Fokus Gesundheitssystem: Erfahrungen, Eindrücke, Geschichten

Erfahrungsbericht, ärztliches Beratungsgespräch, Beratung, Pille, Frauenarzt, Gynäkologe, Bodyshaming, Fokus Gesundheitssystem, Studierende und Gesundheitssystem, Erfahrung mit Ärzt:innen, Erfahrung mit Therapeut:innen, Kopfzeile Ein anonymer Erfahrungsbericht über den ersten Termin bei einer Gynäkologin – und deren unangemessenen Kommentare. (Foto: Karolina Grabowska / Pexels)

Im Gespräch stellten wir fest, dass viele Studierende, aber auch Bekannte und Familienmitglieder, schon einmal schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht haben. In dieser Serie wollen wir versuchen, insbesondere Studierenden einen Raum für ihre Erfahrungen zu geben, sie zu teilen und zu verarbeiten. In den Berichten geht es um Diagnosen und Gespräche mit Ärzten*Ärztinnen oder auch Therapeuten*Therapeutinnen und sollen zum Nachdenken über unser Gesundheitssystem anregen. Die Redaktion versucht dabei immer Hintergrundinformationen zu den verschiedenen Themen zu liefern, die die Erfahrungen am Ende jedes Berichtes in einen Bezug setzen. Positive wie negative Erfahrungen sind willkommen!

I

„Das eingehende therapeutische Gespräch“

Ein persönlicher Erfahrungsbericht von Anonym

Ich stehe vor der weißen Tür im sterilen Treppenhaus und atme tief durch. Ich wische mir ein letztes Mal die schwitzigen Hände an der Hose ab und drücke die Tür auf. Es summt, mir steigt der Geruch von Desinfektionsmittel sogar durch die FFP2 Maske in die Nase. Ich stelle mich an die Rezeption und warte einige Minuten, bis jemand entscheidet, jetzt Zeit für mich zu haben.

Ich sage, dass ich jetzt einen Termin habe und soll Namen und Geburtsdatum nennen.

„Immer noch privatversichert?“

„Über meine Mutter, ja.“

„Dann nimm einen Moment Platz.“

Ich setze mich ins kleine Wartezimmer, möglichst weit weg von dem älteren Herren in der einen Ecke und der Mutter mit Kind in der anderen. Sollte ich meine Jacke ausziehen? Lohnt sich das? Hänge ich sie an die Garderobe? Was, wenn sie nicht mehr da ist, wenn ich zurückkomme?

Ich fange an, meine Wertsachen im Rucksack zu verstauen. Mir ist sehr heiß, als ich endlich die Jacke weghänge, der graue Teppich scheint vor meinen Augen ins Schwimmen zu geraten.

Ich schaue hoch und merke, dass die Wände langsam, aber sicher auf mich zukommen.

Fuck. Nicht jetzt.

Ich schlucke, versuche meinen starken Puls einfach herunterzuschlucken. Die Luft, die ich versuche unauffällig und geräuschlos einzusaugen, will nicht bis in meine Lungen kommen. Ich fühle mich beobachtet, möchte wieder rausrennen. Möchte nicht, dass die anderen Wartenden sehen, wie sich die ersten Tränen in meinen Augen sammeln, weil ich immer noch keine Luft bekomme. Dabei schaut niemand überhaupt hoch.

Immer wenn ich die Panik anrollen spüre, ist das Schlimmste daran, unter Leuten zu sein; unter Fremden. Das Gefühl zu haben, dabei ertappt zu werden, nicht normal zu funktionieren. Meine Panik hat nur die fiese Angewohnheit eben dann zu kommen, wenn ich mich nicht wohl fühle; unter fremden Leuten bin. Mir schon irgendwo im Hinterkopf selbst sage, dass es wieder passieren wird, dass etwas nicht mit mir stimmt. Dass ich der größte Freak der Welt bin.

Jetzt nicht sowas denken. Alles gut. Ganz ruhig, wir schaffen das, wir kennen dieses Spiel. Ich schließe die Augen und zähle meine Atemzüge. Dabei tippe ich mir bei jeder Zahl aufs Handgelenk. Ganz langsam kann ich wieder normal atmen. 54. 55. 56… Das schlimmste konnte ich verhindern, wirklich beruhigen kann ich mich dafür nicht.

Eine Stimme reißt mich aus meinem Zählen. Ich soll ihr folgen, der Stimme, deren Ursprung ich nicht richtig erkennen kann, weil sich alles dreht. Beim Hinausgehen erkenne ich dann nur die empörten Gesichter meiner Mitwartenden. Sie werfen sich einen grimmigen Blick zu: Sie ist doch nach uns gekommen.

