Ahmad Ghrewati ist 34 Jahre alt und kommt aus Syrien. Ein Teil seiner Fluchtreise 2015 nach Deutschland verlief über das Mittelmeer. In Hamburg engagiert er sich bei der lokalen Gruppe der „Seebrücke“ und ist als überregionaler Sprecher Teil der Presse AG. KOPFZEILE hat mit ihm über seine Arbeit und die aktuelle politische Situation in Europa und auf dem Mittelmeer gesprochen.
KOPFZEILE: Hallo Ahmad. Kannst du dich unseren Leser:innen einmal vorstellen und erzählen, wie du zur Seebrücke gekommen bist?
Ahmad Ghrewati: Ich bin Ahmad und komme aus Syrien. 2015 sind mein Bruder und ich nach Deutschland geflohen. Ein Teil meiner Flucht verlief über das Mittelmeer, von Izmir in der Türkei nach Griechenland. Ich war gezwungen, diesen Weg zu nehmen und Syrien aus politischen Gründen zu verlassen. Auf meiner Flucht, die insgesamt ungefähr zwei Wochen dauerte, habe ich bereits die fehlende Menschlichkeit und den brutalen Umgang der Grenzsoldaten mit den Geflüchteten bemerkt. In Deutschland war ich dann zwei Jahre lang in Geflüchtetenunterkünften, häufig am Stadtrand, isoliert, bis ich eine Wohnung gefunden habe.
Irgendwann habe ich die Gruppe “Diaspora Salon” in Hamburg kennengelernt und konnte wieder politisch aktiv werden und in Austausch mit der Gesellschaft gehen, vor allem zum Thema (Anti-)Rassismus.
2018 habe ich die große Demo der Seebrücke an den Landungsbrücken gesehen. Alles war orange, in den Farben der Seebrücke. Für mich war das das erste Mal, dass ich die Seebrücke kennengelernt habe.
2022 hat mir eine Freundin erzählt, dass sie bei der Seebrücke tätig ist. Seit ca.10 Monaten bin ich dort auch aktiv und ein Teil der lokalen Gruppe in Hamburg. Außerdem bin ich Teil der überregionalen Presse AG als überregionaler Ansprechpartner.
KOPFZEILE: Kannst du deine Rolle bei der Seebrücke näher erläutern?
Ahmad Ghrewati: Als überregionaler Sprecher verfolge ich kontinuierlich die Entwicklungen in der Asylpolitik und auf den Fluchtwegen nach Europa, sowie bei der Seenotrettung im Mittelmeer um die Gesellschaft darüber zu informieren. Dazu gehören die sich verschlechternde humanitären Situation von Migrant:innen in Libyen und Tunesien und der Rassismus, dem sie auch an den europäischen Grenzen ausgesetzt sind. Als Teil der Ortsgruppe in Hamburg leiste ich meinen Beitrag als Aktivist gegen Rassismus und Hass. Gemeinsam mit meinen Genoss:innen kämpfen für eine humane Einwanderungspolitik, die auf Solidarität und Menschenrechten basiert.
„Die Seebrücke ist eine breite zivilgesellschaftliche und antirassistische Bewegung, die sich für die zivile Seenotrettung, für sichere Fluchtwege und für eine menschenwürdige Aufnahme und das Bleiberecht von geflüchteten Menschen in Deutschland und der Europäischen Union einsetzt. Die Seebrücke organisiert Demonstrationen und Aktionen, um auf die Situation an den europäischen Außengrenzen amferksam zu machen und politische Veränderung einzufordern.“ – Ahmad, Seebrücke Hamburg
KOPFZEILE: Wie sieht eure lokale Arbeit hier in Hamburg aus?
Ahmad Ghrewati: Wir unterstützen jede Bewegung, die sichere Fluchtwege unterstützt. Wir organisieren Demos und nehmen an den Demos anderer Gruppen teil. Wir versuchen, uns bei jeder antirassistischen Aktion zu beteiligen. Vor kurzem haben wir uns an einem Theaterstück in der St. Katharinen Kirche beteiligt, anschließend gab es eine Podiumsdiskussion mit der Klimaaktivistin Elisa Baş und Dariush Beigui, dem Kapitän eines Rettungsschiffs. Wir haben auch eine Mahnwache veranstaltet, für die 76 Menschen, die vor einigen Wochen auf der Flucht ertrunken sind. Außerdem gehen wir gegen die brutalen Abschiebungen vor, die wir immer wieder erleben.
