Bitterböser Humor, überraschende Twists und vergnügtes Gelächter: Die MINOTAUROS KOMPANIE, ein inklusives Profi-Theater aus Hamburg, begeisterte am 25. September mit der Premiere von „Pilks Irrenhaus“. Im Gespräch mit KOPFZEILE erzählen die Schauspieler:innen von ihrer Leidenschaft fürs Theater und warum die Arbeit bei der Kompanie für sie mehr als nur ein Job ist.
Von Lasse von Feder und Johanne Målin Bleck
Dass Jascha (32) an einem Abend Ende September vor über 100 Leuten auf der Bühne steht und zahlreiche Rollen verkörpert, hätte er sich noch Anfang dieses Jahres nicht ausmalen können. Vor ein paar Jahren erlitt er bei einem Verkehrsunfall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Die Folge: mehrere psychische Beeinträchtigungen, die es für ihn unmöglich machten, einen geeigneten Job auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu finden.
Menschen mit einer solchen psychischen Behinderung bleibt dann meist nur die Tätigkeit in einer der rund 700 Werkstätten in Deutschland, die speziell für Menschen mit Behinderung gedacht sind und ihnen das Recht auf Arbeit sichern sollen. Dort erledigen sie beispielsweise einfache handwerkliche Arbeiten wie das Montieren von Bauteilen oder das Verpacken von Produkten. Kritiker:innen werfen dem Werkstattsystem die Ausbeutung und die Abschottung von Menschen mit Behinderung vor. Auch Jascha landete zunächst im Rahmen eines Praktikums in einer Werkstatt.
Durch einen glücklichen Zufall stieß er aber im März 2025 auf eine inklusive Theater-Gruppe in Hamburg: die MINOTAUROS KOMPANIE. Seitdem ist das Schauspiel Jaschas große Leidenschaft und vor allem ein Ort, an dem er sich frei fühlt. „Während ich auf der Bühne stehe, merke ich nichts von meinen Beeinträchtigungen und bin ganz bei mir. Diese Freiheit spüre ich nur beim Schauspielern“, schwärmt der 32-Jährige. Zusammen mit den elf anderen Schauspieler:innen des Ensembles hat er seit April unermüdlich für das neue Stück der „Minotauren“ geübt.
Von Ohrwürmern, Hühnern und „Arschlöchern“: Premiere von „Pilks Irrenhaus“
„Pilks Irrenhaus“ basiert auf einem Stück des britischen Theaterregisseurs Ken Campbell und ist durchaus anspruchsvoll. Die zwölf Schauspieler:innen der MINOTAUROS KOMPANIE müssen während der insgesamt 16 Episoden immer wieder in neue Rollen schlüpfen, da die Szenen in sich geschlossene Geschichten erzählen. Am 25. September feierte die Kompanie die Premiere des Stücks in der Hochschule für Musik und Theater (HfMT). Die Aufführung war ein voller Erfolg: Vergnügtes Gelächter und tosender Applaus erfüllten den Saal in der HfMT.
In „Pilks Irrenhaus“ geht es um gewöhnliche Alltagssituationen, die ins Absurde kippen: Einer Frau wird beim Arzt ein „Ohrwurm“ diagnostiziert, was sowohl ihre Kopfschmerzen als auch die Musikschleife von „The Ketchup Song“ im Hintergrund erklärt. In einer anderen Szene verwandelt sich ein Sohn, dem seine Mutter ununterbrochen Unterhosen und Socken hinterherräumt, in ein Huhn und beginnt, Eier auf der Bühne zu legen. Ein anderer Mann verliert sich in endlosen Gedankenschleifen und verschwindet schließlich in seinem eigenen „Arschloch“.

So unterschiedlich die Episoden auch sind, verbindet sie ein roter Faden: das Absurde als Mittel, um Gewohntes zu überzeichnen. Das Tragische geht in diesen Szenen Hand in Hand mit dem Komischen – egal ob es um Themen wie Angst, Langeweile oder sogar Suizid geht. Schließlich thront über allem die Frage nach der Wirklichkeit: Was ist echt und was nicht?
Für Rüya (19) war es die erste große Produktion – entsprechend groß war ihre Aufregung vor der Premiere. Auf der Bühne verwandelte sich ihre Nervosität dann jedoch schnell in Euphorie: „Ich fand es total cool, vor so vielen Menschen auf der Bühne zu stehen, ich könnte das jeden Tag machen.“
Inklusion beginnt beim Stück: Warum ausgerechnet „Pilks Irrenhaus“?
