Der Fall Miriam Block

Photo: Unsplash

von Lasse von Feder und Lisa Kahl

Nach einer Abstimmung über einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu den Morden des NSU verlor die Grünen Abgeordnete Miriam Block über Nacht ihre politischen Ämter. Was hinter dem Vorwurf der mangelnden Fraktionsdisziplin steckt und welches Verständnis von Fraktionsdisziplin bei den Hamburger Grünen vorherrscht, darüber schreibt KOPFZEILE für euch. 

Zwischen 2000 und 2007 ermordete die rechtsterroristische Gruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zehn Menschen, darunter Süleyman Taşköprü in Hamburg. Die Verbrechen sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Insbesondere die Rolle des Verfassungsschutzes, zumal die Ermittlungsakten eigentlich für 120 Jahre unter Verschluss bleiben sollten. Der Journalist Jan Böhmermann veröffentlichte diese Akten jedoch auf einer eigens dafür eingerichteten Website.
In acht der neun Bundesländer, in welchen der NSU Menschen tötete, wurden parlamentarische Ausschüsse (PUA) mit der Untersuchung der Mordserie beauftragt. Nun hat Hamburg auf Anfrage der Linksfraktion ebenfalls darüber abgestimmt – mit weitreichenden Folgen für die Politikerin Miriam Block.

Nach Artikel 44 des Grundgesetzes kann und muss der Deutsche Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Dieser prüft hauptsächlich mögliche Missstände in Regierung und Verwaltung und mögliches Fehlverhalten von Politikern. Untersuchungsausschüsse können Zeugen und Sachverständige vernehmen und sonstige Ermittlungen durch Gerichte und Verwaltungsbehörden vornehmen lassen. Das Ergebnis fasst der Untersuchungsausschuss in einem Bericht an das Plenum zusammen.
Quelle: bundestag.de

Am 13. April stimmten die Parteien im Hamburger Landesparlament darüber ab, ob es einen solchen parlamentarischen Untersuchungsausschuss geben solle. Der Gegenvorschlag der SPD: eine “wissenschaftliche Aufarbeitung” des Geschehenen. Was erstmal nach keinem großen Unterschied klingt, bedeutet konkret aber, dass die Untersuchenden keine Einsicht in die Akten des Verfassungsschutz erhalten würden. Dabei ist die Rolle, welche dieser spielte, mindestens zweifelhaft. Der Präsident des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, sprach in einem ZDF-Interview selbst von “eklatanten Fehlern”.
Kein Wunder also, dass die Akten eigentlich unter Verschluss bleiben sollten.

Nachdem die Grünen-Abgeordnete Miriam Block jedoch, auch auf Wunsch der Angehörigen, für einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss stimmte, enthoben ihre Parteikolleg:innen sie kurzerhand all ihrer Ämter. Der Vorwurf: Bruch mit der Fraktionsdisziplin.

Fraktionsdisziplin meint das einheitliche Abstimmen aller Mitglieder einer Fraktion in einem Parlament. In Demokratien ist ein strenger Fraktionszwang grundsätzlich verboten, da Abgeordnete bei Entscheidungen nur ihrem Gewissen verpflichtet sind. Nicht der eigenen Partei und auch nicht den Wähler:innen.
Dennoch ist im politischen Alltag oft eine gewisse Fraktionsdisziplin notwendig. Um ihre Ziele durchzusetzen, müssen möglichst viele Mitglieder einer Fraktion gemeinsam zugunsten ihrer Interessen abstimmen.
Allerdings entfällt der Aufruf zum einheitlichen Abstimmen bei politischen Grundsatzfragen (Einsatz der Bundeswehr) oder bei ethisch-moralischen Fragen (Abstimmung über Beihilfe zum Suizid in Deutschland).

Block, welche als wissenschaftliche und hochschulpolitische Sprecherin der Grünen arbeitete und Mitglied im Wissenschaftsausschuss und im Innenausschuss war, schrieb auf Twitter: “Ich kann es […] nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, den Antrag der Linksfraktion abzulehnen, solange wir keinen alternativen Weg für ernsthafte Aufklärung finden”.

Damit buchstabiert Block zugleich aus, was die Grenzen der Fraktionsdisziplin sind. Denn grundsätzlich gibt es in modernen Demokratien keinen Fraktionszwang. Abgeordnete sind bei Entscheidungen nur dem eigenen Gewissen verpflichtet, weder der eigenen Partei, noch ihren Wähler:innen. Natürlich ist ein bestimmtes Maß an Fraktionsdisziplin unabdingbar für Parteien. Schließlich wollen sie mit möglichst vielen Stimmen die Durchsetzung ihrer Interessen forcieren. Für Regierungsfraktionen wie die Rot-Grüne-Koalition in der Hansestadt gilt das erst recht. Im schlimmsten Fall kann mangelnde Fraktionsdisziplin in der Regierung zu politischer Instabilität führen.

Es ist allerdings höchst zweifelhaft, ob das auf den Fall Miriam Block zutrifft. Kann tatsächlich eine abweichende Stimme die Reputation der von der SPD angeführten Koalition beschädigen? Wohl kaum!

Außerdem, so steht es auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung, gibt es in Demokratien Entscheidungen, bei denen der Aufruf zur einheitlichen Abstimmung entfällt: Ethisch-moralische Fragen wie bei der Abstimmung zur Reform der Sterbehilfe oder politischen Grundsatzentscheidungen wie einem Einsatz der Bundeswehr.

Dass Block als überzeugte Antifaschistin für einen PUA stimmt und eben nicht für eine zahnlose “wissenschaftliche Aufarbeitung” der rassistischen Morde, lässt sich ohne große Mühe als politische Grundsatzentscheidung erkennen. Hier darf der Fraktionszwang nicht gelten!

Das Konzept der Fraktionsdisziplin nährt auch an anderer Stelle Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Entscheidung der 22 Grünen Abgeordneten. Lorenzen, der Fraktionsvorsitzende der Grünen, erklärte in einer Stellungnahme, dass Block gemeinsame Absprachen missachtet und gegen “geteilte Regeln der Kommunikation” verstoßen habe. Das klingt, als wenn der Fraktionsvorstand den innerparteilichen Diskurs zum Thema beenden wollen würde. Bloß keine Widerworte, weil sie die Geschlossenheit der Fraktion beschädigen würden.

Dabei räumt selbst eine geltende Fraktionsdisziplin den Abgeordneten das Recht auf öffentlichen Widerspruch ein. Kurz: Wenn ein:e Abgeordnete:r Zweifel an bestimmten Entscheidungen hat, darf diese:r auch öffentlich äußern. Auf keinen Fall darf man dafür bestraft werden.

Nach diesen Einwänden wird hoffentlich ersichtlich: Die Grünen sind mit ihrer Entscheidung, Block aus ihren Fraktionsämtern abzuwählen, deutlich über das Ziel hinausgeschossen. Die Reichweite ihrer Bestrafung wirkt völlig unverhältnismäßig und offenbart ein merkwürdiges Verständnis von Fraktionsdisziplin. Hier lässt sich zurecht eher von Fraktionszwang sprechen, weil mit aller Gewalt versucht wird, die Abgeordneten hinter der Parteilinie zu versammeln.

Statt kritische Stimmen in der eigenen Partei mundtot zu machen, sollten sich die Hamburger Grünen mit ihnen auseinandersetzen. Dann kommt die grüne Volkspartei auch nicht mehr so schnell in die Verlegenheit als “rückgratlos” bezeichnet zu werden. Das Wesen der Demokratie ist nun mal der Konflikt und nicht ein (erzwungener) Konsens.