Danke, Deutschland #3

Eine vielversprechende Werbung, die ich an meinem allerersten Tag in Deutschland gesehen habe. Ob der Mann auf dem Bild nur chillt oder besoffen mit einer Flasche in der Hand eingeschlafen ist, bleibt eurer Fantasie überlassen. (Foto: Anastasia Klimovskaya)

über die Trinkkultur

Witze über den osteuropäischen Alkoholkonsum gehören zum Standardarsenal der Europäer*innen. In der heutigen Kolumne sprechen wir über die irrtümlichen Klischees russischer Trinkkultur und darüber, wie ich in Deutschland zu einer pragmatischen Teilzeit-Alkoholikerin wurde.

An so einem schönen Tag wie heute, wenn das schwierige digitale Sommersemester endlich vorbei ist, steht bei vielen ein ziemlich aktuelles und kontroverses Thema auf der Tagesordnung. Gerade in solchen Zeiten, wenn man sich wieder mit 25 Personen versammeln darf und eventuell zum Ende des Semesters mal wieder eine Hausparty schmeißen möchte, ist es höchste Zeit über den Alkoholkonsum in Deutschland zu sprechen.

„Du kommst doch aus Russland, trink mal einen Wodka!”

Diesen Text mit einem Satz über den Deutschen Bierkonsum anzufangen, wäre wahrscheinlich fast genau so schlimm, wie über die Liebe der Russ*innen zu Wodka zu sprechen. An der Spitze von meinen Top-3 der unbeliebtesten Sprüche beim Kennenlernen auf einer Party stehen alle Witze über den osteuropäischen Alkoholkonsum. Man kann nicht oft genug diesen klischeehaften Spruch wiederholen: Du kommst doch aus Russland, trink mal einen Wodka! Für einige mag es sehr überraschend kommen, dass nicht jede*r Russe*in den selbstgebrannten Schnaps schon mit der Muttermilch aufgesaugt hat. Für den einen oder die andere kann auch überraschend sein, dass solche Sprüche überhaupt nicht witzig sind. Aber dem deutschen Humor werde ich wohl eine andere Kolumne widmen.

Wenn man in den Urlaub nach Südeuropa fährt, erkennt man einen Deutschen nicht nur an den Socken in den Sandalen, sondern auch an einem Glas Bier, und zwar nicht zu einer beliebigen Uhrzeit, sondern noch vor 12 Uhr mittags. Bevor ich nach Deutschland kam, konnte ich mir gar nicht vorstellen, dass man zu solchen Uhrzeiten ohne offensichtliche Alkoholprobleme überhaupt trinken kann. No judgement, aber in Russland herrscht zwischen 22:00 Uhr und 11:00 Uhr ein striktes Alkoholverkaufsverbot. Dass ausgerechnet Menschen, bei denen Bierpong inzwischen fast schon ein Nationalsport ist, Witze darüber machen, dass ich nach einem Schnaps doch gar nichts merken sollte, erscheint mir widersprüchlich.

Die Deutschen trinken nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen im Schnitt 10,5 Liter Reinalkohol jährlich. In Russland ist der Alkoholkonsum zwischen 2011 und 2018 nach Angaben des russischen Gesundheitsministeriums extrem gesunken. 2018 waren es 9,3 Liter Reinalkohol pro Person. Sieben Jahre zuvor hatten die Russ*innen noch 18 Liter geschafft. Auch eine WHO-Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, dass die Menschen in Russland inzwischen weniger Alkohol konsumieren als die in Deutschland. Spätestens nach dieser Statistik sollte man aufhören sich über den angeblichen russischen Alkoholismus lustig zu machen und am besten über das eigene Verhalten nochmal nachdenken.

Die Suff-freien Zonen

Neben dem Verbot nachts Alkohol zu verkaufen, gilt in Russland auch ein striktes Verbot Alkohol in der Öffentlichkeit zu trinken. In Deutschland haben einige Städte ebenfalls versucht, den Alkohol von der Straße zu holen. In Hamburg und vielen anderen Städten zum Beispiel ist Alkohol in den öffentlichen Verkehrsmitteln tabu. Veranstaltungen wie das Oktoberfest oder der Kölner Karneval machen dem aber einen Strich durch die Rechnung. Als Teilzeit-Alkoholikerin finde ich die Möglichkeit, mit einer Flasche Wein durch die Stadt zu spazieren, eigentlich ganz toll. Was ich nicht gut finde, sind Tausende von besoffenen, (mittel-) alten, weißen Männer, die bei solchen Massenveranstaltungen durch die Straßen laufen, Frauen belästigen und Scheiße bauen.

Dieses Jahr kam während der Karnevalzeit die Nachricht, dass die Nahverkehrsbetriebe in Düsseldorf Busse und Bahnen mit 50 000 Kotztüten ausgestattet haben. An sich eine gute Sache, ich glaube jeder von uns würde sich über saubere Züge und Busse freuen. So was könnte man auch in Berlin machen – auch ohne besonderen Anlass. Jedoch frage ich mich, ob es wirklich die Welt ist, in der wir leben wollen – eine Welt, in der man davon ausgehen muss, dass die Menschen an Festtagen so hackedicht sind, dass sie die Bahn vollkotzen.

Der deutsche Trinkpragmatismus

Es gibt wenige Dinge, die Russ*innen und Deutsche gemeinsam haben. Eine davon ist die angeborene Unfähigkeit, Alkohol zu genießen. In Deutschland lassen sich die Kunden bei der Auswahl von Wein von einem typisch deutschen Grundsatzprinzip leiten: nicht zu teuer, nicht zu günstig, sieht solide aus. Und dazu in Klammern: Nach der ersten Flache ist es eh schon egal, was man trinkt. Bei Alkohol sollte man aber den Pragmatismus lieber beiseite lassen: Letztendlich ist der Alkohol nicht das Mittel zum Zweck, sondern ein Genussgut.

2017 schrieb Die Zeit, dass 1,3 Millionen Menschen in Deutschland alkoholabhängig sind. 9,5 Millionen übertreiben es mit ihrem Alkoholkonsum regelmäßig. Laut Spiegel Online spielt Alkohol bei knapp der Hälfte aller im Straßenverkehr tödlich verunglückten Dritten, etwa Fußgänger*innen, eine Rolle. Zudem wird die Zahl der Neugeborenen mit geistigen oder körperlichen Schäden durch Alkoholkonsum der Mütter auf 12.650 pro Jahr geschätzt. Vielleicht wäre das ein Zeichen dafür, dass die deutsche Trinkkultur dringend eine Reformation braucht.

In diesem Sinne: Prost, Deutschland! Und danke dafür, dass ich mein Feierabendbier an der Alster trinken darf.