Während der sogenannten Reichspogromnacht 1938 zerstörten die Nationalsozialisten die Bornplatzsynagoge im Hamburger Grindelviertel. Heute setzt sich eine Initiative für den Wiederaufbau ein, um ein Zeichen gegen das Unrecht zu setzen und jüdischem Leben wieder mehr Sichtbarkeit zu geben.
Von Leona Adam und Jette Chiara Ihl
Die neue Bornplatzsynagoge: Zwischen Erinnerung und Neuanfang
Als Daniel Sheffer im Sommer 2019 einen Antiquitätenhandel in der Hamburger Innenstadt betritt, ahnte er nicht, wie besonders dieser Termin für ihn sein wird. Gemeinsam mit dem Rabbiner Shlomo Bistritzky habe er eine Schachtel betrachtet, die der Inhaber in einem Sack vor ihnen auf einen Tisch gelegt hatte, erzählt Sheffer. Er habe sie „geöffnet und eine silberne Tora-Krone herausgeholt“ – ein Schmuckstück, das normalerweise als Aufsatz einer Tora-Rolle dient. Als er die hebräische Innschrift las, wurde ihm bewusst, dass diese Tora-Krone dem ersten Rabbiner seiner Gemeinde gewidmet ist. „Nach über 80 Jahren hielt ich als erster Jude ein Erbstück unserer Vorfahren in der Hand, das nach der Reichspogromnacht 1938 erhalten blieb“, sagt Sheffer lächelnd.
Dieses Ereignis brachte Sheffer dazu, die „Initiative Wiederaufbau Bornplatzsynagoge“ zu gründen. Einerseits, weil es ihn glücklich machte, ein solches Erinnerungsstück wiedergefunden zu haben. Die jüdische Gemeinde hat nur noch wenige Gegenstände, die dabei helfen, sich an die eigene Geschichte zu erinnern. „Durch Relikte wie diese spüren wir eine Art Verbindung mit unseren Vorfahren“, erzählt Sheffer.
„Andererseits war ich unglaublich wütend“, erzählt er mit ernster Stimme. Die Tora-Krone sei Raubgut, das die Nationalsozialisten aus der ehemaligen Bornplatzsynagoge gestohlen hatten. Die Synagoge wurde zerstört, geplündert, das Grundstück arisiert. Heute müsse die jüdische Gemeinde ihre eigenen Erinnerungsstücke zurückkaufen. Diese Ungerechtigkeit wollte Sheffer nicht länger hinnehmen: „Es machte mir deutlich, dass die Zukunft, die ich mir für die Gesellschaft wünsche, keine Zukunft ist, in der das Unrecht der Nazis Bestand hat.“

Jüdische Gemeinde erhielt Grundstück nicht zurück
Die Bornplatzsynagoge wurde im Jahr 1906 als eine der größten Synagogen Deutschlands eingeweiht. In der sogenannten Reichspogromnacht 1938 zerstörten die Nationalsozialisten das Gebäude und setzten es in Brand. Die jüdische Gemeinde wurde enteignet und gezwungen, den Abriss der Ruinen zu finanzieren. Auf einem Teil des Grundstücks bauten die Nationalsozialisten den heute unter Denkmalschutz stehenden Hochbunker. Auch nach Kriegsende erhielt die Gemeinde keine Entschädigung.
Bis heute befindet sich das Grundstück der ehemaligen Synagoge im Besitz der Stadt Hamburg. Es umfasst den heutigen Joseph-Carlebach-Platz, auf dem in Gedenken durch ein Bodenmosaik die Dachkuppel der zerstörten Synagoge nachempfunden ist. Auch der Parkplatz vor dem Abaton Kino sowie die Fläche des heute als Unigebäude dienenden Hochbunkers gehören zu diesem Grundstück.
Machbarkeitsstudie zeigt: Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge ist möglich
Um die verschiedenen Möglichkeiten für den Wiederaufbau auszuloten, gab die Jüdische Gemeinde Hamburg in Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. Die Studie wurde 2022 öffentlich vorgestellt und zeigt fünf architektonisch verschiedene Varianten des Wiederaufbaus.
Neben der Synagoge als Hauptelement des Bauvorhabens soll auf dem ehemaligen Bornplatz auch ein ganz neuer Gebäudekomplex entstehen. Die angrenzende Joseph-Carlebach-Schule erhält einen Anbau, der als Bibliothek dient. In einem weiteren Gebäude werden nach jetzigem Stand ein kleines Café, ein Ausstellungsraum, das Jugendzentrum und die Verwaltung Platz finden. Neben den Gebetsräumen der orthodoxen Synagoge sollen zusätzlich Räume für den liberalen Teil der Gemeinde geöffnet werden. Zwei Gebetsräume auf einem Platz – das gebe es weltweit nur zwei Mal, betont Sheffer. So entstehe „Vielfalt in der Einheit. Und das gelebt“, sagt der Vorsitzende der Initiative.
„Ich habe nie verstanden, was an mir anders ist.“
Diese Vielfalt des Judentums soll mit dem Neubau der Bornplatzsynagoge repräsentiert werden. Jüdisches Leben sei heute mit einer starken Stigmatisierung verbunden, erläutert Steffanie Szczupak, Vorstandsmitglied und Bildungshausdezernentin der jüdischen Gemeinde. Szczupak fühlte sich lange nicht als Person wahrgenommen. Das Jüdisch-Sein verbinden andere Menschen noch oft mit oberflächlichen Stereotypen. „Ich habe nie verstanden, was an mir anders ist“, erzählt Szczupak.
