Sieben Jahre her, aber erst seit Oktober 2019 als rechtsextremistisch eingestuft: Ein 18-Jähriger tötete beim OEZ-Anschlag in München neun Menschen und verletzte fünf weitere – alle hatten eine Migrationsgeschichte oder gehörten zur Minderheit der Sinti:zze und Rom:nja. Heute noch kämpfen Angehörige und Überlebende um Aufmerksamkeit.
Am 22. Juli 2016 versuchte David S. Menschen über ein Facebook-Profil in den McDonalds im Olympia Einkaufszentrum (OEZ) in München zu locken. Obwohl niemand diesem Aufruf folgte, erschoss S. in der Filiale fünf Jugendliche. Nachdem er den McDonalds verlassen hatte, tötete er vier weitere Menschen. Schließlich erschoss er sich selbst. Davor verletzten sich wegen der unklaren Informationslage viele Menschen bei Massenpaniken. Der OEZ-Anschlag gehört zu den blutigsten der jüngeren deutschen Geschichte, doch um einen Platz in der Erinnerungskultur von rechtsextremer Gewalt müssen Überlebende und Angehörige immer noch kämpfen.
Auf den OEZ-Anschlag folgten schwere Fehler der Sicherheitsbehörden
Armela Segashi, Can Leyla, Hüseyin Dayıcık, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Roberto Rafael, Sabine Sulaj, Selçuk Kılıç und Sevda Dağ: Jahrelang stuften die bayrischen Sicherheitsbehörden ihre Ermordung beim OEZ-Anschlag nicht als politisch motiviert ein, sondern als Amoklauf. Die “Einzeltat“ sei in erster Linie durch persönliche Erfahrungen ausgelöst worden. Laut den Behörden sprach dafür, dass der Täter sich mit Amokläufen auseinandergesetzt hatte, psychiatrisch behandelt und in der Schulzeit gemobbt worden war. Früh aufkommende Kritik entgegnete, psychische Erkrankungen und eine politische Motivation schließen sich nicht aus.
Das Datum des OEZ-Anschlags fiel auf den 22. Juli: 2011 ermordete Anders Behring Breivik am selben Tag in Norwegen 77 Menschen, fast alle davon Teilnehmer:innen eines Zeltlagers der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Manifeste und Dokumente, rassistische Aussagen auf Online-Plattformen und der zwischenzeitige Kontakt zu einem Mann, der schließlich in den USA ein Attentat beging, sprechen dafür, dass die Tat rechtsextrem und rassistisch war. Das wollten die Sicherheitsbehörden jedoch erst Jahre nach dem Anschlag von David S. erkennen. Weil die Tat zuerst als Einzeltat eingestuft wurde, gab es so gut wie keine politischen Folgen. Stattdessen wurde sich auf die Prävention von Amokläufen konzentriert.
Dass die tödliche Gewalt von Rechts nach wie vor institutionell unterschätzt wird, ist nichts Neues. Im Fall vom OEZ-Anschlag geht die Unterschätzung auch über die bloße Verkennung der Tat als politisch hinaus: 16 Monate nach dem Anschlag von David S. tötete William A. in den USA zwei Schüler. Die beiden Täter hatten zuvor auf der Spiele-Plattform ‚Steam‘ Kontakt. Das bayrische Landeskriminalamt und die Münchener Staatsanwaltschaft gaben diese Informationen jedoch nicht weiter, obwohl ein Jugendlicher die Polizei auf diesen Austausch hingewiesen hatte.
Das ist nicht das erste Mal
Hanau, Halle, Kassel, Dortmund, Nürnberg, Duisburg, Köln. Das ist nicht irgendeine Aufzählung von deutschen Städten, sondern ein Ausschnitt der langen Liste von Orten, an denen rechte, teils tödliche Gewalt stattfand. Angehörige und Überlebende dieser Taten werden dieses Jahr an der offiziellen Gedenkveranstaltung in München teilnehmen. Sie wird zum ersten Mal von den Familien der Opfer des OEZ-Anschlags organisiert.
