Lina E. und das Antifa-Ost-Verfahren

Lina E., Letzte Generation, Paragraf §129, Klimaaktivismus Vor der Roten Flora wird sich mit der Letzten Generation solidarisiert. Unten wird an den Prozess gegen Lina E. erinnert und auf den Protest am 31. Mai vor der Roten Flora hingewiesen.

Lina E. wird im November 2020 mit dem Vorwurf, Rädelsführerin einer kriminellen Vereinigung zu sein, verhaftet. Der Prozess entwickelt sich zu einem der größten gegen Antifaschist:innen der letzten dreißig Jahre. Am 31. Mai wird das Urteil gesprochen, die Verteidigung spricht von einem inszenierten und bereits von Anfang an entschiedenen Verfahren, das lückenhaft ist und ein politisches Exempel statuieren soll.

Verhaftung und Inszenierung von Lina E.

Am 05. November 2020 wird Lina E. verhaftet und mit einem Helikopter nach Karlsruhe gebracht. Als Lina E. aussteigt, ist sie umgeben von vermummten Polizist:innen und in Handschellen. Solche Bilder gibt es gerne, damit von staatlicher Seite gezeigt werden kann, dass durchgegriffen wird – wie es zum Beispiel beim Attentäter von Halle geschah. Kritik an dieser Inszenierung gibt es schon bald. Eine Unschuldsvermutung gilt hier jedoch längst nicht mehr. Lina E. und den Anderen wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben.

Diese Vereinigung soll mindestens sechs Überfälle im Zeitraum von 2018 bis 2020 auf Menschen des rechtsextremen Spektrums organisiert und durchgeführt. Lina E. sitzt nun seit ungefähr zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Bis auf einen Fall waren die Übergriffe gegen Neonazi-Größen gerichtet. Dass Lina E. bei diesem Angriff dabei war, kann nicht bewiesen werden. Trotzdem werden für die Hauptangeklagte acht Jahre Haft gefordert, für die Mitangeklagten weniger. Lina E. hat als einzige der Angeklagten keine Vorstrafen. Laut einem Kronzeugen jedoch soll sie an allen Übergriffen beteiligt und Rädelsführerin gewesen sein. Allerdings gibt es dafür keine stichhaltigen Beweise, genauso wenig gibt es diese für die bloße Existenz einer kriminellen Vereinigung.

Hufeisentheorie? Fehlanzeige

Auch den vehementesten Vertreter:innen der umstrittenen Hufeisentheorie dürften einige Unterschiede auffallen, weshalb auch in diesem Fall Links- und Rechtsradikalität nicht gut vergleichbar sind. Die angegriffenen Neonazis wollten Linke und Polizist:innen töten, erstere kamen ihnen jedoch zuvor und wollten sie genau davon abschrecken. Einer der Faschist:innen, Leon Ringl, wollte Hinweisen zufolge einen deutschen Ableger der Atomwaffendivision gründen. Die Gruppe mordete bereits mehrmals in den USA. Es sollte mittlerweile offensichtlich sein: Wer linksradikale Antifaschist:innen mit rechtsextremen Neonazis gleichsetzt, relativiert Letztere.

Daher kommt auch die Sicht anderer Antifaschist:innen, es handle sich um Selbstschutz seitens der Menschen rund um Lina E. Wenn Polizei und Staat nicht gegen Rechte vorgehen und nicht in der Lage sind, rechte Gewalt zu verhindern, dann gibt es für die Zielscheiben nur die Option, sich dagegen zu wehren. Die Anschläge in Halle und Hanau sind nur zwei Belege, die sie darin bestätigen, sich selbst schützen müssen. Zu sagen, es solle sich auf die staatlichen Institutionen verlassen werden, ist angesichts polizeilicher Repressionen, denen Linke ausgesetzt sind, ignorant. Die Hufeisentheorie hinkt jedoch allein in ihrer Ausübung. Während Lina E. angeklagt ist, werden Prozesse wie der organisierte Angriff auf den Stadtteil Connewitz nicht aufgeklärt. Dabei warnte der Sächsische Verfassungsschutz drei Tage vor dem „Sturm auf Connewitz“ mit einem kritischen Lagebericht die Sicherheitsbehörden. Es handelte sich schließlich um den größten organisierten Angriff von Neonazis seit dreißig Jahren.

