Rammstein: Wenn Medien über sexuelle Übergriffe reden

Die Diskussionsrunde der Talkshow "Hart aber fair" über Rammstein. Bestehend aus (von links nach rechts) Elena Kuch, Stefanie Lohaus, Rita Suessmuth, Thomas M. Stein, Moderator Louis Klamroth, Tobias Haberl und Politikerin Lisa Schäfer. Die Talkshow „Hart aber fair“ hatte in ihrer Sendung vom 19. Juni 2023 Rammstein und die Vorwürfe mehrerer sexuelle Übergriffe zum Thema (Foto: IMAGO / Horst Galuschka).
Was passiert, wenn eine Sendung sexuelle Übergriffe thematisiert und jede:n zu Wort kommen lässt? Was verrät uns das über die Probleme des öffentlichen Diskurses? Und was soll der ganze Bullshit, den sich Opfer anhören müssen? Die ARD-Sendung „Hart aber fair“ mit dem Schwerpunkt Rammstein zeigt unfreiwillig, was alles schief gehen kann, wenn sich Nichtbetroffene überlegen fühlen. 
 
Achtung: Dieser Beitrag thematisiert sexuelle Gewalt und deren Verharmlosung.

Ein Gastbeitrag von Daria

Der Aufbau für eine scheiternde Diskussion

Wenn wir über sexuelle Übergriffe reden, reden wir zwangsläufig über echte Menschen, über Lebensrealitäten. Meist die von Frauen. Und wir reden über Männer. Ein Machtgefälle zwischen Geschlechtern, die sich konträr gegenüber zu stehen scheinen. Der starke Mann, der der Frau einen Gefallen tut, wenn er sie wahrnimmt. So war es schon immer. Die Rolling Stones, Casey Affleck, Harvey Weinstein, Adam Levine und Rammstein. Fälle von mächtigen Männern, die von Frauen eines Übergriffs beschuldigt werden. Die Regelmäßigkeit von solchen Einzelfällen lässt Struktur erkennen. Ein Mann nutzt seine Macht für sexuelle Zwecke aus und die Medien berichten. An sich eine sinnvolle und wichtige Funktion, die die Medien da übernehmen. Oft genug missglückt der Umgang der Diskussionsteilnehmenden untereinander jedoch zum Nachteil mutmaßlicher Opfer. So auch ein aktuelles Beispiel aus der Reihe: Wie zieht man die Debatte ins Lächerliche? aus dem Hause ARD in der Sendung „Hart aber fair“ vom 19.06.2023 mit dem Namen „Der Fall Rammstein und die Frage: Männer, seid ihr wirklich noch nicht weiter?“.

Große Probleme der Sendung sind einerseits ihre thematische Überladung, andererseits die geladenen Gäste. Ein kurzer Abriss der Diskussionsteilnehmer:innen: Lisa Schäfer, Kommunalpolitikerin in der CDU. Ihr politisches Amt beinhaltet die Themen Landwirtschaft und Umwelt. Die Frage drängt sich auf, warum gerade sie für die Sendung angefragt wurde. Die naheliegende Antwort wäre: Sie ist eine Frau. Sie ist nicht nur irgendeine Frau, sondern eine Frau aus der CDU. Das perfekte Gegenstück einer Feministin, eine konservative Frau. Stephanie Lohhaus, Moderatorin und Journalistin. Unter anderem gründete sie das feministische Missy Magazin. Sie soll Die Feministin der Runde sein. Tobias Haberl, Journalist und Autor des Buches „Der gekränkte Mann“. Böse gesagt ist er der Typ, der egal, was gesagt wird, mit „Ja aber“ antwortet. Seine Einstellung zu Feminismus lässt sich zusammenfassen als „Veränderung ja, aber bitte nicht so laut.“ Thomas Michael Stein, Leiter einer Musikagentur. Er ist Teil der Musikbranche. Was er zum Thema Übergriffigkeit sagt, ist kaum mit Wissen unterfüttert, hat aber mit seinen Aussagen in der Sendung viele Menschen beschäftigt. Zu guter Letzt wurde Rita Süssmuth ab Minute 35 dazu geholt. Sie ist Mitglied der CDU und war Bundestagspräsidentin unter Helmut Kohl. Ihre politische Karriere war geprägt von der Notwendigkeit, gegen Sexismus in der Politik vorzugehen.

