gesehen: Der Vorleser

Am 28.01. öffneten sich die Vorhänge für den "Vorleser". Bild: ChrisS /Pixabay

Der Vorleser feierte am Sonntag, den 28. Januar Premiere im
Altonaer Theater. Das Stück von Kai Hufnagel wirft hochaktuelle Fragen auf und ist um einiges expliziter, als man es im Altonaer Theater vermuten würde. Leider bleibt die Inszenierung sehr nah am Buch – eine verpasste Chance?

Die Handlung

Zwei nackte Körper stehen eng umschlungen unter einer von der Decke hängenden Dusche. Ein riesiges, weißes Tuch umweht das Paar: Hanna (Anjorka Strechel), eine 36-jährige, ehemalige KZ-Aufseherin und ihr „Jungchen“ Michael (Johan Richter), ein 15-jähriger Schüler.

Das Stück erzählt aus Michaels Perspektive. Hanna tritt als seine mysteriöse Geliebte auf, mit der er seine ersten, sehr intensiven sexuellen Erfahrungen erlebt. Die beiden haben ein Ritual: Duschen, Vorlesen, Lieben, beieinander liegen. Vor allem das Vorlesen ist Hanna wichtig, genauer gesagt, das vorlesen lassen.

Doch Hanna ist nicht immer zärtlich. In unvorhersehbaren Momenten wird Sie herrisch und reizbar, einmal schlägt sie ihn mit einem Gürtel. Als Sie eines Tages ohne Ankündigung verschwindet, stürzt Michael in ein tiefes Loch. Erst Jahre später, während eines Gerichtsprozesses, den er in seinem Jura-Studium verfolgt, erfährt er von ihren Geheimnissen: Hanna war Aufseherin im Konzentrationslager Auschwitz. Und: Sie ist Analphabetinen.

Doppeltes Tabu: Eine Frau als Täterin

Drei erzählende Figuren leiten durch das Stück. Sie lesen vor – hauptsächlich aus dem Originalroman. Die Dialoge, hauptsächlich zwischen Hanna  und Michael, enthalten wenig Neues für diejenigen, die den Roman bereits gelesen haben. Vorlesen im „Vorleser“ – liegt nahe, ist aber wenig innovativ.

Wenn Protagonist Michael Berg über seine Erfahrung mit Hanna spricht, betont er die Intensität und Leidenschaft. Als Hanna ihn in einem Streit schlägt, und ihm das Kunstblut über die Wange rinnt, erzählt er, wie nah sie sich durch die Versöhnung gekommen sind.

Es scheint wie eine positive Erinnerung, denn die Nähe, die er sich von Hanna wünscht, gibt Sie ihm selten. Auch wenn das Wort „Missbrauch“ nicht fällt, greift das Stück Michaels traumatischen Erfahrungen mit Hanna an verschiedenen Stellen auf.

Auf der Bühne werden unterschiedliche Ebenen bespielt, die die Hierarchie der Beziehung in bildsprachlichen Kontext setzen. Mithilfe von Tischen und Treppen spricht Hanna im wahrsten Sinne „Von oben herab“. Das Stück klärt nicht, ob Michael sich seiner eigenen Traumata bewusst ist – wenn ja, spricht er nicht darüber.

Hannas Geheimnis

Während des Gerichtsprozesses begreift Michael, dass Hanna hat ihren Analphabetismus ihr Leben lang verheimlicht hat. Bei drohendem Bekanntwerden ergriff Sie drastische Maßnahmen – beispielsweise einen Wechsel von Siemens zur SS. Unklar bleibt nach wie vor, ob sie nur aus Angst aufgedeckt zu werden oder als wirklich überzeugte Nationalsozialistin KZ-Aufseherin in Ausschwitz war. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern es einen Unterschied macht, ob Hanna aus Angst „aufgedeckt“ zu werden, oder als überzeugte Nationalsozialistin zur Aufseherin in Auschwitz gewesen ist.

Ihre Angst ist sicherlich keine Rechtfertigung für die Ermordung von Juden und Jüdinnen. Allerdings macht Sie deutlich, wie die nationalsozialistische Erziehung wirken konnte. Der Zwang, vermeintliche Schwächen zu verbergen zu müssen, funktioniert bei Hanna als grausamer Katalysator für die Unterdrückung Anderer. Dieser Mechanismus ist gefährlich – und findet sich ähnlich auch in unserer heutigen Gesellschaft wieder.

Hochaktuelle Themen, altes Publikum

Trotzdem das Erscheinen des Vorlesers rund 30 Jahre zurückliegt, verhandelt das Stück hochaktuelle Themen. Missbrauch, Fragen danach, wie viel Verständnis eine Verurteilung erträgt und schädliche Auswirkungen patriarchaler Erziehung – das Stück verknüpft eine Vielzahl an aktuellen, und vor allem von der jüngeren Generation umkämpften Themenkomplexen. Der Altersdurchschnitt des Publikums: geschätzte ü60. Diese Diskrepanz mag sich auch durch die Stammkund:innenschaft des Theaters erklären lassen – dennoch gibt es auch für junge Studierende gute Gründe für einen Besuch des Vorlesers.

Fazit

Durch verschiedene Materialien, Ebenen und Lichteffekte entstehen trotz Simplizität eindrucksvolle Bilder. Mit viel Nacktheit, leichtem Witz und spannenden Themen bleibt das Publikum unterhalten. Leider bleibt die Erzählung nah am Buch – in einer Abstraktion hätte hier vielleicht die Chance gelegen, ein jüngeres Publikum anzusprechen. Ein Besuch kann sich trotzdem lohnen – vor allem in Begleitung, mit der danach die großen, moralischen Fragen des Lebens diskutiert werden können.