Hauptsache, sie können alle abschieben
KOPFZEILE: Fast 12.000 Menschen wurden 2021 aus Deutschland abgeschoben. Wie nimmst du die immer schärfer werdenden Abschiebungsgesetze wahr?
Ahmad Ghrewati: Es gibt keine Gnade mehr. Es gibt Abschiebungen in die Türkei in Erdbebengebiete.* Es gibt Abschiebungen in den Iran, wo die Revolution noch ganz frisch ist, wo die Menschen immer noch in der Revolutionsphase sind, wo Frauen gar keine Rechte haben, wo Menschen ermordet und gefoltert werden, wenn sie sich gegen die Islamische Republik wehren.** Menschen landen hier in Hamburg oder in Berlin am Flughafen um Asyl zu beantragen und dann wird das abgelehnt. Sie sind vor diesem System geflohen und die bringen sie einfach zurück. Die Überlegung von Nancy Fraeser (SPD, Anm. d. Red.) ist jetzt, Abschiebungen nach Afghanistan durchzuführen. Ich habe das gelesen und konnte es nicht glauben. Wir sprechen hier von einer geplanten Kooperation mit dem Regime der Taliban. Die Menschlichkeit wird die ganze Zeit verletzt. Ich denke dann manchmal, es ist ihnen wirklich egal. Sie würden auch mit dem Teufel kooperieren – Hauptsache, sie können alle abschieben.
* Über eine Vortragsreihe zu den Erdbeben vom 6. Februar, 20 Februar und 27. Februar in Syrien und der Türkei, bei welchen über 56.000 Menschen starben, berichte Kopfzeile hier.
** Zu der von der Ermordung der Kurdin Jina Mahsa Amini ausgelösten Revolution im Iran veröffentliche Kopfzeile drei Texte, zu lesen hier, hier und hier.
KOPFZEILE: Was gibt es für Möglichkeiten, Menschen, die von Abschiebungen bedroht sind, zu unterstützen?
Ahmad Ghrewati: Wir berichten davon, auf sozialen Medien und unserer Website. Wir organisieren und beteiligen uns an Aktionen, darunter Blockaden an Flughäfen.
Am 21. Februar 2023 wurde Hakkı in die Türkei abgeschoben, obwohl er fast acht Jahre lang in Deutschland lebte. Er kommt aus dem Erdbebengebiet und hat keine Unterkunft, keine Chance dort zu leben. Mehr als 46.000 Menschen sind aufgrund des Erdbebens gestorben. Viele Überlebende flohen in den Norden der Türkei. Die Städte dort haben keine Kapazitäten mehr, sie befinden sich in einer katastrophalen Lage. Die Entscheidung, ihn in das Erdbebengebiet abzuschieben war ein großer Schock. Seit dem Erdbeben sind zwei Monate vergangen und bis heute wurden syrischen Geflüchteten aus dem Gebiet nur 46 Visa erteilt. Verdienen sie kein Asyl, nachdem das Erdbeben die Überreste ihrer Häuser und Besitztümer zerstört hat? Es ist ein Trauma nach dem anderen. Die Polizei ist dann eine halbe Stunde später gekommen als geplant und hat einen anderen Eingang gewählt, um die Leute zu verwirren. Trotz unserer Blockade war Hakkı dann schon im Flugzeug, sie haben es geschafft, ihn abzuschieben. Um Hakkı zurückzuholen wurde eine Petition gestartet.
Ich kann mir schon vorstellen, dass wir mehr Polizeigewalt erleben werden.
KOPFZEILE: Wie groß ist das Risiko staatlicher Repressionen bei Blockaden und anderen Aktionen?