Bei Lina E. und den anderen stehen jedoch vier Menschen vor Gericht. Abgesehen davon, dass die Hufeisentheorie und ihre Verbreitung in Gerichtsverfahren wie diesen für sich allein schon Schaden anrichten, wird sie scheinbar auch nur einseitig genutzt. Auch im Prozess um Lina E. kritisiert die Verteidigung, die Bundesanwaltschaft sei durch das Hufeisenmodell voreingenommen.

Der Paragraf §129: Beweise sind unnötig

Wo der Paragraf §129 gerade in aller Munde ist, zeigt deutlich, für wen er gemacht zu sein scheint. Derzeit wird gegen die Klimaaktivst:innen der Letzten Generation, ermittelt, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Ebenso ermittelte ein AFD-naher Staatsanwalt fast anderthalb Jahre mit §129 gegen die Aktivist:innen des Zentrums für Politische Schönheit. Auch an der Uni Hamburg spielte der Paragraf kürzlich eine Rolle, nachdem an der Uni die Konferenz „We want our World back“ nicht stattfinden durfte, weil einige Gruppen möglicherweise der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) nahestünden. Dass der Paragraf §129 dazu genutzt wird, linke Aktivist:innen zu kriminalisieren und Exempel zu statuieren, ist dabei nichts Neues. §129 gehört zum Standard-Repertoire des deutschen Staates, um genau das zu tun.

Der Paragraf wird zudem oft nicht genutzt, um eine konkrete Tat nachzuweisen, sondern um Befugnisse zu erlangen, Menschen einer bestimmten Szene auszuspähen und zu überwachen. Beweise? Braucht es gar nicht mehr. Es reicht allein der Vorwurf, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Deswegen ist es umso bedenklicher, dass der Paragraf gerade gerne für verschiedene aktivistische Lager verwendet wird, denn die Polizei gab auch im Rahmen des Prozesses um Lina E. zu, es sei für sie äußerst schwierig, an Informationen über die linke Szene zu gelangen.

Das Verfahren rund um Lina E.

Das Verfahren wurde auf der höchstmöglichen Ebene in Deutschland geführt, machte jedoch gleich mit Problemen auf sich aufmerksam. Einen Tag vor Prozessbeginn veröffentlichte das vom Verfassungsschutz beobachtete rechtsextreme Magazin Compact den vollen Namen mitsamt Bildern von Lina E.. Das Magazin gibt als Quelle der Fotos die Akten der Polizei an. Außerdem habe im Prozess laut der Verteidigung eine Beweislastumkehr stattgefunden. Das ist ein Problem, weil die Anklage so vermeintliche Beweise interpretieren könne, ohne diese handfest beweisen zu müssen. Das passierte auch bei abgehörten Telefonaten, aus deren Inhalt die Anwesenheit von Angeklagten gedeutet wurde. Die Verteidigung konnte das jedoch widerlegen.

Die Süddeutsche berichtete ebenfalls über Ermittlungsfehler. Ein Angeklagter, dem eine Beteiligung am Überfall auf Leon Ringl in Eisenach nachgesagt wurde, habe ein Alibi. Interessant ist hierbei, dass dieses Alibi bereits in Akten aufgeführt wurde, die Teil eines anderes Verfahren waren. Dieses Verfahren unterlag derselben Generalbundesanwältin, die auch im Antifa-Ost-Verfahren federführend ist. Die Beweise für das Alibi fand die Verteidigung jedoch nur durch Zufall. Ob es nun wissentlich vorenthalten wurde oder aufgrund von Überforderung und Voreingenommenheit unter den Tisch gefallen war: Es lässt die Beweisführung schwach dastehen. Dazu trägt auch bei, dass viele der Zeug:innen die betroffenen Neonazis sind, die widersprüchliche, unglaubhafte Aussagen machten.

Auch wurde in dem Verfahren nicht der Frage nachgegangen, wie die Arbeit der Soko Linx zu bewerten ist. Dabei sind deren Ermittlungsergebnisse wichtig für den Prozess. In Leipzig ist sie unter anderem dadurch bekannt, äußerst repressiv zu agieren und arbeitet auch mit Nazis zusammen. Generell ist die sächsische Polizeiarbeit bemüht, der linken Szene die Bildung von kriminellen Vereinigungen nachzusagen, dreimal in den letzten Jahren war das schon erfolglos. Die seit 2020 existierende Einheit braucht dringend einen Erfolg. Dieser soll die angeblich aufgespürte kriminelle Vereinigung rund um Lina E. sein.