Ich schaue schnell weg, laufe dem verschwommenen, weißen Kittel hinterher, den Flur entlang. Ich frage mich, wie lange sie da schon sitzen, wann wohl bei ihnen jemand entscheidet, jetzt Zeit für sie zu haben.

Ich werde ins Arztzimmer gelotst, wo ich mich wackelig auf den Stuhl setze. Meine Beine habe ich das letzte Mal im Wartezimmer gespürt. Der Arzt klickt auf seinem Computer rum. Er runzelt die Stirn, kneift die Augen zusammen. Das grelle Licht spiegelt sich in seiner Glatze. Wenigstens kann ich wieder klarsehen, auch wenn alles ein bisschen hin und her flackert.

„So, wieso sind Sie denn heute hier?“ Der Arzt dreht sich zu mir und faltet die Hände auf dem Tisch.

Ich versuche den Mund aufzumachen, aber mein Kiefer ist zusammengewachsen. Ich starre ihm ins Gesicht, er sieht irritiert aus. Ich schlucke.

„Ich… also, es geht mir in letzter Zeit… nicht so gut. Mir ist fast immer schlecht.“

„Aha?“

„Also, eigentlich glaube ich, es ist eher… so psychisch.“

„…“

„Ich glaube, am ehesten kommt der Begriff ‚Panikattacken‘ ran.“ Mir wird wieder sehr, sehr heiß.

„Hmm.“

„Das geht schon ziemlich lange so. Aber ich dachte, ich lass mal abklären, ob ich doch irgendwie krank bin.“

„Joa, also das klingt für mich auch nach der Psyche.“

„Ja.“ Meine Ohren pochen.

„Also, ich kann Sie ja mal ein Blutbild machen lassen. Da checken wir mal alles durch. Sie sind noch privatversichert?“

„Ja.“

„Gut.“ Er tippt eifrig an seinem Computer rum, ich tippe mir nervös auf dem Handgelenk rum. „Gut, also dann gehen Sie gleich mal hinter ins Labor und lassen sich Blut abnehmen. Wird aber sicher nichts sein.“ Ich merke, dass das Gespräch hier für ihn beendet ist.

„Ähm… okay. Ja, also wenn Sie auch glauben, dass es die Psyche ist…? Was soll ich denn dann machen?“

„Also das ist nicht mein Bereich. Da kann ich Ihnen jetzt nicht helfen, das hat ja nichts mit meinem Gebiet zu tun.“

„Okay… Aber wo kann ich mich denn hinwenden? Kennen Sie… irgendwen?“

„Wie gesagt, das ist nicht mein Bereich. Und ich kann Ihnen da auch nicht helfen, da jetzt schneller an einen Termin ranzukommen.“ Jetzt klingt er genervt. Ich runzle die Stirn.

„Nein — das meinte ich nicht —“ Jetzt kommen die Wände wieder von allen Seiten auf mich zu.

Na toll. Hoffentlich zerquetschen sie wenigstens neben mir auch diesen blöden Glatzkopf.

Aber es passiert nichts. Es geht nur das Tippen an der Tastatur wieder los. Ich stehe auf und verlasse das Zimmer. Alles flackert.

„Alles Gute Ihnen!“, kommt es noch vom Schreibtisch. Ja, danke. Wenn ich nur wüsste, wo ich dieses „Gute“ herbekomme.

Ein paar Tage später komm ich mit nasser Jacke, schlammigen Schuhen und schwerem Rucksack in mein Treppenhaus. Ich schaue in den Briefkasten und nehme die Umschläge heraus. Auf dem Weg hoch in den fünften Stock sehe ich die Briefe durch, weil ich es nicht mehr tun werde, wenn ich es nicht sofort mache. Werbung, Unisachen. Ein Dokument, das ich für meinen Minijob beantragt hatte. Oben angekommen schließe ich die Wohnung auf und öffne den letzten Brief.

Ärztliche Liquidation.

Anschrift, Rechnungsnummer, dieser Kram.

Dann:

Diagnose: Panikattacken.

Wow, danke dafür. Diese „Diagnose“ hab‘ ich ihm doch genannt?

Weiter unten der Rechnungsbetrag, mehrstellig.

Daneben die Erläuterung; die Leistung, die den Betrag ausmacht.

Eingehendes therapeutisches Gespräch.

