Buchrezension: „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung.“

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„In Deutschland muss über den Osten grundsätzlich anders gesprochen werden, vor allem die seit nunmehr 30 Jahren bestehenden systematischen Verächtlichmachungen sowie die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen über den Osten müssen aufhören.“ Dies fordert Dirk Oschmann bereits im Vorwort seines Buches „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung.“ Dabei wird ein wichtiges Thema in der Bundesrepublik Deutschland – rund 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – deutlich: Wie schaffen wir es, als ein Land zu denken und die Unterschiede zu überwinden?

Im Februar 2023 veröffentlichte Dirk Oschmann, ein promovierter Literaturwissenschaftler und Professor an der Universität Leipzig, das Buch „Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung.“ Hintergrund ist eine erweiterte Fassung eines Artikels des Autors vom vierten Februar 2022 in der FAZ, mit dem Thema, wie sich der Westen im Osten entwickelt. Die zum Teil scharfen Reaktionen auf diesen Artikel lassen es laut dem Autor geboten, nicht nur die Argumentation zu ergänzen und zu präzisieren, sondern auch die die Vor- und Nachgeschichte des Artikels zu betrachten. Auf rund 200 Seiten stellt Oschmann in neun Kapiteln insgesamt eine Gegenwartsentwicklung dar, wie der Osten im vereinigten Deutschland dasteht und wie eine langfristige Stabilität, bereits in der westlichen Konstruktion vom Osten positive Veränderungen bewirken können.

In den Kapiteln eins bis drei, geht es zum einen um die Hintergründe des Autors, als Ostdeutschen selbst, aber auch um die Frage, welche Geschichte erzählt werden soll. So wird im ersten Kapitel direkt deutlich, dass Dirk Oschmann das Ziel verfolgt nach rund 30 Jahren Wiedervereinigung, eine Zustandsbeschreibung der Gegenwart mit Blick in die Vergangenheit zu vollziehen. Es soll nicht um das Problemfeld „Osten“ gehen, sondern darum, wie der Westen den Osten wahrnimmt und diskursiv zurichtet. So ist der Osten in den Augen des Westens nur laut, dunkel, primitiv und nicht der Norm entsprechend. Der Westen hingegen ist hell, wohlklingend und kultiviert. Im zweiten Kapitel beschreibt Oschmann drei Anfragen zu Diskussionsveranstaltungen. Bei allen Veranstaltungen ist er selbst als jemand aus dem Osten gefragt. Während Oschmann die erste Einladung absagt, wird ihm klar, dass die deutsch-deutschen Fehlentwicklungen nur dann kritisch betrachtet werden können, wenn er eingeladen wird und auch das Wort ergreift. Nur dann kann der Diskursherrschaft des Westens etwas entgegengesetzt werden. Im dritten Kapitel geht es um die Herkunft. Sofern jemand aus der DDR ist, so wird dieser als diktatursozialisiert, obrigkeitshörig und kommunistisch abgestempelt. Aus Sicht des Westens ist der Autor ein „Ostdeutscher“. Dennoch ist Oschmann vor allem mit den Westmedien aufgewachsen. In vielen Haushalten war der Westen das „gelobte Land“, an dessen Leben man teilhaben wollte. Zwar leben die Menschen seit 1989 mit einem neuen Lebensgefühl in Freiheit, jedoch ohne Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft. Hinderlich daran sind die institutionellen Strukturen, die es den Menschen in Ostdeutschland verwehren, in die gesellschaftlich relevanten Bereiche, wie der Wissenschaft oder in die Politik zu gehen. Außerdem gibt es in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung deutlich weniger Vermögen und damit schlechtere Startbedingungen als in Westdeutschland.

In den Kapiteln vier bis sechs, geht es vorranging um die Zuschreibungen des Ostens. Im vierten Kapitel geht es zum einen um die Historie des Ostens selbst, aber auch deren Entwicklung im gesamtdeutschen Raum. Bereits in Zeiten der Industrialisierung, ist der Osten schmutzig und dreckig. Daraus wird deutlich, dass dieser bereits früh ein schlechtes Image hat, was durch die historische Komponente verstärkt wird. Zudem wird den Menschen die Demokratiefähigkeit vom Westen abgesprochen. Trotz der friedlichen Revolution, ausgegangen von der Bevölkerung, der die DDR zum Zusammenbruch brachte. Wenn jedoch die Menschen nicht ausreichend repräsentiert und ernstgenommen werden, dann gerät die Demokratie und das Vertrauen in die Politik ins Wanken. Im fünften Kapitel geht es um den „Osten des Ostens“, nämlich Sachsen. Dieser hat ein insgesamt schlechtes Image. Sei es der sächsische Dialekt oder auch die Probleme mit rechten Gruppierungen, wobei letzteres ein gesamtdeutsches Problem ist. Diese Zuschreibungen werden, als Paradebeispiel für den gesamten ostdeutschen Raum gesehen, weshalb die Heterogenität nicht wahrgenommen wird. Stattdessen wird von Sachsen auf den gesamten Osten geschlossen. Der Gedanke des schlechten im Osten wird auch im Kapitel sechs im Sport deutlich. Die DDR war hinter den USA und der Sowjetunion eine wichtige und auch erfolgreiche Sportnation. Dass es Doping im Sport sowohl im Westen als auch im Osten gab ist unstrittig. Dennoch wurde dies von der BRD, die schlechter als die DDR war, immer wieder auch nach der Wiedervereinigung thematisiert. Neben dem Doping ging es bei den sportlichen Ehrungen, mit der Differenzierung und bewussten Diffamierung weiter.

