschlechtliche Diversität völlig aus. 297 Seiten können nur so viel leisten, aber ein expliziter Hinweis auf diese Forschungslücke wäre wünschenswert gewesen. Auch ist bei Janegas Vergleich von mittelalterlichen und modernen Schönheitsidealen unklar, woher sie ihre Quellen für moderne Schönheitsideale nimmt. Ihr beständiger Fokus auf ein gegenwärtiges Schönheitsideal bestehend aus großen Brüsten und einer schmalen Taille (bspw. S. 88) ist besonders deshalb irritierend, da sie an anderer Stelle anerkennt, dass aktuell in Europa kein einheitliches Schönheitsideal feststellbar ist (S. 279). Kritisch anzumerken ist zudem, dass die deutsche Übersetzung nicht durchgängig (und einheitlich) gendert. So ist zwar die Rede von modernen „Wissenschaftler:innen“ (S. 293), doch heißt es nur wenige Seiten zuvor: „Unter den Betreibern [sic] von Badehäusern waren viele Frauen.“ (S. 222)

Vier Gründe, das Buch zu lesen

Dennoch gelingt Janega ein gemütlich zu lesendes wissenschaftliches Buch, welches vor Quellen nur so strotzt. (An dieser Stelle ein kleiner Appell an frisch gebackene Geschichtsstudierende: nutzt dieses Genre (ja, es gibt noch mehr dieser Bücher), um eure Quellen für Hausarbeiten zu finden!) Es ist manchmal schwierig, sich alleine durch die vielen Vorurteile, Stereotypen und Mythen des Mittelalters (insbesondere zum Leben von Frauen im Mittelalter) durchzukämpfen. Texte von begeisterten Mittelalterhistoriker:innen zu lesen, hilft definitiv dabei, zu erfahren, welche Themenfelder es überhaupt so gibt. „Die ideale Frau“ lohnt sich nicht zuletzt deswegen, weil es daran erinnert, dass ein Geschichtsstudium politisch ist – auch abseits der Zeitgeschichte.

Cover von Eleanor Janegas Buch in der englischen und deutschen Edition. Es zeigt einen Ausschnitt einer Seite aus der Salzburger Missale, die den Baum des Todes und des Lebens darstellt (spätes 15. Jh. - Berthold Furthmeyer)
Cover von Eleanor Janegas Buch in der englischen und deutschen Edition. Es zeigt einen Ausschnitt einer Seite aus der Salzburger Missale, die den Baum des Todes und des Lebens darstellt (spätes 15. Jh. – Berthold Furthmeyer Clm 15710 Bd. 3)