Kronzeuge sagt gegen Lina E. aus

Johannes D. ist überraschend als Kronzeuge in dem Verfahren eingesetzt worden und bricht damit die eiserne, linke Regel, nicht mit den staatlichen Institutionen zu kooperieren. D. ist in eben dieser Szene jedoch schon länger nicht mehr willkommen: Seit Oktober 2021 gibt es Vorwürfe der Vergewaltigung gegen ihn. Nachdem im März 2022 ein Verfahren gegen ihn eingestellt wurde, erschien Johannes D. kurz darauf als Kronzeuge im Verfahren rund um Lina E. Nicht nur die davon betroffene linke Szene bemerkt hier, dass womöglich kausale Zusammenhänge wie ein Rachemotiv nicht vor Gericht thematisiert werden.

An den Aussagen des Kronzeugen sind zudem Zweifel geäußert worden. So unterschieden sich seine Antworten zu bestimmten Sachverhalten. Während er beim Verfahren in Dresden meinte, Lina E. und die Mitangeklagten hätten zusammen für Angriffe auf Nazis trainiert – was den Verdacht einer kriminellen Vereinigung stützen würde – äußerte er sich in einem anderen Verfahren anders. Die Frage, ob es sich um ein gezieltes Training handelte oder um eine soziale Aktivität, beantwortete ein Vertreter der Staatsanwaltschaft Gera. D. habe bei der Vernehmung auch von Trainings gesprochen. Dass der Kronzeuge das selbst jedoch nicht mehr wusste, irritierte und verzögerte den Prozess.

Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.“

Die Überfälle gab es auf jeden Fall. Es geht den Unterstützer:innen von Lina E. darum, dass an den mutmaßlichen Täter:innen ein politisches Exempel statuiert zu werden scheint. Aus einzelnen gewaltvollen Übergriffen auf Neonazis wird eine kriminelle Vereinigung konstruiert und mithilfe des Paragrafen §129 die linke Szene ausgeforscht.

So gibt es noch immer keine Beweise, dass Lina E. der Mittelpunkt einer kriminellen Vereinigung gewesen ist, deren Existenz ebenfalls nicht belegt wurde. Es wurde nicht nachgewiesen, dass Lina E. in fünf der sechs Fälle direkt beteiligt war, weshalb die Verteidigung in fast allen Fällen einen Freispruch fordert. Die Staatsanwältin bestätigte das Fehlen von handfesten Beweisen in ihrem Plädoyer. Das Urteil soll am 31. Mai verkündet werden. Die größten Proteste von linksautonomen und antifaschistische Gruppen fallen vermutlich auf das erste Juni-Wochenende. In Leipzig werden von den Behörden Teilnehmer:innen im mittleren vierstelligen Bereich und über 2000 Polizeibeamte erwartet (Die Demo in Leipzig wurde nach Veröffentlichung des Artikels wegen Sicherheitsbedenken verboten. Unterstützer:innen haben trotzdem Proteste angekündigt, Anm. d. Red.). Aber bereits am Tag der Urteilsverkündungen finden Demos überall in Deutschland statt, darunter auch vor der Roten Flora in Hamburg. 

Der Prozess hat auch die Dynamiken in der linken, antifaschistischen Szene verändert. Die Frage, ob und wenn ja, wie Gewalt gegen Neonazis gerechtfertigt werden kann, drängt sich auf. Oder aber, ob die antifaschistische Gewalt gegen Faschist:innen Erfolg haben kann. Die breite Unterstützung für Lina E. heißt trotzdem nicht, dass alle Unterstützer:innen gewaltbereit sind. Sie solidarisieren sich aber mit jenen, die sich zu militantem Antifaschismus entschlossen haben und dafür einem Verfahren ausgesetzt sind, das einem Schauprozess anmutet. Denn im Kopf vieler Antifaschist:innen festigt sich schon seit langem der Satz der Holocaust-Überlebenden Esther Bejarano: „Wer gegen Nazis kämpft, kann sich auf den Staat nicht verlassen.“