Bei den Stücken, die die Kompanie aufführt, geht es auch immer darum, Bewusstsein für die Lebensrealitäten der Schauspieler:innen zu schaffen. Moritz Schilk (33), künstlerische Leitung der MINOTAUROS KOMPANIE, ist für die Produktionsleitung, Regie und Inspizienz des Stücks verantwortlich. Im Gespräch mit KOPFZEILE erklärt er, warum ausgerechnet „Pilks Irrenhaus“ vor über zwei Jahren als nächstes Stück für die Kompanie ausgewählt wurde: „Die Inhalte, die in dem Stück thematisiert werden – also: Was ist Wirklichkeit? Und was nicht? –, passen natürlich schon sehr zu den Beeinträchtigungen, zu den Lebensinhalten, die die einzelnen Mitglieder der Kompanie tagtäglich erleben.“
Schilk erklärt, dass die Schauspieler:innen auf diese Weise einen Bezug zu dem Stoff hätten und diesen auf eine besondere Art und Weise interpretieren könnten. Die Wahl des Stücks hat auch ganz pragmatische Gründe: Den meisten Schauspieler:innen fällt es leichter, kurze Szenen mit schnelleren Spannungsbögen zu spielen, als über mehrere Stunden hinweg eine einzige Rolle zu verkörpern.
Die „Minotauren“ gibt es bereits seit 1999. Was als inklusives Freizeit-Theaterprojekt in Hamburg startete, ist nun bereits seit 2010 ein professionelles Schauspielprojekt mit finanzierten Arbeitsplätzen. Seit 2015 gehört die MINOTAUROS KOMPANIE zur Elbe Werkstätten GmbH. Die Schauspieler:innen haben zumeist eine psychische Behinderung, also eine dauerhafte Einschränkung durch eine psychische Erkrankung wie zum Beispiel Schizophrenie, Zwangsstörungen oder Psychosen. Ziel der Kompanie ist es, dass die Schauspieler:innen „sich selbst wieder spüren“ und „positive Anteile ihrer Persönlichkeit gefördert werden“. Therapie durch Theater sozusagen. Auch wenn Schilk insistiert, dass die Arbeit bei der Kompanie keine Therapie ersetzen kann.
Die Tätigkeit in der Theaterkompanie gibt ihren Mitgliedern aber auch etwas, das viele Jobs im Werkstattsystem nicht bieten können: kreative Freiheit. Wenn Jascha auf der Bühne in einem seiner Monologe aufgeht, wirkt es, als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. In jeder einzelnen Szene merkt man, wie wichtig ihnen allen diese Freiheit ist. Inklusion wird im Ensemble vor allem als Recht auf kreative Teilhabe und Entfaltung gedacht.
Schilk: „Inklusives Theater verdient eine größere Öffentlichkeit“
Neben der Freiheit bietet die Kompanie den Schauspieler:innen außerdem noch etwas anderes: Gemeinschaft. René (25) bezeichnet seine Kolleg:innen sogar als „zweite Familie“. Mit diesem Gefühl steht er nicht allein – auch die anderen „Minotauren“ betonen immer wieder, wie wertvoll die Tagesstruktur, der Zusammenhalt und die Möglichkeit zur Selbstentfaltung für sie ist, die sie in der Arbeit bei der MINOTAUROS KOMPANIE finden.
Dennoch sind inklusive Profi-Theater in Deutschland noch immer eher rar gesät. „Das Wichtigste ist, dass die Gruppe – oder generell inklusives Theater – noch eine größere Öffentlichkeit bekommt“, sagt Moritz Schilk. „Weil es das verdient hat und weil sie Botschafter und Botschafterinnen für ganz viele Menschen sind.“ Und auch der unbändige Applaus und Jubel am Ende der Premiere sprechen dafür, dass inklusives Theater noch stärker in die Mitte unserer Gesellschaft rücken muss. Von den leuchtenden Gesichtern der Schauspieler:innen ganz zu schweigen.
Du hast Lust, in die absurde Welt von „Pilks Irrenhaus“ einzutauchen und die „Minotauren“ live zu erleben? Dann schau doch bei einer der drei Aufführungen im Oktober vorbei!
Termine: 24.10., 25.10., 26.10.
Location: Sprechwerk, Klaus-Groth-Str. 23, 20535 Hamburg
Ticketkauf: 22 € / Person (ermäßigt 13,90 €) – hier erhältlich
Barrierefreiheit: Rollstuhlplätze bei allen Vorstellungen in der ersten Reihe verfügbar; am 26.10. wird eine Audiodeskription des Stücks angeboten