Ich stehe in meinem Flur, in Jacke und Schal und Schuhen, in einer kleinen schlammigen Pfütze, und muss lachen. Ich schaue auf den Brief in meiner Hand und lache über diese Dreistigkeit.

Ich lache, bis die Wut nachlässt. Ist aber bisher nicht passiert.

Anmerkung der Redaktion: Hintergründe zum Erfahrungsbericht

In diesem Beitrag wird aufgrund der besseren Lesbarkeit und der zum Gendern ungünstigen Grammatik der Berufsbezeichnung “Arzt“ nicht gegendert, wobei aber alle Geschlechter und Identifikationen selbstverständlich gemeint und miteingeschlossen sind.

Durch das Kassensystem in Deutschland genießen Privatversicherte Privilegien in Bezug auf beispielsweise Wartezeit und Behandlung. Allerdings wird hier auch anders abgerechnet als bei gesetzlich Versicherten. Ärzte erhalten in Deutschland für die Behandlung von Privatpatienten höhere Honorare als für die Behandlung von gesetzlich Versicherten. Ein niedergelassener Arzt bekommt für einen gesetzlich versicherten Patienten eine begrenzte Pauschale für den spezifischen Fall und Zahlungen für Einzelleistungen, die ebenfalls gedeckelt sind. Er wird also nicht nach Stunden bezahlt. Sobald er das Budget für gesetzlich Versicherte ausgeschöpft hat, ist alle Arbeit, die darüber hinaus geht, „für lau“. Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mündet dies darin, dass bis zu 15 Prozent aller erbrachten Behandlungen für den Arzt unvergütet bleiben. Der Verband der niedergelassenen Ärzte spricht derweil sogar davon, dass knapp 20 Prozent aller ärztlichen Leistungen durch gesetzliche Kassen nicht bezahlt werden.

Allein dieses System kann also sehr frustrierend sein und es für Ärzte attraktiv machen, eine Art Verlustausgleich anzustreben. Bei Privatversicherten gibt es keine Begrenzung und zudem ist die Bezahlung allgemein besser. So kann ein Hausarzt schon mit einem Anteil von bis zu 20 Prozent Privatpatienten im Jahr durchschnittlich 20.000 Euro mehr einnehmen, Fachärzte je nach Richtung bis zu 60.000 Euro. Laut der Hans-Böckler-Stiftung erhielten Ärzte für dieselbe Behandlung im Schnitt mehr als doppelt so viel, wenn es sich um Privatversicherte handelte, wie für die gesetzlich Versicherter. Natürlich sind diese Zahlen variabel je nach Arzt, Fachrichtung und Region. Dennoch wird deutlich, dass Ärzte einen Anreiz haben können, Privatversicherte vorzuziehen, anders zu behandeln und auch anders abzurechnen.

Auf der einen Seite kann dies Vorteile für Privatversicherte haben, da niedergelassenen Ärzte eher alle möglichen Untersuchungen und Therapieansätze ausschöpfen, bevor sie etwa an das Krankenhaus verweisen. Umgedreht kann dies jedoch auch zu mehr Verschreibungen und unnötigen Behandlungen führen.

Ärzte haben oft ein überdurchschnittliches Gehalt, weshalb es vielleicht zunächst übertrieben erscheint, nochmal extra abzurechnen oder überhaupt Verluste durch Kassenpatienten ausgleichen zu müssen. Dabei wird allerdings oft die Selbstständigkeit der Ärzte vergessen. Für Mieten und Gehälter für beispielsweise Arzthelfer fällt oft schon rund die Hälfte des Ertrages weg. Obwohl dann immer noch eine gute Summe übrigbleibt, fallen daraufhin nicht nur Kosten für teure Geräte an, sondern auch die üblichen Versicherungskosten und Rücklagen, die für eine abgesicherte Selbstständigkeit notwendig sind. Obendrauf kommen auch Rücklagen für die sogenannten Regresszahlungen. Eine Kommission überprüft, ob ein Arzt „zu viel“ verschrieben hat und somit unwirtschaftlich gehandelt hat. Wenn ja, muss der Arzt große Summen an Regresszahlungen nachzahlen.

Es gibt leider keine genauen Zahlen darüber, ob Ärzte auf Privatpatienten angewiesen sind, um ihre Kosten und Gehälter zu decken. Dennoch scheint dies durch die Budgetierung für manche Ärzte durchaus real zu sein und der Wegfall von Privatpatienten könnte laut einer Studie der PKVs existenzbedrohend sein. Letztendlich setzt das System von Anfang an Anreize, bei Privatpatienten großzügiger abzurechnen.

