Machtmissbrauch in den Medien und anderswo

“Noch wach?” ist die Textnachricht, die “der Chefredakteur” mitten in der Nacht an junge Frauen aus seiner Redaktion schickt. Das Buch handelt vom #metoo Skandal im Springer Konzern und anderswo. Auch wenn Stuckrad-Barre durch kleine Änderungen eine fiktive Welt aufmacht, sind die Parallelen eindeutig. Er schreibt über den “Sender” und den “Chefredakteur”, um nicht “Die BILD” und Julian Reichelt sagen zu müssen. Stuckrad-Barre streitet die Parallelen teilweise ab, bestätigt sie anderswo und fasst es bei der Buchprämiere sehr passend zusammen: „Das könnte genauso in der AOK spielen. Es spielt dort auch. Ich kenn da nur Keinen.“

Das Buch: Worum geht es eigentlich?

Der Erzähler ist Schriftsteller und ehemaliger Mitarbeiter des Senders. Ihn verbindet eine enge Freundschaft mit dem CEO des Senders, die über die Geschichte hinweg immer mehr ins Wanken gerät. In einer Gruppe der Anonymen Alkoholikern lernt er zufällig eine junge Mitarbeiterin des Senders kennen: Sophia. Nach und nach entwickelt sich eine Freundschaft und damit vertraut sie sich ihm immer mehr an. Es geht um eine Affäre mit dem Chefredakteur, aus der sie jetzt nicht mehr herauskommt. Das Buch bearbeitet wie Sophia mit dem Fall umgeht. Am Anfang ist sie eine Frau, die die Welt um sich herum als gegeben annimmt, sich der Struktur beugt und diese gleichzeitig tatkräftig konstituiert. Es zeigt wie sie im Laufe der Geschichte die Ungerechtigkeit des Systems wahrnimmt und innerhalb des Senders betroffene Frauen aufsucht und vernetzt. Hauptansprechpartner ist dabei immer wieder der Erzähler, der nicht weiterweiß. Seine Freundschaft zum CEO zersetzt sich langsam, bis sie schließlich dramatisch endet. Am Ende: all der Aufwand, das Zuhören, Vernetzen, der Schritt an die Presse, ein Compliance Verfahren, um den Chefredakteur seiner Macht zu entziehen: erfolglos.

Das Buch lässt einen mit einem ganz klaren Gefühl zurück: egal was man macht, egal wie viele betroffen sind, egal wie klar der Fall ist, den Kampf gegen Machtmissbrauch gewinnt Keiner so ganz. Und damit gewinnen die Mächtigen. Die Geschichte ist wichtig. Ob sie von und aus der Perspektive eines weißen (mächtigen) Mannes erzählt werden muss, ist zweitrangig, weil Stuckrad-Barre es schafft eine Form der emotionalen Identifikation herzustellen, die stellenweise mitreißend ist. Der Protagonist fühlt mit und nimmt den Leser mit. Der Fall ist ausweglos. Auch, wenn sie von jemand außenstehenden erzählt wird, verliert diese Botschaft nicht an Kraft.

Noch wach? im Thalia Theater

Seit September 2023 wird der Stoff im Thalia Theater von Christopher Rüping inszeniert. Das Fazit nach dem Stück: Theater kann unterhaltsam sein. Theater darf unterhaltsam sein. Nach einigen etwas trockenen Inszenierungen klassischer Stücke, bin ich mit diesem Gefühl aus der Vorstellung gegangen. Auch, wenn das Stück wahrscheinlich mit 30 Minuten weniger ausgekommen wäre, waren es die Momente der musikalischen Einlagen und der dramatischen Regenfälle, die mich mitgenommen haben. Im Kern macht es Spaß sich das anzuschauen.

Das Bühnenbild soll an das Schloss von Dracula erinnern. Der CEO tritt ab und zu aus einem Sarg und Mitarbeitende des Senders tragen Fake-Vampirzähne. Das Kostüm besonders zum Schluss ist voller fantastischer Tierwesen. Das gibt Lacher, die mich aber eher mit einem komischen Gefühl zurücklassen. Selbstkritisch frage ich mich, ob ich die tieferen Ebenen nicht verstehe. Ich möchte unterhalten werden und trotzdem lenken diese Aspekte für mich mehr von der eigentlichen Botschaft ab.

Umso besser fand ich die Umsetzung der Schlagzeilen. Die ganze Geschichte wird begleitet von einer medialen Hetzjagd. Der Sender begleitet einen öffentlichen Beziehungskonflikt zwischen einem Fußballer und seiner Freundin, der mit dem Selbstmord der Frau endet. Die Schlagzeilen werden in Zwischenszenen vom Ensemble auf der Bühne an eine Wand gesprüht und mit einem Seilzug an der Fassade des Schlosses hochgezogen. Ohne es zu erklären, wird die Bedeutung durch die epische Inszenierung klar.

Der Erzähler wird von mehreren Schauspieler*innen gleichzeitig gespielt. Sein innerer Konflikt zwischen seinen moralischen Ansprüchen, seiner Freundschaft zum CEO und seinem Wissen um den Machtmissbrauch, wird zwischen den verschiedenen Menschen ausgetragen. Es wird damit gespielt, wer wann spricht. Ist es die weibliche Darstellerin oder doch ein Mann? Das Ensemble des Thalia Theaters wird dabei unterstützt durch Julia Riedler, die man auch aus Fernsehfilmen wie dem Tatort kennt, und die Musiker*innen Matze Pröllochs und Inéz.

Das #metoo nicht nur beim Fernsehen ein Thema ist, sondern auch bei der Institution, in der wir sitzen wird mit einer kleinen Spitze auch noch betont und bricht damit zumindest ein bisschen mit der Erzählung des Buchs. Naja, so läuft das halt beim „Theater … ähm Fernsehen“.

Obwohl sich die Inszenierung eng am Buch orientiert hat, ging der zentrale Aspekt für mich stellenweise verloren. Es ging um die Rolle des Erzählers in dem Fall. Es geht darum, dass der Chefredakteur am Ende noch eine Chance erhält. Wie sehr der Erzähler zum zentralen Ansprechpartner wird und wie ausweglos es ist, geht jedoch zwischen absurden Kostümen und Vampirzähnen stellenweise verloren.

Das Stück macht Spaß, die Schauspieler*innen sind toll, die Musik mitreißend. Doch ende ich mit dem abgenutzten Satz „Das Buch war besser.“

Für alle, deren Bücherstapel Wolkenkratzerhöhe haben, lohnt sich auf jeden Fall. Für Studierende kostet die Eintrittskarte 11 Euro (Jugendkarte).