Im Interview mit Freya Kerssenbrock (CDU)
Klimaschutz, Sicherheitspolitik und Migration: Alle diese Themen werden auf EU-Ebene verhandelt. Am 9. Juni können in Deutschland erstmals auch die unter 16-jährigen Bürger:innen bei der Wahl des EU-Parlaments über diese Zukunftsthemen mitbestimmen – schließlich werden Sie am stärksten von den Entscheidungen in diesen Politikfeldern betroffen sein. KOPFZEILE hat daher mit den Hamburger Spitzenkandidat:innen der großen demokratischen Parteien gesprochen und sie gefragt, wie ihre Zukunftsvision für Europa aussieht.
Mit Freya Kerssenbrock haben wir über europäische Sicherheit, den Aufstieg rechtsextremer Parteien und den Ausbau von Frontex gesprochen.
Welche Themen sind dir im Hinblick auf die Europawahl besonders wichtig?
Für mich sind die wichtigsten Themen die Außen- und Sicherheitspolitik. Außerdem haben wir immer noch das Einstimmigkeitsprinzip. Dies hat sich beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine als hinderlich erwiesen, weil Sanktionen einstimmig entschieden werden mussten. Es führt dazu, dass jemand wie Viktor Orbán ein Vetorecht hat und die gesamte EU blockieren kann. In einer Welt mit Mächten wie China und den USA ist es wichtig, dass wir Europäer ernst genommen werden und mit einer Stimme sprechen. Im Bereich Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind wir sehr auf den guten Willen der Amerikaner angewiesen. Wir müssen uns mit der Realität auseinandersetzen, dass die schützende Hand der USA möglicherweise nicht mehr so stabil ist. Wir müssen zu einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik kommen. Dazu gehören gemeinsame Rüstungs- und Ausbildungsprojekte. Unsere europäischen Verträge sind darüber hinaus noch auf dem Stand, als die EU zwölf Mitgliedstaaten hatte. Daher muss dringend eine Anpassung erfolgen, damit wir in der Außen- und Sicherheitspolitik mit einer Stimme sprechen können.
Eine Rückbesinnung auf Subsidiarität, die Beschränkung auf große Fragen und die Schaffung von Handlungsspielräumen in den Nationalstaaten könnte für junge Unternehmer viel bewirken.
Als Studierende stehen wir einer Vielzahl von Herausforderungen gegenüber. Steigende Lebenshaltungskosten, Studiengebühren, unsichere Berufsaussichten, Klimawandel. Welche konkreten Maßnahmen, die die Situation junger Menschen verbessern, strebst du an?
Ich strebe an, Teil einer Fraktion zu werden, die gemeinsame Verbesserungen beschließt. Die Europäische Union ist für Deutschland, besonders für junge Menschen, ein Erfolgsmodell. Wir haben Dienstleistungsfreiheit, Warenverkehrsfreiheit und die Möglichkeit, überall in Europa zu studieren und zu arbeiten. Aber der europäische Binnenmarkt ist noch nicht vollendet. Trotz Arbeitnehmerfreizügigkeit ist es nicht einfach, im europäischen Ausland Arbeit zu finden. Die Bürokratie der EU führt zu großen Belastungen für Unternehmen und hemmt Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt. Als Richterin erlebe ich oft, wie kompliziert EU-Rechtssetzungsakten sind und wie sie Unternehmen und Start-ups hemmen. Diese Komplexität baut große Hemmschwellen auf, besonders für Studierende, die Start-ups gründen wollen, oder junge Unternehmen, die junge Leute einstellen möchten. Eine Rückbesinnung auf Subsidiarität, die Beschränkung auf große Fragen und die Schaffung von Handlungsspielräumen in den Nationalstaaten könnte für junge Unternehmer viel bewirken. Dazu gehören der Bürokratieabbau und handhabbare Rechtssetzungsakte.
Auf der CDU-Seite zu deiner Person steht, dass der Kampf gegen den Klimawandel die Wirtschaftswelt stark verändert. Was genau ist damit gemeint?
Der Kampf gegen den Klimawandel ist ein Riesenprojekt und betrifft viele Bereiche auf europäischer Ebene: Verkehr, Industrie und Bürokratie. Welche Technologien wir fördern und welche nicht, betrifft die Landwirtschaft beispielsweise stark. Ein Konzept zu finden, ist nicht einfach, da es viele politische Bestrebungen gibt, die behaupten, man könne alles klar steuern.
Wir müssen uns einigen Wahrheiten stellen, besonders im Bereich der Energieversorgung.
