Viele junge Menschen wollen Medizin studieren, doch bekommen auch mit gutem Abitur keinen Studienplatz – Grund dafür: Das strenge Auswahlverfahren nach dem NC und der Wegfall der Warteliste seit 2022. Fraglich ist, ob das fair oder sinnvoll ist.
von Athanassia Savvas
Sie retten Menschenleben, führen anspruchsvolle Operationen durch und es mangelt nie an großen Emotionen: Ärzt:innen – Viele junge Menschen träumen von einer Karriere als Ärzt:in wie „Meredith Grey“ aus der US-amerikanischen Serie „Grey’s Anatomy“ – so auch die Studentinnen Lea Kratzer (25) und Dalma Otterbein (23) aus Hamburg. Doch in der Realität ist es natürlich nicht so einfach einen medizinischen Beruf auszuüben: Ein sechsjähriges Studium der Humanmedizin wird vorausgesetzt. Um dieses anzutreten, bedarf es eines Studienplatzes. Kratzer und Otterbein erhielten jedoch trotz eines Einskomma-Abiturs auch nach mehreren Versuchen keinen. Der Grund dafür: Das strenge Vergabesystem nach dem Numerus Clausus (NC). Hinzu kommt, dass die Wartesemester bei der Vergabe von medizinischen Studiengängen seit 2022 keine Rolle mehr spielen. Eine Eignungsquote wie der Test für medizinische Studiengänge (TMS), oder abgeschlossene Ausbildungen ersetzte die Wartesemester.
In der neunten Klasse machte Lea Kratzer einen Schnuppertag an der Uniklinik Erlangen und durfte bei einer komplexen Kinderherz-OP dabei sein: „Danach war’s um mich geschehen“, sagt Kratzer. „Der Klassiker, der dir jeder erzählt, der Medizin studieren möchte, ist, dass er viel ‚Grey’s Anatomy‘ guckt“, ergänzt sie und lächelt. Seit die 25-Jährige 2017 ihr Abitur absolvierte, bewarb sie sich jedes Semester erfolglos aufs Neue für ein Medizinstudium. „Es ist schwierig sofort einen Platz zu kriegen, besonders wenn man nur ein 1,8 Abitur hat und keine 1,0“, klagt sie. „Es war jedes Mal ein Schlag in die Magengrube.“
Vier Bewerbungen auf einen Studienplatz
Da der Arztberuf – nicht nur dank der diversen Arztserien – in Deutschland sehr beliebt ist, spiegelt sich in der Zahl der Bewerber:innen für einen Studienplatz wider: Im Wintersemester 2019/20 kamen auf jeden Studienplatz vier Bewerbungen. Kratzer entschied sich nach dem Abitur bei einem privaten Anbieter für knapp 3000 Euro ein Vorsemester der Medizin in Leipzig zu absolvieren. Sie belegte naturwissenschaftliche Fächer aus der Vorklinik, um zu sehen, ob das Arbeitspensum zu ihr passe. „Damit kommt man aber trotzdem nicht weiter, da es nichts Anerkanntes ist“, musste sie jedoch feststellen. Sie sieht zudem auch, dass sich ein solches Angebot nicht jeder leisten könne.
Die letzte Chance aufs Medizinstudium: Privatuni in Budapest
„Irgendwann habe ich keinen anderen Ausweg gesehen, denn mein Schnitt war zu groß, es konnte nicht mehr gewartet werden, den TMS hatte ich gemacht, der war nicht gut.“
2019 begann Kratzer Physik zu studieren und bewarb sich weiterhin auf das Medizinstudium – ab 2020 auch an Privatuniversitäten in Deutschland und im Ausland. Im Juli 2020 kam die Zusage für die Semmelweis-Privatuniversität in Budapest. Die Kosten für ein Semester der Humanmedizin betragen in Budapest etwa 8300 Euro.
Schließlich entschied sie sich dazu, nach drei Semestern zurückzukommen, da sie die Umstände während des Coronavirus im Ausland zu studieren und die hohen Studienanforderungen belasteten. Sie orientierte sich neu und studiert jetzt Hebammenwissenschaft.
Vergabe nach NC oder Persönlichkeit?
„Mir ist klar, dass es von der Hochschulkapazität schwierig ist und sich das stückchenweise zu diesem 1,0 Schnitt entwickelt hat“, sagt Kratzer und ärgert sich trotzdem. Laut der Stiftung für Hochschulzulassung soll das Vergabesystem nach NC vor allem verhindern, dass durch Mehrfachzulassungen Studienplätze blockiert werden oder unbesetzt bleiben. Da der NC so hoch ist, sind die Umstände jedoch nicht fair. Hinzu kommt die Abschaffung der Wartesemester. Kratzer vergleicht das System mit der Aufnahme zum Hebammenstudium, welches mit Eignungstest und Interview abläuft, worüber sie positiv berichtet. Sie betont den Fokus auf Inhalte und Persönlichkeit bei diesem Bewerbungsverfahren.