Ahmad Ghrewati: Ich kann mir schon vorstellen, dass wir mehr Polizeigewalt erleben werden. Zum Beispiel auf der Demo für Hanau* in Veddel. Das war eigentlich eine Demo gegen Rassismus, für die Ermordeten. Alles war friedlich, es ist nichts passiert und trotzdem war die Polizei am Ende brutal. Sie haben zwei Personen verhaftet. Es war so viel Polizei, allein auf einer Straße konnte man über 15 Polizeiautos zählen.
* Über den rassistisch motivierten Terroranschlag in Hanau berichtete Kopfzeile hier.

Das ist wie ein Krieg.
KOPFZEILE: Auch die Seenotrettung wird immer stärker kriminalisiert. Welche Folgen hat das?
Ahmad Ghrewati: Der Faschismus in Europa wächst. Das merkt man zum Beispiel an der faschistischen Regierung in Italien. Unter Meloni gibt es jetzt ein neues Dekret: Jedes Schiff darf nur eine Rettungsaktion durchführen und muss danach sofort zurück in den italienischen Hafen. Auch wenn 50 Meter neben dem Rettungsschiff ein Boot untergeht, darf das Schiff nicht stoppen. Für jede zusätzliche Rettungsaktion beträgt die Strafe bis zu 50 000 Euro. Und nicht nur das, die italienische Regierung kann vorschreiben, an welchem Hafen das Schiff anlegen muss. Wenn der Hafen dann über hundert Stunden entfernt ist, ertrinken in dieser Zeit weiter Menschen. Die italienische Küstenwache ignoriert die Hilferufe von Schiffen und rettet die Menschen nicht. Und es werden immer wieder Rettungsschiffe beschlagnahmt, darunter zum Beispiel die „Iuventa“ oder die „Louise Michel“. Die Regierung blockiert die Seenotrettung und diese Blockade führt zum Tod.
Deutschland ist auch auf diesem Weg. Man sieht an den letzten Gesetzen, dass auch die deutsche Regierung die Seenotrettung verhindern möchte, obwohl sie etwas anderes behauptet. Darunter die letzte Überlegung von Volker Wissing (FDP, Anm. d. Red.): Eine neue Schiffsicherheitsverordnung soll das Leben der Geflüchteten im Mittelmeer sicherer machen. Aber es ist genau umgekehrt, durch das Gesetz müssten teure Anpassungen im Equipment und an den Schiffen vorgenommen werden, was auch bedeutet, dass die Schiffe für währenddessen nicht im Einsatz sein können.
Die Frage ist, warum sind seit 2014 über 25.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken? Das liegt nicht an einer fehlenden Schiffssicherheitsverordnung, sondern an Gesetzen, die die Seenotrettung verhindern.
Das ist wie ein Krieg, ein brutaler Krieg gegen Geflüchtete, Frauen, Kinder, die gezwungen sind wegen Krieg und Hunger zu fliehen.
KOPFZEILE: Welche Entwicklungen gibt es aktuell auf den Fluchtwegen über das Mittelmeer?
Ahmad Ghrewati: Zum einen die Situation in und vor Libyen. Die libysche Küstenwache zwingt die Seenotrettungsschiffe mit Waffengewalt, zurückzufahren, auch in internationalen Gewässern, in denen sie sich nicht einmischen dürfen. Sie schießen direkt neben die Schlauchboote der Geflüchteten auf dem Weg in italienisches Gewässer, um ihnen Angst zu machen. Dann sammeln sie die Menschen ein und bringen sie zurück nach Libyen. Wir kennen alle die Berichte von Folter und Sklaverei in Libyen. Mittlerweile gibt es von all dem Fotos und Videoaufnahmen. Alle europäischen Politiker haben Zugang dazu, aber sie tun so, als ob sie die Bilder nicht gesehen haben. Das motiviert diese Gruppen, weiterzumachen, mit ihrer Gewalt. Das ist grausam und barbarisch und Europa unterstützt das alles.
Vor Kurzem habe ich eine Rede von Buba gelesen. Er ist Überlebender an Bord der Humanity 2. Buba sagte: „Ich war mir bewusst, wie gefährlich es ist, das Meer zu überqueren, aber wissen Sie, es ist besser im Mittelmeer zu sterben.“ Ich denke, wir sollten alle intensiv über seine Worte nachdenken.
