„Manchmal glaub ich, jedes Flugzeug, das ich sehe, existiert überhaupt nur, um mich daran zu erinnern, dass ich einer der unbedeutendsten Menschen der Welt bin.“, sagt Christin im Roman „Niemand ist bei den Kälbern“ von Alina Herbing. Sie hat das Gefühl, jemand klammere sich fest um ihren Hals und glaubt zu ersticken. Oder sie versucht, nicht zu weinen. Oder beides. Das Buch wurde so gut verfilmt, dass der Druck auf Christins Luftröhre spürbar und gleichzeitig immer unvorstellbarer wird.„Niemand ist bei den Kälbern“ wurde auf dem Hamburger Filmfest als beste deutsche Kinoproduktion ausgezeichnet. Ab dem 20. Januar ist der Film in den Kinos zu sehen.
Unfreiwillige Einsamkeit
In dem Film von Sabrina Sarabi sehen wir zuallererst Christin und ihren Freund Jan (Rick Okon). Als sie ein totes Rehkitz finden und auch noch der Traktor den Geist aufgibt, geht Jan los und befiehlt Christin, dort zu bleiben. Sie aber trampt für einen Tag nach Hamburg. Dabei setzt sie sich bewusst Gefahren aus, fährt im Auto eines fremden Mannes (Godehard Gise) mit, schläft dort ein und landet nachts auf einer verlassenen Tankstelle. Als sie wieder in ihrem Heimatort Schattin – der Name spricht für sich selbst – ankommt, lügt sie darüber, wo sie gewesen ist. Von da an beginnt Christin, sich und ihre Umgebung mehr und mehr zu sabotieren.
Sie verfüttert Rattengift an den Haushund, belügt ihre Mitmenschen und ernährt sich nur von Limonade und Hochprozentigem. Sie geht ein Verhältnis mit diesem wildfremden Mann ein. Bald erkennt man: Die Einsamkeit, in der Christin aufgewachsen ist, tilgt nach und nach alles, woran sie Freude finden kann. Saskia Rosendahl spielt Christins gequältes und künstliches Lächeln unfassbar gut, die bedrohliche Atmosphäre, die die Geschichte begleitet, ist kaum auszuhalten und beinahe unerträglich, wenn das Summen einer Fliege die Stille unterbricht.

Mehr Anti-Land geht nicht
Oft kommen beim Zuschauen Gedanken an den Tod auf, der die ganze Zeit spürbar ist. Nicht nur Christins Emotionen sterben nach und nach ab, man fürchtet auch um ihr Leben, jedes Mal, wenn sie betrunken am Steuer sitzt und plötzlich Gas gibt, wenn Jan sie schlägt, ihr betrunkener Vater sie beleidigt oder ein Dorfmitbewohner sichtlich mit dem Gedanken spielt, sie auf der Toilette zu vergewaltigen. Mehr ländliche Anti-Idylle geht jedenfalls nicht.
Christins Freund Jan ist von Anfang an unsympathisch. Während des Films zeigt sich aber, dass auch er in Schattin gefangen ist. Insgesamt bleibt aber immer die Angst vor den männlichen Figuren in „Niemand ist bei den Kälbern“. Sie alle strahlen Gefahr aus, ob alkoholisiert oder nicht. Man sieht: In Schattin herrscht noch immer eine patriarchale Kruste, die einer jungen Frau wie Christin zeigt, dass sie nichts zu sagen hat. Nicht in der Welt, sondern erst recht nicht in ihrer Heimat, in Schattin.

Am Ende ein Lächeln
Christin beginnt jedoch, sich zu wehren. Dabei ist sie viel zu weit von jeglichem Leben entfernt, geschweige denn kennt sie irgendwelche Idole, die ihr einen Weg der Emanzipation aufzeigen. Es ist von Anfang sie selbst, die langsam gegen ihre Fesseln aufbegehrt. Es handelt sich um puren Instinkt, um Überlebenswillen. Bevor sie einmal aus sich herauskommt und dem fremden Mann Klaus auf die Frage antwortet, was sie träumt, entgegnet sie erst einmal: „Is doch egal.“ So spricht ein junger Mensch, der glaubt, er sei nichts wert. Dem auch nie gezeigt wurde, wie es anders und besser geht. Aber am Ende von „Niemand ist bei den Kälbern“ sieht das Publikum doch ein leises Lächeln auf Christins Gesicht. Kaum merklich, aber es ist da.
Darsteller:innen | Saskia Rosendahl, Rick Okon, Godehard Gise |
Regie und Drehbuch | Sabrina Sarabi |
Buchvorlage | Alina Herbing |
Kinostart | 20. Januar 2022 |