Der Schock des Abends

Diese Teilnehmer:innen sitzen also in einer Runde und sollen diskutieren. Zunächst geht es um den Fall Rammstein. Die Debatte wird mit einem Beitrag von Herrn Stein eröffnet, der erstmal klarstellt, die Bandmitglieder von Rammstein seien privat ganz nett. Mit Anschuldigungen sollte man vorsichtig sein, bis ein Gericht über den Fall entschieden hätte. Weiter führt er aus: „Wie [Lindemann] sich auf der Bühne ausarbeitet, wie der mit 60 Jahren auf die Bühne rennt, soll der plötzlich da runter gehen und plötzlich jemanden beglücken. Da muss er ins Museum.“ Das Wort beglücken für eine mutmaßliche Vergewaltigung zu nutzen, ist symbolisch für die Relativierung des Diskurses über sexualisierte Gewalt. Nicht das letzte Mal in dieser Sendung wird Opfern von Übergriffigkeit damit die Gewichtung ihrer Erfahrungen abgesprochen. Eine Vergewaltigung hat nichts mit der Beglückung des Opfers zu tun und es so zu nennen, zieht die ganze Auseinandersetzung mit dem Thema ins Lächerliche. Weiter noch wird eine Vergewaltigung dadurch mit Sex gleichgesetzt, was schlicht falsch ist. Gleichzeitig bittet er um Nachsicht mit der Band. Die hätte schließlich viel zu verlieren.

Die Pointe des Redebeitrags ist jedoch, was nach der Sendung den größten Schock auslöste: Thomas Stein forderte, die Vorwürfe gegen Rammstein in Relation zu sehen. Es seien zwölf oder lass es 100 Frauen sein, entgegengesetzt seien 300.000 Fans, denen nichts passiere. Zusammengefasst sollten sich Frauen mit solchen Anschuldigungen zurückhalten. Wenn diese wahr seien, wäre das nicht so schlimm, da es vielen Menschen ja nicht passiert. Frei nach dem Motto: „Ein bisschen Schwund ist immer“? Nicht nur Frau Lohhaus ist schockiert über diese Gegenüberstellung, auf X (ehemals Twitter) empören sich auch etliche Leute zurecht für so eine menschenfeindliche Aussage. Der Rest der Diskussionsrunde reagiert nicht auf Herrn Stein. Frau Lohhaus versucht immer wieder die strukturelle Ebene von Gewalt im Geschlechterverhältnis einzubringen. Die Antwort darauf kommt von Herrn Haberl mit seinem einzigen Argument: #notallmen. Das kennt man doch irgendwoher.

Feminismus und Männerhass

„Fun“ Fact: Laut des Bundesverbands der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff) werden nur 5-15% der Vergewaltigungen in Deutschland zur Anzeige gebracht. In einem System, in dem es oft keine Konsequenzen für Übergriffe gibt, wird sich nicht viel ändern. Die meisten Übergriffe werden nicht angezeigt. Aus Angst auf Seiten der Opfer und eben der Tatsache, dass die wenigsten Täter verurteilt werden. Sowohl Kevin Spacey wurde freigesprochen, als auch Till Lindemanns Verfahren eingestellt. Das zeigt aufs Neue, dass wir in einem System leben, das Machtmissbrauch mindestens duldet.