Eine weitere Entwicklung im Mittelmeerraum ist die Einwanderung von Tunesien nach Italien. Die Migrationsbewegungen nehmen zu und die Zahlen der Ertrunkenen steigen. Der Grund ist die Verfolgung von Migrant:innen aus Ländern südlich der Sahara durch die tunesischen Behörden, nachdem diese ihnen einen Aufenthaltstitel verweigert haben. Im März sind vier Boote vor Tunesien ertrunken, es gibt mindestens 5 Tote und 33 Vermisste. Trotzdem riskieren die Menschen ihr Leben bei der Flucht.
Kais Saied, der Präsident von Tunesien, schürt Hass gegen schwarze Migrant:innen, und macht faschistische Aussagen über die Demografie des Landes. Deswegen ist die Regierung dort gerade sehr brutal.
Die europäischen Regimes übernehmen ihre Verantwortung nicht.
KOPFZEILE: Von rechten und konservativen Medien und Politiker:innen werden Schlepper und Seenotrettung häufig gleichgesetzt. Welche Auswirkungen hat das?
Ahmad Ghrewati: Es ist ein rassistischer Kampf gegen humanitäre Aktionen, der medial geführt wird. Menschen, die keinen Kontakt mit Organisationen wie der Seebrücke haben, glauben diese Vorwürfe vielleicht. Das verhindert die Finanzierung von Seenotrettungsarbeit. Die NGOs brauchen Spenden, für Equipment, Renovierung, Mechanik. Die Kriminalisierung der Seenotrettung ist ein Verbrechen an sich.
Die europäischen Regimes übernehmen ihre Verantwortung nicht. Sie retten die Menschen nicht. Sie fahren nicht hin, sie ignorieren die Hilferufe. Deswegen sind die NGOs gezwungen, ihre menschliche Pflicht zu leisten und die Verantwortung zu übernehmen, die alle Menschen haben sollten. Dazu gehören auch die Spenden von Menschen, die über ein politisches und soziales Bewusstsein verfügen.
Immer mehr Menschen werden über das Mittelmeer fliehen.
KOPFZEILE: Was glaubst du sind Wege, mehr gesellschaftliches Engagement zu erreichen?
Ahmad Ghrewati: Ich glaube, was helfen kann, sind mehr Aktionen auf den Straßen und Berichte auf sozialen Medien. Und reden, reden, reden das ist so wichtig, dass wir darüber reden. Mit der Familie, mit den Kollegen:innen auf der Arbeit, mit dem Freundeskreis. Wir müssen andere darüber informieren, was gerade in der Gesellschaft passiert.
Wir haben eine junge Generation, die große Aufmerksamkeit auf Klimaschutz legt. Klimakatatstrophen führen am Ende auch zu Migration und Flucht und Hunger. Immer mehr Menschen werden über das Mittelmeer fliehen. Wir müssen als aktivistische Gruppen kooperieren und die Themen miteinander verbinden.

KOPFZEILE: Wie können sich Menschen mit euch in der Ortsgruppe engagieren?
Ahmad Ghrewati: Wir freuen uns sehr auf jede Person, die Lust hat, gemeinsam mit uns diese humanitäre Arbeit zu machen. Auf unserer Website findet ihr unsere Kontaktdaten. Aktuell treffen wir uns jede Woche. Ab und zu machen wir auch gezielt offene Plena, um in Austausch zu gehen, und zu zeigen, wie unsere Arbeit aussieht. Aber Menschen, die spontan zu uns kommen möchten, sind immer willkommen. Jede Person die unsere politischen Ziele unterstützt ist bereits Teil der Bewegung.
In den ersten drei Monaten des Jahres 2023 starben 441 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer.
2022 starben 1940 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer.
40% der Fluchtversuche werden von der Küstenwache gestoppt.
2018 wurden über 15.000 Flüchtende von der libyschen Küstenwache abgefangen und zurück nach Libyen gebracht.