Zum Beispiel müssen wir klären, wo wir noch nicht über die gewünschten Technologien verfügen, um grundlastfähige Energie zu erzeugen. Unser europaweites Stromnetz ist ebenfalls noch nicht optimal ausgebaut. Die CDU/CSU-Fraktion und die EVP setzen bei der Lösungssuche auf Technologieoffenheit. Statt klare Vorgaben zu machen, welche Technologien genutzt werden sollen, schaffen wir Marktbedingungen, die es europäischen Unternehmen ermöglichen, Innovation und Forschung voranzutreiben. Dadurch wollen wir wirtschaftlich nachhaltig dem Klimawandel begegnen.
Du meinst also, die aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels schränken Unternehmer:innen teilweise in ihrer Innovationsfähigkeit ein?
Teilweise ja. Ich glaube, man kann schlecht vorschreiben, bis wann bestimmte Technologien genutzt werden dürfen. Die CDU/CSU-Fraktion steht dem Verbrennerverbot zum Beispiel sehr kritisch gegenüber. Ich verstehe die Idee, nur noch saubere Autos auf den Straßen zu haben, und finde diese grundsätzlich gut. Allerdings ist die E-Auto-Technologie noch nicht weit genug entwickelt, und wir können nicht sicher voraussehen, wo wir in zehn Jahren stehen. Wenn wir unseren Automobilkonzernen klare Vorgaben machen, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, technologieoffen zu forschen und Innovationen zu entwickeln, ist das falsch. Hier besteht Nachbesserungsbedarf, um die Bedingungen zu schaffen, dass wir CO2- neutralen Verkehr in der Europäischen Union erreichen können.
In meinen Gesprächen mit Unternehmern sehe ich eine starke Bereitschaft, dem Klimawandel entgegenzuwirken und CO2-neutral zu handeln. Ich glaube nicht, dass Unternehmen absichtlich klimaschädliche Technologien entwickeln.
Wie kann man klimaschädliche Produktion denn einschränken?
In meinen Gesprächen mit Unternehmern sehe ich eine starke Bereitschaft, dem Klimawandel entgegenzuwirken und CO2-neutral zu handeln. Ich glaube nicht, dass Unternehmen absichtlich klimaschädliche Technologien entwickeln. Stattdessen sollten wir Innovationen durch gezielte Förderung und Rahmenbedingungen vorantreiben, um die Industrie in die richtige Richtung zu lenken. Es gibt viel Potenzial, Unternehmen dazu zu ermutigen, CO2-neutral zu handeln und in entsprechende Innovationen zu investieren, anstatt sie zu beschränken. Andernfalls könnten wir im globalen Wettbewerb zurückfallen und riskieren, dass Länder wie China oder die USA uns in Bezug auf CO2-Neutralität überholen.
Warum werden klimaschädliche Subventionen, zum Beispiel in Kohle, auf europäischer Ebene von der CDU unterstützt?
Europa ist stark vom russischen Gas abhängig, daher können wir nicht sofort alle Kohlekraftwerke abschalten, da dies zu Stromversorgungslücken führen würde. Im Winter können erneuerbare Energien allein diese Lücken nicht schließen, daher müssen wir alternative Lösungen in Betracht ziehen. Subventionen für Kohle sollen dabei helfen, diese Energielücken zu schließen, jedoch müssen sie angemessen begrenzt sein, während wir Innovationen fördern. Zum Beispiel haben wir zu Hause auf unserem Dach eine Photovoltaikanlage. Vor noch einem Jahr hatten wir die Installation eines Batteriespeichers abgelehnt, weil es einfach nicht wirtschaftlich war. Und innerhalb dieses einen Jahres hat sich die Batteriespeichertechnologie so weit verändert, dass in der Tat jetzt die Wirtschaftlichkeit da ist. Das zeigt, dass Subventionen angepasst werden müssen, um Innovationen zu unterstützen.
Auf der Internetseite der CDU zu deiner Person steht: „Das Erstarken extremistischer antiliberaler Kräfte und antiwestliche Parallel-Gesellschaften bedrohen das Fundament des europäischen Projekts und der freiheitlichen Demokratie.“ Wen genau meinst du mit „antiwestlichen Parallel-Gesellschaften?“
Es gibt eine Menge Herausforderungen, wie wir kürzlich bei den Demonstrationen in Hamburg gesehen haben, wo Deutschland fälschlicherweise als „Wertediktatur“ bezeichnet wurde und das Kalifat gefordert wurde. Dies zeigt das Vorhandensein einer antiwestlichen Parallelgesellschaft, die von unserer demokratischen Grundordnung profitiert, sie aber nicht annimmt. Dem müssen wir entgegentreten, ebenso wie dem Erstarken politischer Extremismen, besonders am rechten Rand. Übrigens nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Diese Kräfte lehnen nicht nur unsere westliche Grundordnung und die EU ab, sondern fordern auch den Austritt aus der EU, dem Binnenmarkt und dem Euro, was unsere europäische Friedens- und Werteordnung gefährdet. Das erfüllt mich mit tiefer Sorge, und es ist die Aufgabe aller demokratischen Kräfte, diesen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten.
