Klimaschutz, Sicherheitspolitik und Migration: Alle diese Themen werden auf EU-Ebene verhandelt. Am 9. Juni können in Deutschland erstmals auch die unter 16-jährigen Bürger:innen bei der Wahl des EU-Parlaments über diese Zukunftsthemen mitbestimmen – schließlich werden Sie am stärksten davon betroffen sein. KOPFZEILE hat daher mit den Hamburger Spitzenkandidat:innen der großen demokratischen Parteien gesprochen und sie gefragt, wie ihre Zukunftsvision für Europa aussieht.
Den Anfang macht der Spitzenkandidat der Hamburger LINKEN, David Stoop. Mit ihm haben wir über die Ursachen des Rechtsrucks in Europa gesprochen, was das mit Unternehmenssteuern zu tun hat und warum die AfD bei jungen Menschen so beliebt ist.
David, wenn du dir eins aussuchen musst: welches Thema ist dir im Hinblick auf Europa aktuell am wichtigsten?
Als aktiver Gewerkschafter liegen mir die Themen Soziales und gute Arbeit am nächsten.
Was sind deiner Ansicht nach die Ursachen für die Ungleichheit in Europa?
Hauptursache ist meiner Meinung nach, die im Übrigen auch von Wissenschaftler:innen wie Thomas Piketty untermauert wird, dass die Einkünfte aus Dividenden und Konzerngewinnen im Vergleich zu den Einkünften aus Arbeit stärker steigen. Dies führt dazu, dass die Lohnquote in Europa sinkt. Dieser Trend wird durch die Entrechtung von Arbeit weiter verstärkt. Beispielsweise war Deutschland mit der Agenda-Politik hierbei Vorreiter. So wurde die Leiharbeit, sachgrundlose Befristungen und andere Formen der Entrechtung am Arbeitsplatz gefördert. Dies erschwert es Gewerkschaften, angemessene Abschlüsse für Arbeitnehmer:innen zu erzielen.
Selbst der Hamburger Milliardär Michael Kühne hat gesagt, dass das sehr unfair ist.
Zur Bekämpfung von Ungleichheit ist ein gerechtes Steuersystem sehr wichtig. Du forderst eine Mindestbesteuerung von Unternehmen in der EU von 25 Prozent. Die EU-Staaten haben sich Ende 2022 auf 15 Prozent geeinigt. Reicht das nicht?
Nein, ich denke nicht. Arbeitnehmer:innen zahlen auf ihre Einkünfte oft 30 Prozent Steuern und mehr. Es erscheint mir ungerecht, dass die größten Konzerne steuerlich derart bevorzugt werden. Eine der Hauptprobleme in Europa besteht darin, dass große Unternehmen Steuervermeidungsmodelle nutzen, die sogar von der Europäischen Union unterstützt werden. Ein extrem krasses Beispiel dafür ist Hapag-Lloyd in Hamburg, wo durch ein Steuerprivileg nur 0,6 Prozent Steuern auf ihre Gewinne gezahlt wurden. Selbst der Hamburger Milliardär Michael Kühne hat gesagt, dass das sehr unfair ist. Diese Ungerechtigkeit führt zu erheblichen Löchern im Haushalt der Stadt, während soziale Missstände wie überlaufene Tafeln und fehlende Erzieher:innen und Lehrer:innen zunehmen. Auch wenn Niedrigsteuerländer wie Irland und Ungarn sich querstellen könnten: Die EU muss über ihre zukünftige Richtung entscheiden. Soziale Spaltung und wirtschaftliche Benachteiligung sind ein großes Problem in der EU. Da braucht man sich auch nicht wundern, wenn die Rechten immer stärker werden.
Zum Thema der stärker werdenden Rechten: Die kürzlich erschienene Studie “Jugend in Deutschland” sieht die AfD als stärkste Kraft bei den unter 30-jährigen. Die Linke adressiert in ihrem Programm viele Probleme junger Menschen wie z.B. Armut und verliert trotzdem Stimmen bei der jungen Generation an den rechten Rand. Wie kann das sein?