Es gibt aber keine einfachen Antworten auf diese tief verwurzelten, patriarchalen Strukturen. Deswegen bedeutet Feminismus auch nicht einfach nur, dass alle Männer Täter oder der Feind sind. Der Hashtag #notallmen, der das Hauptargument von Herrn Haberl zu sein scheint, ist für eine Diskussion eben aus diesem Grund problematisch: Es ist eine Antwort auf einen Vorwurf, den niemand erhoben hat. Niemand sagt, dass alle Männer vergewaltigen. Nur sind laut den polizeilichem Kriminalstatistiken (PKS) fast 99% der Täter:innen von Vergewaltigungen, sexuellen Nötigungen und sexuellen Übergriffen Männer. Der Zusammenhang zwischen Übergriffen und Männlichkeit ist damit gegeben. Wenn die Antwort darauf #notallmen ist, dann weicht das der Diskussion aus, statt sie weiterzubringen. Das trifft auch auf die Haltung von Herrn Haberl zu. Seine erste Reaktion vermittelt nämlich: „Ach, ist doch gar nicht so schlimm, das ist ein Einzelfall.“

Reaktionen wie diese spielt die Lebensrealität von vielen Menschen runter und verkennt das Problem. Die gängigste Art des Feminismus heißt, Gleichberechtigung zwischen allen Geschlechtern herzustellen. Das hätte durch diese Sendung klar werden können, denn es behandelt ein Thema, bei dem schnell Konsens herrschen könnte. Konsens darüber, dass Menschen keine sexuellen Handlungen durchführen müssen, wenn sie es nicht wollen.

Ungleich verteilte Privilegien

Doch selbst bei der Dringlichkeit dieses Themas scheint es ja bereits unterschiedliche Meinungen zu geben. Nicht anzuerkennen, dass sexualisierte Gewalt strukturell alle Menschen, aber gerade Frauen bedroht, ist schlicht Unwissen oder absichtliches Auslassen von Tatsachen. Es genügen Blicke in die polizeiliche Kriminalstatistik oder die Berichte von Hilfeeinrichtungen für einen kurzen Faktencheck. Im Beispiel des Rammstein Falls wird trotzdem viel gefordert, die Berichterstattung einzuschränken, damit keine Vorverurteilung stattfindet. Lindemann hat das Vorrecht auf das öffentliche Bild von sich. Die Frauen, die Lindemann angezeigt haben, kriegen bis heute Morddrohungen, werden kleingeredet und beleidigt. Sie haben dieses Vorrecht auf ihr öffentliches Bild nicht. Als reicher und berühmter Mann hat Lindemann Privilegien, die eine Shelby Lynn nicht hat.

Was passiert also, wenn jemand sofort rechtfertigt, dass es sich um Einzelfälle handele oder Ähnliches? Es kann eine Angst davor sein, die eigenen Privilegien zu verlieren. Das Privileg den eigenen Ruf beeinflussen zu können, als gut wahrgenommen zu werden. Der Punkt sollte aber doch sein, dass jede:r diese Rechte verwirklichen kann. Natürlich wäre es falsch, Lindemann ohne Überprüfung als schuldig abzustempeln, sobald auch nur eine Person etwas gegen ihn äußert. Doch genauso ist es falsch, etlichen Anschuldigungen kein ehrliches Gehör zu schenken. “Neutral“ zu sein, bedeutet auch, Wahrscheinlichkeiten zu bedenken und Erfahrungswerte hinzuzuziehen. Wenn wir das nicht tun und auf unseren Privilegien sitzen bleiben, als würden wir sie verlieren, wenn wir sie teilen, gibt es keinen gesellschaftlichen Fortschritt. Dann bleibt alles wie es ist.

Was bringt ein Sprint durch die Landschaft des Sexismus?

Mir fällt auf, wie ausufernd und chaotisch diese Sendung ist. Es wurden noch viele Aussagen getätigt, die so nicht stehen bleiben dürften. Beispielhaft kann die Aussage von Lisa Schäfer genannt werden, die Polizei leiste hervorragende Arbeit. Als daraufhin Stephanie Lohhaus anmerkt, dass sich viele Opfer von sexualisierter Gewalt nicht trauen zur Polizei zu gehen, ist Frau Schäfer sichtlich empört. Frau Lohhaus stelle damit den gesamten Rechtsstaat in Frage. Aber stellt Frau Lohhaus wirklich den gesamten Rechtsstaat in Frage, wenn sie wissenschaftlich erhobene Daten präsentiert, die zeigen, dass es innerhalb dieses Rechtsstaates ein Problem gibt? Viele der Argumente in dieser Sendung wirken willkürlich und provozierend. Also warum sind die Gäste – etwa Musikproduzent Stein mit seinen Verharmlosungen – so glimpflich dabei weggekommen?