Seit etwa 50 Jahren hat der NC Priorität: „Es sorgte für Chancengerechtigkeit und Rechtssicherheit bei der bundesweiten Vergabe von knappen Studienplätzen“, betont die Stiftung für Hochschulzulassung „hochschulstart.de“. Anders sieht das Pedram Emami, Kammerpräsident der Ärztekammer Hamburg: Denn mit dem Wegfall der Wartezeit stünden die Noten noch mehr im Vordergrund.
Doch es gibt noch einen weiteren guten Grund, warum der ausschließliche NC-Fokus problematisch ist: Die fehlende Chancengerechtigkeit. Denn oft läuft es auch so wie bei Kratzers Kommilitonin Dalma Otterbein.
Otterbein, die ursprünglich aus Ungarn kommt, wollte schon immer Ärztin werden. „Will ich denn nochmal Medizin studieren oder nicht?“, fragt sich die 23-Jährige. Denn sie hat das Gefühl versagt zu haben. Es sei schwierig loszulassen, verrät sie.
Die 23-Jährige machte 2018 nach ihrem Abitur einen Freiwilligendienst in der Notaufnahme in einem Krankenhaus in Israel. Sie bewarb sich bis 2022 in Deutschland und machte mehrere Aufnahmetests in Wien. In Österreich sind die Abiturnoten weniger relevant für die Auswahl, da die Studienplätze über standardisierte Medizinertests vergeben werden. Trotz einer deutschen Abiturnote von 1,7 blieb dieser Weg für sie erfolgslos. Die Studentin legt Wert auf Sozialkompetenz, die ihrer Meinung nach von den Universtäten nicht vernachlässigt werden solle.
Zu hohe Semestergebühren in Ungarn
Ein Medizinstudium an einer Privatuniversität kommt für Otterbein finanziell nicht in Frage. Und auch die Semestergebühren in Ungarn seien zu hoch. Jährlich steigt die Anzahl der Medizinstudierenden laut Statistischem Bundesamt – trotzdem sieht Otterbein keine Chancengerechtigkeit. Bildung sei ein Privileg: Es brauche ein starkes finanzielles Rückgrat, das einen wieder auffange, erklärt Otterbein. Auch Kammerpräsident Emami klagt an, dass „soft skills“ und Motivation bei der Bewerbung bisher kaum eine Rolle spielten. Entscheidend seien die soziale Herkunft und der ökonomische „Background“ des Elternhauses, ob man zum Studium zugelassen werde. „Deswegen wäre es aus meiner Sicht entscheidend, dass diese Faktoren bei der Auswahl so gewichtet werden, dass wir hier zu mehr Gerechtigkeit kommen“, betont Emami.
Personalmangel an Ärzt:innen
Gleichzeitig herrsche in ländlichen Regionen ein „echter Mangel“ an Ärzt:innen, berichtet Emami. In Hamburg steige die Anzahl an Ärzt:innen seit Jahren zwar kontinuierlich, dennoch gebe es punktuelle Engpässe: „Etwa weil mehr Ärzt:innen in Teilzeit arbeiten als früher“, sagt Emami. „Grundsätzlich gibt es einen großen Bedarf nach Studienplätzen, einen großen Bedarf an Absolventen des Studiums Humanmedizin und generell einen Mangel an ärztlicher Arbeitszeit“, betont Samir Rabbata, Sprecher der Bundesärztekammer.
Es müsse bereits in der Schule dafür gesorgt werden, dass Schüler:innen aus benachteiligten Verhältnissen die gleichen Chancen auf Bildung haben, wie Schüler:innen aus gutsituierten Familien, kommentiert Emami: „Auch da haben wir in Deutschland nach wie vor viel Nachholbedarf.“
/*! elementor – v3.17.0 – 08-11-2023 */
.elementor-widget-image{text-align:center}.elementor-widget-image a{display:inline-block}.elementor-widget-image a img[src$=“.svg“]{width:48px}.elementor-widget-image img{vertical-align:middle;display:inline-block}

Aussicht auf Besserung? – Forderung nach 5000 neuen Studienplätzen
Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt fordert 5000 neue Studienplätze in der Humanmedizin: Es sei ambitioniert, aber machbar, betont er. Das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage zwinge viele junge Menschen in Deutschland, im Ausland zu studieren.
In der Praxis wie am Serien-Set?
Und in der Medizin? Fühlt man sich wirklich wie am Serien-Set? Um das herauszufinden, schlägt auch Kratzer vor, ein längeres Vorpraktikum zu machen oder ein verpflichtendes Freiwilligendienstjahr einzuführen. Um zu sehen, „dass es nicht ‚Grey’s Anatomy‘ ist, sondern das wahre Leben“, sagt Kratzer.
„Meine Kolleginnen in Israel haben immer gesagt, dass es eigentlich ein sehr undankbarer Job ist“, berichtet auch Otterbein. Das Leben wie in dem TV-Drama ist für die Studentinnen nicht mehr erstrebenswert – denn inzwischen sind beide sehr zufrieden mit ihrer Zukunft als Hebammen.
