Frau Petersens letzter Wunsch

Hannelore Petersen (links) mit ihrer Nichte Nicole. Foto; Maximilian Bronner

Hannelore Petersen wird bald sterben. Seit Januar lebt die 88-Jährige in einem Flensburger Hospiz, nur wenige Meter vom Hafen entfernt. Ihre Bewegungen schmerzen, der Krebs hat bereits gesiegt. Ihr Wunsch: Ein letztes Mal an die Nordsee.

„Hanne“, wie sie ihre Nichte Nicole nennt, hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Seit einigen Wochen möchte sie sterben, die Schmerzen sind zu stark. Vor vier Wochen sprach sie mit ihrer Nichte über ihren letzten Wunsch. Noch ein letztes Mal an die Nordsee, ein letztes Mal bei Gosch Fisch essen, ein letztes Mal das Salzwasser auf der Haut spüren. Gemeinsam mit Elfriede Petersen, Hannelores Schwester, machte sich „Nici“ auf die Suche nach einer Lösung. Die alte Dame ist nur noch im Liegen transportfähig, der Krebs schon zu weit fortgeschritten.

„Wir waren vor ein paar Wochen in Hamburg beim Musical. Da haben wir vor uns eine Gruppe vom Wünschewagen gesehen“, erinnert sich Hannelores Schwester Elfriede. Der „Wünschewagen“ vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) erfüllt schwerstkranken Menschen ihre letzten Wünsche. Seit 2014 bringen Teams des ASB Menschen in einem umfunktionierten Rettungswagen ein letztes Mal an ihre Lieblingsorte. Das Projekt ist rein spendenfinanziert, die ASB-Teams arbeiten ehrenamtlich.


Der Wünschewagen holt die schwerkranke Frau aus dem Hospiz ab

 So auch Helmut Hollstein (63) und Karin Hölsch (53). Hollstein ist pensionierter Feuerwehrmann, seit über zwei Jahren erfüllt er Menschen ihre letzten Wünsche. Karin Hölsch arbeitet als Krankenschwester, heute ist ihre erste Fahrt mit dem Wünschewagen. Um viertel vor neun starten beide in Richtung Flensburg, um die 88-Jährige aus dem Hospiz abzuholen. Vor der Einfahrt wartet bereits ihre Nichte Nicole, die sich ihr breites Grinsen nicht verkneifen kann.

„Natürlich ist die Situation nicht einfach. Heute wollen wir der Dame aber in erster Linie einen richtig schönen Tag bereiten“, sagt Helmut Hollstein. Gemeinsam mit Karin Hölsch schiebt er die Liege zum Zimmer der Fahrgästin. Patientin wäre das falsche Wort – denn Behandlungen helfen bei Hanne schon lange nicht mehr. Als beide die alte Dame vom Bett auf die Liege heben, schreit sie vor Schmerzen kurz auf. Der Krebs ist da. Mit seiner ganzen Wucht. Große Metastasen sind über ihren Körper verteilt.

Keine Trauer, sondern Dankbarkeit

Zum Abschied winken einige Hospiz-Helferinnen, wünschen Frau Petersen viel Spaß. Sprechen fällt ihr, wie alles andere auch, schwer. Nur sehr leise und kurze Sätze sind mit ihrer schwachen Stimme noch möglich.

Um kurz vor 12 startet der Wünschewagen in Richtung Nordsee, Schwester Elfriede und Nichte Nici begleiten ihre Hanne. Helmut Hollstein tippt die Zieladresse in das Navigationsgerät: St.Peter-Ording. Dort hat Hannelore Petersen früher oft ihren Sommerurlaub verbracht, häufig gemeinsam mit Nici und Elfriede. Helmut Hollstein und Karin Hölsch haben einen speziellen Strand-Rollstuhl organisiert. Durch vier dicke Gummireifen können sie die Patientin bis ans Wasser heranfahren. Vorsichtig setzen sie die alte Dame in den Rollstuhl und schieben sie in Richtung Strand.

Die Sonne glitzert im Wasser, kleine Wellen brechen sich an den Pfahl-Häusern. Für einen kurzen Moment schweigen alle. Doch es ist kein Moment der Trauer, vielmehr einer der Freude. Und Dankbarkeit. Der Tod kommt sowieso. Umso wichtiger ist dieser gemeinsame Moment. Helmut Hollstein schiebt die 88-Jährige einige Meter am Wasser entlang. „Wir haben leider unsere Badesachen vergessen“, scherzt Hollstein. Und auch Hannelore Petersen blüht auf. Immer wieder rollen ein paar Tränen über ihre lächelnden Lippen. „Nici zieh mir mal die Schuhe aus“, sagt Hannelore Petersen.

Betretene Stille – alle wissen, dass dieser Wunsch nicht erfüllt werden kann. Ihre Nichte lässt etwas Wasser auf die Hand ihrer Tante tropfen. Hanne leckt kurz an ihrem Handrücken und schmeckt das salzige Meerwasser. Und in jedem Moment wird einem bewusst, dass dies vermutlich das letzte Mal ist. „Sie hat in letzter Zeit stark abgebaut“, sagt Nicole Jürgensen, die die noch bleibende gemeinsame Zeit regelrecht aufsaugt. Zum Abschluss geht es zum Fischrestaurant Gosch. Hannelore Petersen bestellt Schollenfilets mit Bratkartoffeln. Alle spüren, wie glücklich sie ist, die Krankheit ist kurz vergessen.

Um 17 Uhr macht sich die Gruppe wieder auf den Heimweg. Nach wenigen Kilometern muss Helmut Hollstein den „Wünschewagen“ anhalten. Die 88-Jährige hat zu große Schmerzen, ihre Schwester gibt ihr eine Morphium-Tablette. Als der Wünschewagen nach anderthalb Stunden wieder vor dem Hospiz ankommt, erwarten die Pflegerinnen die Patientin bereits. Hannelore Petersen ist zu erschöpft, um sich ausgiebig zu bedanken. Zum Abschied lächelt die 88-Jährige. Müde, aber glücklich. 

(Auf Wunsch der Angehörigen wurden die Nachnamen der Patientin, ihrer Schwester und ihrer Nichte verändert.)