Der Verband der niedergelassenen Ärzte fordert als Lösung eine Einzelleistungsvergütung, in der klar aufgestellt wird, was erbracht wurde und genau dies auch bezahlt wird. Patienten erhielten dadurch eine klare, transparente Übersicht über erbrachte Leistungen und Ärzte hätten wieder stärkere Anreize, angemessene und individuell abgestimmte Leistungen zu erbringen. Überweisungen würden sich reduzieren und damit auch der Termindruck. Das sollte allerdings für alle Kassen gelten. Denn: reduziert sich der Druck, der durch die gesetzlichen Krankenversicherungen aufgebaut wird – mithilfe einer Verbesserung des Abrechnungssystems – dann bliebe möglicherweise auch eine Mehrbelastung der privaten Krankenversicherungen aus.

Eine 2020 veröffentlichte, repräsentative Studie des unabhängigen Berliner Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und Gesundheitsfragen (IGES Institut) kritisierte hingegen das duale System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung in Deutschland generell. Dies sei das einzige so in Europa existierende System. Wären alle Bürger gesetzlich krankenversichert, könnten die Beiträge deutlich sinken, heißt es in dem Papier. Gäbe es nur eine Krankenkasse für alle, könnten sich eventuell durchaus neue Probleme ergeben, aber Privatpatienten, die besonders gerne zur Kasse gebeten werden, gäbe es dann nicht mehr.

Übrigens:  Die Ipsos Global Advisor-Studie »Attitudes to mental health around the world« von 2019 fand heraus, dass 84 Prozent der Deutschen ihre geistige Gesundheit für genauso wichtig wie ihr körperliches Wohlbefinden halten. Doch auf der anderen Seite hätten weniger als vier von zehn der Befragten den Eindruck, dass das derzeitige Gesundheitssystem psychischen Erkrankungen denselben Stellenwert einräume wie körperlichen Beschwerden. 39 Prozent der Befragten denken sogar, dass die körperliche Verfassung der Patienten vom Gesundheitswesen grundsätzlich als wichtiger betrachtet werde als die Psyche – fälschlicherweise. Denn aktuelle Analysen des RKI zeigen, dass leichte bis schwere Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit in Deutschland weit verbreitet sind. Diese haben nicht nur erhebliche individuelle und gesellschaftliche Folgen, sie beeinflussen auch die körperliche Gesundheit und das Gesundheitsverhalten. Besonders häufig sind Depressionen, Angststörungen, Suchterkrankungen und Demenzerkrankungen. Ärzte stellen meist die Erstdiagnose und sind für eine Überweisung an die Psychotherapie verantwortlich. Daher sollten sie die Relevanz dieser Erkrankungen und das Leid der Betroffenen besonders würdigen. Gerade Erstversorger können auch selbst einen kleinen Beitrag leisten, wenn Sie mit Betroffenen sprechen. Das Zentralinstitut für seelische Gesundheit (ZI) zählt in der psychiatrischen Forschung zu den führenden Einrichtungen Europas und hat das Programm MHFA (Mental Health First Aid) in Deutschland eingeführt. Hier kann jeder in kurzen und einfach aufgebauten Kursen lernen, Erste Hilfe für psychische Gesundheit zu leisten. Unabhängig von den Kursen erklären aber auch simple Guidelines von MHFA, wie ein sinnvoller Umgang mit den verschiedenen psychischen Erkrankungen aussehen kann. Langfristig möchte MHFA Erste Hilfe für psychische Gesundheit genauso normalisieren wie die Erste-Hilfe-Leistung für körperliche Gesundheit. Menschen mit beginnender oder sich verschlechternder psychischer Störung sollten schneller effektive Unterstützung erhalten, da professionelle Hilfe aufgrund der langen Wartezeiten für Therapieplätze zunächst oft nicht verfügbar ist. Diese Wartezeiten betragen laut Studien nämlich satte 3 bis 9 Monate. Laut MHFA könnten nicht nur Angehörige, sondern gerade Bildungseinrichtungen, Betriebe, medizinische Erstversorger und viele andere Organisationen von solchen Erste-Hilfe-Kursen profitieren. Aber selbst wenn man trotz der Wichtigkeit keinen solchen Kurs selbst machen möchte oder die Guidelines der MHFA nicht durchlesen will – auf diverse Erste-Hilfe-Programme wie die Telefonseelsorge, die  Deutsche Depressionshilfe oder den Kummerkasten-Chat kann man immer hinweisen, selbst wenn man selbst keine Therapie leisten kann.