Ja, eine extrem relevante Frage. Vielleicht gehe ich hier mit Klaus Dörre. Er hat das Phänomen des negativen Klassenbewusstseins beschrieben: Zwar ist ein Bewusstsein für soziale Probleme vorhanden, jedoch besteht keine Hoffnung auf positive Lösungen. Dies führt dazu, dass Menschen nicht zu den Linken gehen, die Lösungen anbieten, sondern zu den Rechten, die keine Lösungsmöglichkeiten sehen und stattdessen darauf setzen, „nach unten zu treten“. In der Präsentation von Lösungen haben wir in den letzten drei Jahren viele Fehler gemacht. In einer Zeit großer gesellschaftlicher Krisen, in der starke linke Antworten nötig gewesen wären, war die Linke durch interne Konflikte und Sahra Wagenknechts Projekt abgelenkt. Nun gibt es eine neu ausgerichtete Partei, die sich durch große Geschlossenheit in wichtigen Fragen auszeichnet. Ich bin zuversichtlich, dass wir mit unseren klaren Positionen, wie sie im Europawahlprogramm formuliert sind, die notwendige Alternative bieten können, die die Gesellschaft benötigt.
Der Linkskonservatismus von Wagenknecht ist zum Scheitern verurteilt.
Jetzt ist Sahra Wagenknecht ausgetreten und zahlreiche linke Aktivist:innen der Partei beigetreten, mit Carola Rackete sogar eine an der Spitze. Warum wurde sich für diese Strategie der Zusammenarbeit mit Aktivist:innen entschieden? Hat der Zulauf an Aktivist:innen Einfluss auf die Parteiausrichtung gehabt?
Zunächst war es bei großen Teilen der Partei Konsens, dass eine linke Partei auch eine Sammlungsbewegung für linke Bewegungen sein muss. Dies wurde durch den Streit mit dem Wagenknecht-Lager erschwert, die sich inzwischen deutlich von linken Positionen distanzieren. Der Linkskonservatismus von Wagenknecht ist zum Scheitern verurteilt, da er eine Rutschbahn nach rechts darstellt. Wir Linke positionieren uns klar solidarisch mit sozialen, ökologischen sowie Friedensbewegungen. Mit dem Austritt Wagenknechts ist es also endlich wieder möglich, sich auf die Kernthemen der Partei zu konzentrieren, die die Zusammenarbeit mit Aktivist:innen beinhaltet.
Eine Frage, die besonders unsere Community interessiert hat: Lokal konnten wir zuletzt an der Einführung der Bezahlkarte in Hamburg als erstes Bundesland für Geflüchtete die Verschärfung der Asylpolitik beobachten, auf europäischer Ebene hat z.B. GEAS, die neue Asylverordnung für Kritik gesorgt. Wie steht die LINKE dazu?
Es ist ein Skandal, dass in einer Europäischen Union, die sich auf Menschenrechte beruft, keine Seenotrettung existiert und Familien mit Kindern in Lagern an den EU-Außengrenzen untergebracht werden, wie wir es aus Moria kennen. Dies steht im Widerspruch zu den proklamierten Menschenrechtsidealen der EU. Eine breite Forderung nach der Wahrung der Menschenrechte ist erforderlich. Die Debatte um Obergrenzen für die Aufnahme von Geflüchteten, die von Teilen der CDU und der AfD vorangetrieben wird, ignoriert soziale Faktoren wie Wohnraum. In Hamburg wurden 2015 Kapazitäten geschaffen, um Geflüchtete aufzunehmen, die jedoch später wieder abgebaut wurden. Dieser vorsätzliche Engpass zeigt die mangelnden sozialen Investitionen, die besonders in Bereichen wie Schulen und Wohnungsmarkt spürbar sind. Es wird deutlich, dass Herausforderungen im sozialen Bereich bestehen, die unabhängig von der Migration angegangen werden müssen.
Welche Vorschläge zur Asyl- und Migrationspolitik habt ihr?