Gehören Reichsbürger:innen auch zu deiner Definition von „antiwestlichen Parallel- Gesellschaften“?
Ich hatte beruflich leider öfter mit Reichsbürgern oder der Reichsbürgerbewegung zu tun, als mir lieb ist. Ich kann sagen, dass es sich hierbei um eine heterogene Bewegung handelt. Es gibt aber definitiv Teile dieser Bewegung, die sich selbst als Reichsbürger bezeichnen und dazu gehören.
Doch selbst wenn sich Le Pen abgrenzt, müssen wir der Realität ins Auge sehen: Es gibt Menschen, die rechtsextreme oder andere extremistische Parteien wählen. Es wäre falsch, diese Wähler zu ignorieren.
Auf europäischer Ebene wird ein Zuwachs der extremen rechten Parteien erwartet. Was kann man auf europäischer Ebene konkret tun, um diesem Erstarken entgegenzuwirken und sich abzugrenzen?
Abgrenzung ist extrem wichtig. Es ist beeindruckend, dass Marine Le Pen sich von der AfD distanziert, besonders nach den inakzeptablen Äußerungen von Herrn Krah zur Waffen-SS. Doch selbst wenn sich Le Pen abgrenzt, müssen wir der Realität ins Auge sehen: Es gibt Menschen, die rechtsextreme oder andere extremistische Parteien wählen. Es wäre falsch, diese Wähler zu ignorieren. Extremistische Positionen sind oft absurd und zirkulär. Die AfD behauptet, unabhängig zu sein, doch die Verbindungen von Herrn Krah zum chinesischen Geheimdienst und Korruptionsvorwürfe zeigen das Gegenteil. Auch eine inhaltliche Auseinandersetzung ist wichtig, um den Unzufriedenen zu zeigen, dass extremistische Parteien keine echte Alternative sind. Wir müssen ihre Unzufriedenheit anerkennen, aber die demokratischen Parteien bleiben die einzige Alternative.
Die CDU möchte Frontex stärken, konkrete Reformvorschläge werden im Wahlprogramm nicht gemacht. Wird so nicht eine menschenrechtsverletzende Organisation gestärkt?
Die Stärkung der europäischen Außengrenzen ist ein gemeinsames Ziel aller EU-Staaten und bedeutet, Frontex zu stärken. Darauf haben wir uns auch im Asylkompromiss geeinigt, und das möchten wir im Wahlprogramm umsetzen. Die steigende Zahl von Schutzsuchenden in Europa, besonders in den letzten Jahren und diesem Sommer, erfordert Maßnahmen. Länder wie Italien halten sich derzeit nicht an die Dublin-Regeln aufgrund der Überlastung. Gleichzeitig muss der legale Weg für Schutzsuchende geöffnet werden, vor allem durch die Schaffung von Asylzentren außerhalb der EU, um einen geordneten und rechtsstaatlichen Prozess zu gewährleisten. Der aktuelle Zustand begünstigt Schleuser und Menschenhändler und ist nicht rechtsstaatlich.
Wie kann sichergestellt werden, dass an den Zentren an den Außengrenzen keine Verletzungen der Menschenrechte auftreten?
Ich denke, es ist wichtig zu betonen, dass diese Bemühungen tatsächlich von der EU koordiniert werden. Wenn wir an Lager wie Moria oder die griechischen Lager denken, müssen wir erkennen, dass hier viel Kritik geäußert wurde und dass wir als Deutschland Griechenland mit dieser Situation allein gelassen haben. Die geplanten EU-Außenzentren werden nun jedoch europäisch koordiniert, finanziert und personell unterstützt, um eine Überforderung der einzelnen Mitgliedstaaten zu vermeiden. Ein entscheidender Aspekt ist hierbei die angemessene Infrastruktur. Wenn ein Lager beispielsweise für 1.000 Menschen geplant ist, aber letztendlich 10.000 dort leben, entstehen zwangsläufig menschenrechtswidrige Zustände. Daher ist es entscheidend, dass diese Außenlager eine gute Infrastruktur haben, um Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, Asylanträge ordnungsgemäß zu bearbeiten und besonders schutzbedürftige Gruppen angemessen zu behandeln, wie alleinstehende Frauen oder Familien. Die EU muss hier eine aktive Rolle übernehmen und Länder wie Griechenland und Italien dürfen nicht länger allein gelassen werden.
Das Interview führten Toni David und Felix Koch.