Es gibt zwei wesentliche Punkte, die diese Sendung zu so einer schmerzhaften Nonsense-Show für mich gemacht haben. Erst einmal wurden die falschen Menschen eingeladen. Eine CDU-Kommunalpolitikerin, deren Expertise in der Landwirtschaft liegt und ein Leiter einer Musikagentur hatten in dieser Sendung wenig beizutragen und zu suchen. Warum wurden nicht nur Menschen eingeladen, die sich mit dem Thema auskennen? Auch der Buchautor Tobias Haberl hat keine nennenswerte Expertise. Seine Beiträge bezogen sich ebenfalls in keiner Weise auf die Gesellschaft, geschweige denn auf Frauen. Er ist ein typischer „Das wird man ja noch sagen dürfen“-Mann, der vor allem über die Schwierigkeiten für Männer reden will. Der zweite Grund ist die Fülle der Show. Wer eine Talkshow mit Inhalten Rammstein, der Gender Pay Gap, Care Arbeit und einigem mehr plant, hatte wohl auch nicht vor, sich tiefergehend mit Inhalten auseinanderzusetzen. So richtig aussagekräftig konnte die Diskussion unter diesen Umständen nie sein.

Und was nun?

Wer hätte denn dann mit Stephanie Lohhaus sprechen sollen? Es gibt Menschen, die arbeiten im juristischen Feld der Opferhilfe, die eine rechtliche Perspektive hätten mitbringen können. Oder aber Betroffene, Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen. Diese sind überall auf der Welt zu finden, weil eben solche Kämpfe auch überall geführt werden. Menschen, die eine tatsächliche Expertise vorzuweisen haben. Doch man brauchte konträre Meinungen, wie es so oft in Talkshows ist. Manchmal ist das sinnvoll. Im Rammstein-Fall geht es jedoch um eine traumatisierte Opfergruppe auf der einen Seite und eine ignorante Fraktion auf der anderen Seite. Diese Gegenüberstellung kann keinen sinnvollen Beitrag ergeben. Das Einzige, was diese Gegenüberstellung zur Folge hatte, sind wütende und verletzte Betroffene.

Trotzdem haben mich die Aussagen von Thomas Stein nicht nur verstört und irritiert. Bei jedem weiteren Durchlauf werde ich wütender. Es ist immer einfacher, einzelne Personen an Stelle einer Institution oder eines System verantwortlich zu machen. Ich habe versucht, beides zu tun. Ich bin selbst Opfer sexualisierter Gewalt geworden. Dieses gesamte Gespräch war öffentlich-rechtlich finanziert im Fernsehen zu sehen, und es war ein Schlag ins Gesicht für mich. Es geht mir nicht darum, um jeden Preis recht zu haben. Diese Menschen müssen meine Ansichten nicht übernehmen. Was mich so wütend macht, ist, dass sie nicht einmal zuhören. Ich kann nur meinen höchsten Respekt an Stephanie Lohhaus aussprechen, die unglaublich ruhig geblieben ist, während ihr die Worte im Mund umgedreht wurden, bis sie als Männerhasserin dargestellt werden konnte. Und an die Opfer, die sich getraut haben, überhaupt erst ihre Stimme zu erheben.

Ich wünsche mir, dass endlich respektvoll miteinander gestritten werden kann und alle Lebensrealitäten mitgedacht werden. Denn hinter all den Statistiken und Geschichten stecken Menschen. Zuzuhören, sich selbst zu hinterfragen und Menschen wirklich verstehen zu wollen: Das klingt doch zukunftsgerichtet.