Soziale Problemlagen müssen direkt adressiert werden. Die Zuwanderung kann zwar kurzfristig bestehende Missstände verstärken, doch das eigentliche Problem sind die sozialen Missstände selbst. Es ist empirisch belegt, dass die Migration von 2015 zunächst Kosten verursachte, sich aber langfristig ökonomisch auszahlte, sobald die Migrant:innen arbeiteten. Trotz Fachkräftemangels werden erleichterte Arbeitsmarktzugänge für Geflüchtete oft blockiert – das ist ein Widerspruch. Mehr finanzielle Mittel und Personal sind nötig, um diese Anfangsinvestitionen zu ermöglichen und die unzureichende soziale Grundversorgung zu verbessern. Das Problem der Geflüchteten ist nur ein Teil eines größeren sozialen Problems, das angegangen werden muss, wie der hohe Bedarf an Sozialwohnungen in Hamburg zeigt. Dieses Problem besteht unabhängig von der Migration und erfordert dringend Lösungen.
Wenn wir einen Haushalt mit etwas weniger Schulden hinterlassen, dafür aber eine total zerstörte Umwelt und Wirtschaft, ist das wesentlich ungerechter, als wenn man bloß höhere Schulden, aber eine intakte Umwelt hinterlässt.
Wie kann auf europäischer Ebene ein Kampf gegen rechte und faschistische Parteien aussehen?
Der Kampf gegen Rechte und faschistische Parteien auf europäischer Ebene erfordert das Etablieren von Brandmauern, besonders auf parteipolitischer Ebene, um konservativ-rechtsextreme Regierungen zu verhindern. Wichtig ist, den Druck auf Parteien wie die CDU zu erhöhen, dem rechten Druck standzuhalten. Die Hauptursache für den Aufstieg der extremen Rechten, die soziale Ungleichheit, muss durch tiefgreifende soziale und ökonomische Reformen angegangen werden. Notwendig sind Investitionen in eine ökologische Transformation der Wirtschaft, die aktuell weder national noch auf EU-Ebene ausreichend getätigt werden. Stattdessen dominieren Rüstungsausgaben und die Aufrechterhaltung der Schuldenbremse, was langfristig zu einer Zerstörung der Umwelt und Wirtschaft führen kann. Wenn ich in Debatten höre, wir könnten im Namen der Generationengerechtigkeit keine Schulden hinterlassen, antworte ich immer folgendes: „Wenn wir einen Haushalt mit etwas weniger Schulden hinterlassen, dafür aber eine total zerstörte Umwelt und Wirtschaft, ist das wesentlich ungerechter, als wenn man bloß höhere Schulden, aber eine intakte Umwelt hinterlässt“.
Weil wir gerade schon kurz das Thema Sicherheitspolitik und Rüstungsausgaben angesprochen haben: Ihr fordert grundsätzlich den Stopp von Waffenlieferungen in Krisengebiete und Abrüstung. Russland will aber nicht verhandeln und so scheint eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikt momentan in weiter Ferne. Wie stellt ihr euch dann ein Ende des Ukraine-Kriegs vor?
Ich möchte auf keinen Fall in Abrede stellen, dass der aktuelle Krieg durch das imperiale Verhalten Putins ausgelöst wurde. Mich stört allerdings, dass keine ernsthaften Bemühungen unternommen wurden, durch Einbeziehung Chinas als Partner Russlands den Ukraine-Krieg über Verhandlungen zu beenden. Bisherige Bemühungen zur Eskalationsvermeidung waren unzureichend und eher von einer Eskalationsspirale geprägt. Es muss ein ernsthafter Versuch unternommen werden, dies durch Verhandlungen zu ändern. Eines ist dabei klar: Der aktuelle Aufrüstungskurs der Bundesregierung und der konservativen Opposition verschärft die soziale Spaltung in Deutschland, weil Gelder, die für den Sozialstaat und den ökologischen Umbau der Wirtschaft dringend benötigt werden, stattdessen für Panzer und Raketen ausgegeben werden. Globale Abrüstung mit gegenseitiger Rüstungskontrolle ist im Interesse aller Bevölkerungen. Die einzigen, die von Aufrüstung profitieren sind die Rüstungskonzerne.
Das Interview führten Lasse und Toni.
