Unser Wald stirbt nicht

Die heißen Sommer der vergangenen Jahre forderten unsere Wälder.

Nicht nur der Wald kämpft mit steigenden Temperaturen und trockenen Sommern. Auch die Förster versuchen die Wälder für den Klimawandel fit zu machen. Der Schwabe Michael Nill ist einer davon – und hat den Kampf noch nicht aufgegeben.

Michael Nill streicht sachte über die blau-grünen Nadeln des Neuzugangs. „Der geht’s gut, die kommt durch“, befindet er und betrachtet die Atlaszeder zufrieden. Der Ludwigsburger Forstamtsleiter geht aus der Hocke und stapft durch die nasse Waldwiese im Pulverdinger Holz. „Keine Sorge“, sagt er und lächelt zuversichtlich, „bald ist das auch für den Spaziergänger wieder echter Wald“. In fünf bis acht Jahren werden ihn die neu gepflanzten Jungbäume locker überragen.

Seit den Rekordsommern der vergangenen beiden Jahre ist der Wald zum Politikum geworden. Experten und Umweltschützer sehen schwarz und sprechen vom größten Waldsterben seit den 1980er Jahren. Nill findet das hysterisch und falsch. Der Schwabe zeigt auf die gut zwei Fußballfelder große Fläche voller Jungbäume, etwa eine halbe Autostunde nördlich von Stuttgart. Unser Wald: ewiger Sehnsuchtsort und neuerdings Klimaretter. Stirbt er etwa doch nicht?

Das Pulverdinger Holz bei Stuttgart: Sehnsuchtsort und Klimaretter.

Ein kerniges „Grüß Gott“ schallt Nill an der ersten Station seines Waldrundgangs in der Nähe von Vaihingen an der Enz entgegen. Das Gebiet um den Parkplatz zwischen Hochdorf und Pulverdingen ist ein beliebtes Freizeitrevier, auch für die flotten Nordic-Walking-Senioren, die an diesem milden Januarmorgen aus dem kahlen Wald marschieren spazieren. Nill zeigt auf einen vermoosten Baumstumpf. „Der hätte nicht mehr lange gestanden“, kommentiert er und runzelt die Stirn. Ein Schädling hat den mit schwarzen Pilzsporen übersäten Stamm von innen ausgehöhlt. „Der Trockenstress hat ihm dann das Genick gebrochen.“ Im vergangenen September musste der Baum gefällt werden. Das gleiche Schicksal ereilte fast alle Bergahorne, Roteichen, Buchen und Eschen in dem Waldstreifen gleich neben der Straße. „Verkehrssicherungsmaßnahme“, heißt das im Beamtensprech. Um Nill häufen sich aufeinander gestapelte Stämme und verlottertes Geäst. Schnell ist klar, was gemeint ist, wenn er sagt, die Waldarbeiter seien in dem Stück „ausgerastet“.

Neue Bäume braucht das Land

Viele Bäume im Pulverdinger Holz haben die Hitze und Trockenheit der vergangenen beiden Jahre nicht überlebt. Einzelne Obelisken aus Totholz ragen wie Mahnmale in den Himmel. Die Sommer waren auch hier die zweit- und drittwärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen. „Wenn sich das fortsetzt, wird mir Angst und Bange“, sorgt sich Johannes Enssle. Der Landesvorsitzende des Naturschutzbundes (Nabu) verweist auf den aktuellen Waldzustandsbericht der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA). Die Experten der Landesbehörde bezeichnen 43 Prozent der Waldfläche in Baden-Württemberg als deutlich geschädigt. 53 Millionen Euro sieht der neue Notfallplan der Landesregierung jährlich für Wiederbewaldung vor. „Und das sind erst die Vorwehen des Klimawandels“, warnt Enssle.

Auf seiner Runde hat Nill mittlerweile die Bundesstraße überquert und steht am anderen Ende des Waldes. Der promovierte Wissenschaftler sagt: „Wer den Wald klimafit machen will, kommt nicht um neue Baumarten herum.“ Deswegen hat die FVA in einem Pilotprojekt tausende Samen aus der Türkei, Marokko, Nordamerika und dem Libanon auf der Fläche im Pulverdinger Holz gepflanzt. Sonst in nordafrikanischen Gebirgszügen beheimatet, könnte beispielsweise die Atlaszeder dank ihrer Hitze- und Kältetoleranz bald eine Rolle spielen. Und den ersten Härtetest haben die Neuzugänge bereits bestanden. Obgleich in staubtrockenen Boden eingesetzt, überlebten fast alle Setzlinge. Eingerahmt wird das neu bepflanzte Feld von dezimierten Reihen der lokalen Baumarten – fast scheint es, als schauten sie dem fremden Nachwuchs neidisch beim Großwerden zu.

Gesucht: Klimafeste Lokalmatadoren

Knapp eine Autostunde südlich von Pulverdingen steht Rainer Wagelaar vor seinen Studierenden und vermittelt seine Sicht auf den deutschen Problemwald. Es sei eine falsche Vision, dass unsere Kinder einmal durch Zedernwälder laufen werden. Der Leiter des Studiengangs Forstwissenschaft an der Forsthochschule Rottenburg beschäftigt sich seit bald 50 Jahren mit dem Wald. Wagelaar setzt mehr auf heimische und standortangepasste Baumarten, die unter dem Schirm alter Bäume angepflanzt werden. Im Pulverdinger Holz hat man das auch im Blick: Nill klopft mit dem Fingerknöchel auf die Infotafel am Rande des Versuchsfelds. Die Forscher haben auch Samen von Traubeneiche und Hainbuche zwischen die ausländischen Alternativen gemischt. Beides sind solche Arten, wie Wagelaar sie sich wünscht: Weit verbreitet im Laubmischwald, robust gegen Trocken- und Hitzeperioden.

Zum Ende des Rundgangs möchte Nill noch etwas Grundsätzliches loswerden. Unter Forstleuten spreche derzeit niemand von einem zweiten Waldsterben. Wie schon in den 80er Jahren verursache der Begriff nur Hysterie und sei Panikmache. Auch Professor Wagelaar ist sich sicher: „Das Ökosystem Wald überlebt.“ Auf solche Aussagen reagiert Nabu-Landeschef Enssle dagegen zynisch. „Wir werden die Natur nicht kaputt kriegen“, sagt der Naturschützer lapidar, „aber der Wald in seiner jetzigen Form stirbt“. Es sei nicht Sinn und Zweck, Baumarten zu ersetzen. „Den Wald nicht als Holzacker sehen“, empfiehlt Enssle. Es sei wichtig, den Wald noch viel behutsamer zu bewirtschaften als das derzeit passiert.

Entschieden schüttelt Nill den Kopf. „In unserer Kulturlandschaft können wir die Natur nicht vollständig sich selbst überlassen.“ Das sei eine Utopie und  funktioniere nur über Jahrhunderte. Wenn die Natur des Waldes erhalten werden soll, müssen die Förster aktiv mithelfen. Nill  blickt auf das Meer kniehoher Jungbäume. „Es wird kein Waldsterben geben“, sagt er bestimmt und seine Augen leuchten: „Dafür sorgen wir.“