Viele Menschen und Initiativen weisen seit langem darauf hin, dass es sich bei solchen Morden nicht um Einzeltaten handelt. Trotzdem stellt nicht nur die AfD psychische Erkrankungen nach solchen Taten in den Vordergrund. Die Ermittler:innen erkannten alle das rassistische Weltbild von David S., sie gewichteten ein oberflächliches Rachemotiv aufgrund von Mobbingerfahrungen jedoch als auschlaggebender. Diese beiden Motive scheinen sich für viele Menschen auszuschließen, weshalb die Gefahr von Rechts immer wieder verharmlost wird. Erkrankungen erklären solche Taten nicht, sie sind viel eher ein Puzzleteil, das allein die Bedeutung solcher Taten nicht erfassen kann. Für diese braucht es einen Nährboden.
Die Eltern von David S. berichteten, ihr Sohn habe Sympathien für die AfD wegen ihrer Geflüchtetenfeindlichkeit gehabt – auch das ist nichts Ungewöhnliches unter den rechten Attentätern der obigen Liste. Am Tag vor dem OEZ-Anschlag schrieb S. eine Chatnachricht: Alles werde immer schlimmer, alle Geflüchteten seien doch nur „Wirtschaftsflüchtlinge“, und Deutschland werde sich schon bald mit erheblichen Problemen konfrontiert sehen. Das sind Sätze, die ohne viel Aufwand unter beliebigen Beiträgen auf Instagram oder Twitter jeden Tag in der Kommentarspalte gefunden werden können. Trotz dieser Tendenzen hat die AfD ein beängstigendes Umfragehoch. Nur langsam mehren sich Proteste dagegen, die AfD-Symphatisant:innen als “Protestwähler:innen“ zu bezeichnen. Wer diese Partei wählt, unterstützt genau das Gedankengut, mit dem diese Gewalt gerechtfertigt wird. Das ist kein Protest.
Der OEZ-Anschlag muss erinnert werden
Städte wie Hanau, Halle und Kassel gelten mittlerweile als repräsentative Beispiele der jüngeren rechtsextremen Gewalt in Deutschland. Sie bekommen verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit. Doch der Anschlag in München fehlt in vielen Aufzählungen von rechter Gewalt. Dass die Angehörigen und Überlebenden in ihrem Gedenken derartig allein gelassen werden, ist aus ihrer Sicht ein Verschulden der Sicherheitsbehörden und der Politik, denen es schwerfällt, den OEZ-Anschlag als politische Tat zu benennen. Die Initiative „München erinnern!“ merkt, dass Interesse und Unterstützung weiter schwinden. Das Erinnern an rechtsextreme Anschläge ist jedoch ein wichtiger Bestandteil des Kampfes gegen wiedererstarkende, menschenfeindliche Stimmen.
Neben den starken Umfragewerten und Wahlerfolgen der AfD, die gerade in aller Munde sind, reichen spätestens seit der Corona-Pandemie antisemitische Verschwörungstheorien in die Mitte der Gesellschaft. Das sind lediglich ein paar der besorgniserregenden Tendenzen, die sich gerade aufdrängen. Besonders nach dem AfD-Erfolg in Sonneberg zitierten viele die folgende Sätze aus einer Rede von Erich Kästner: „Die Ereignisse von 1933-1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen.“ und „Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist.“ Hanau (2020), Halle (2019), Kassel (2019), München (2016), der NSU (2000-2007). Diese Mordserien ergänzen sich um etliche weitere Gewalttaten: Tödliche Angriffe auf Geflüchtetenunterkünfte und Obdachlose, die Hetzjagd in Chemnitz, die Gründung rechtsextremer Gruppen, aufgedeckte rechte Strukturen in den deutschen Sicherheitsbehörden. Derweil werden viele Taten noch immer nicht als das anerkannt, was sie waren. Wer sagt bei dieser Aufzählung, das sei noch ein Schneeball?
Die Initiative „München erinnern!“ kämpft dafür, dass der OEZ-Anschlag und Armela Segashi, Can Leyla, Hüseyin Dayıcık, Dijamant Zabërgja, Guiliano Kollmann, Roberto Rafael, Sabine Sulaj, Selçuk Kılıç und Sevda Dağ nicht vergessen werden. Sie schreibt in einem Aufruf: „Lasst uns für Aufklärung kämpfen und Anerkennung vorantreiben. Lasst uns gemeinsam rechten Terror stoppen!“. Am 22.07. findet in München um 14:30 Uhr eine Demonstration statt, um 17 Uhr wird es eine Gedenkveranstaltung geben, die ihr auf Youtube mitverfolgen könnt. In Hamburg ist bis jetzt – im Gegensatz zum letzten Jahr – keine Kundgebung geplant.