Auch die 22-jährige Rebecca Vaneeva, Betreuerin im Jugendzentrum der jüdischen Gemeinde, ist der Meinung, dass in Deutschland viel zu wenig über die jüdische Religion und den Alltag jüdischer Menschen bekannt ist. Im Projekt „Meet a Jew” tritt sie daher in den Dialog, um anderen Menschen das Judentum näherzubringen. Genau das möchte die jüdische Gemeinde auch mit der Wiederbelebung des Bornplatzes erreichen. Der Platz soll ein Ort der Begegnung sein, Unwissenheit und Berührungsängste abbauen sowie Dialoge auf Augenhöhe ermöglichen. Dafür wird es in der Synagoge regelmäßig Ausstellungen und Schulführungen geben.
Gemeinsam Tradition erleben
Szczupak wünscht sich von dem Projekt, dass irgendwann „die jüdischen und nicht-jüdischen Menschen ganz selbstverständlich miteinander umgehen können.“ Durch die höhere Sichtbarkeit jüdischen Lebens im Zentrum Hamburgs erhofft sie sich, dass künftige Generationen so gesehen werden können, wie sie sind.
Besonders für die jüdischen als auch nicht-jüdischen Schüler:innen der angrenzenden Joseph-Carlebach-Schule sei der Wiederaufbau der Synagoge zentral, so Szczupak. Die Schule sei zwangsläufig mit der Synagoge verknüpft. Neben der Religion und der hebräischen Sprache werden auch jüdische Werte vermittelt. In einer Synagoge könnten diese auf eine ganz andere Art behandelt werden. Die Tradition könne aktiv gelebt, Feiertrage zusammen zelebriert werden – das vermittle ein Gefühl von Geborgenheit, sagt Szczupak.

Kein exakter Nachbau der ehemaligen Bornplatzsynagoge
Wie genau der Neubau der Synagoge gestaltet werden soll, ist unter Jüdinnen und Juden allerdings stark umstritten. Vor allem die Sorge, eine detailgetreue Rekonstruktion des alten Gebäudes mache die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Zerstörung der historischen Synagoge vergessen, ist groß. Sheffer versteht diese Angst. Als Begründer der „Initiative Wiederaufbau Bornplatzsynagoge“ ist er jedoch der Ansicht, dass der Einstellung „Nie wieder“ nicht nur Worte, sondern auch Taten folgen müssen.
Eine Eins-zu-eins-Rekonstruktion der Bornplatzsynagoge habe die jüdische Gemeinde nie in Betracht gezogen, so Sheffer. „Die Gemeinde im Jahre 2023 ist nicht die Gemeinde von 1938“. Der Neubau müsse daher an die veränderten Bedürfnisse angepasst werden, wie beispielsweise an die geringere Mitgliederzahl.
Architektur erinnert an Vorfahren
Teile der ursprünglichen Architektur sollen dennoch übernommen werden. Besonders wichtig ist für Sheffer das historische Eingangsportal. Für Juden und Jüdinnen sei das Festhalten an bestimmten Gegenständen sehr wichtig, erzählt er aus seiner eigenen Erfahrung. Die Nationalsozialisten hätten versucht, das Judentum und auch die Erinnerungen daran zu ermorden. Jüdische Menschen erben deshalb kaum etwas aus ihrer Vergangenheit – keine Fotos, keine Briefe, keine Gegenstände. „Wir haben eine historische Chance, einen Ort zu schaffen, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet“, so Sheffer.
Seit Ende September ist das Grundstück der Bornplatzsynagoge wieder im Besitz der jüdischen Gemeinde. Die Stadt Hamburg bereitet derzeit gemeinsam mit der Gemeinde den noch in diesem Jahr beginnenden Architekturwettbewerb vor, der über den finalen Bauentwurf der neuen Synagoge sowie die eventuelle Einbindung des Bodenmosaiks entscheiden soll. Auch Erkenntnisse aus den aktuellen archäologischen Untersuchungen der Überreste der Synagoge am Bornplatz sollen in den Wettbewerb einfließen. Der Abriss des Hochbunkers ist ebenfalls in Planung. Der Baustart und die Höhe der Kosten sind zurzeit noch unbekannt.
Den Opfern gedenken – und dann?
Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist keine leichte Aufgabe für die deutsche Gesellschaft. Sheffer, Szczupak und Vaneeva sind sich einig, dass das Gedenken an die Opfer der Schoah allein nicht ausreicht, um dem Judentum gerecht zu werden. Das heutige jüdische Leben müsse durch mehr Sichtbarkeit und Aufklärung stärker gewürdigt werden. „Wir dürfen nicht bei der Erinnerungskultur stoppen. Wir müssen auch an heute denken“, fordert Vaneeva. Der Neubau der Bornplatzsynagoge vereinbare diese beiden Aufgaben und mache ein Miteinander aus Beidem möglich. „Steine bekämpfen keinen Antisemitismus, es sind Menschen, die Antisemitismus bekämpfen“, ist sich Sheffer sicher.