In den Kapiteln sieben bis neun, geht es zum einen um die Reaktionen des Artikels von den Autoren selbst, sowie die Entwicklung in der Kunst des Ostens und abschließend, wie das Land zusammenwachsen kann. Die Reaktionen auf den FAZ Artikel im siebten Kapitel reichten von recht positiven bis stark negativen Rückmeldungen, wobei die negativen Rückmeldungen von westdeutschen Männern über 70 Jahren gekommen sind, die ein Gespräch auf Augenhöhe vehement ablehnten. Oschmann erklärt sich das so, dass gerade die älteren Menschen die Kritik nicht akzeptieren, da sich der Westen doch um die Ostdeutschen bemüht habe und stehts mit gutem Willen gehandelt habe. Daher könne man dies doch nicht so kritisieren. Die Kritik, gerade von dieser Personengruppe, zeigt auch, dass der Text nur dann als etwas gilt, wenn die Zustimmung des Westens vorliegt. Im achten Kapitel geht es um die Kunst. Dabei zeigt sich der Ausschluss in der Literatur und der bildenden Kunst. In der Literatur geht es um das Textgedächtnis, also um die maximale Deutungshoheit. Dies ist insofern wichtig, „da wer bestimmt was gewesen ist, auch derjenige ist, der bestimmt was sein wird“. Die Literatur aus Ostdeutschland verschwindet zunehmend in der Bildung in den Schulen, da diese aus dem Osten kommt und folglich nichts wert sein kann. Die Schriftstellerin Irina Liebmann, vergleicht die Herkunft aus Ostdeutschland mit Long Covid – Eine Krankheit, die man nicht mehr loswerde. Beim Bildgedächtnis ist es leichter dies aus der Öffentlichkeit zu bringen, da diese einen institutionalisierten Rahmen braucht, um gesehen zu werden, wie bspw. in Museen. Die Unsichtbarkeit zeigte sich in der Ausstellung 60 Jahre, 60 Werke der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009, indem kein einziges Werk aus Ostdeutschland dabei war. Im letzten Kapitel geht es um die Probleme aber auch um die Maßnahmen um die Gesellschaft zu kitten. Sicher ist, dass das Problem für die Demokratie umso größer wird, je weniger der Westen es nicht hören und sich damit nicht befassen möchte. Denn die Menschen werden erst im Westen zu Ostdeutschen. Der Autor ist der Meinung, dass sich dieser Ton verändern muss, aber auch die Repräsentation von Menschen aus den neuen Bundesländern. Wenn dies nicht funktioniert, festigt dies nicht das Vertrauen in die Demokratie. Ganz im Gegenteil. Außerdem muss der Osten Wege finden einen Raum öffentlichen Sprechens und Verhandelns zu schaffen in dem sich der Westen und Osten auf Augenhöhe begegnen. Dazu gehört auch gleiche Lebenschancen, gleiche Löhne für gleiche Arbeit und gleiche Renten politisch ernsthaft umzusetzen. Außerdem muss der Westen aufhören das West-Ost Schema zu bedienen und den historischen Reichtum der unterschiedlichen Regionen zu sehen.

Insgesamt schlägt Oschmann einen starken und direkten Ton an. Dies räumt er auch selbst ein, mit der Begründung, dass es unzählige Texte gebe, die auf Ausgleich setzen würden, aber dennoch nichts zur Veränderung in der Haltung und im Denken beigetragen haben. Schließlich geht es, wenn sich die Realitäten nicht verändern um die Gesellschaft in Deutschland und schlussendlich um unsere Demokratie. Das Buch hat meines Erachtens den Anspruch und auch die Wirkung, den Diskurs entscheidend zu beeinflussen und den Westen einen Spiegel vorzuhalten. In vielen geschilderten Situationen in dem Buch löst dies beim Lesen einen Reflex aus, dass der Zustand, in dem wir uns aktuell in diesem Land befinden so nicht tragbar ist und dringend überdacht werden muss, aber auch eigene bisherige Denkweisen mit jeder Seite des Buches hinterfragt bzw. neu gedacht wird. Es bietet die Chance das eigene bisherige Handeln zu reflektieren und daran zu arbeiten Vorurteile abzubauen.

Die Botschaft ist klar, Oschmann möchte, auch durch seine berufliche Position als einer der wenigen Professoren an einer Ostdeutschen Universität, als Ostdeutscher, das Wort ergreifen und in die aktuelle Diskursherrschaft des Westens einschreiten und einen Perspektivwechsel erreichen. Dies ist ein Appell an jeden Einzelnen von uns, darüber nachzudenken, wie wir unser bisheriges Handeln anpassen können. Ein erster Schritt für diejenigen, die in den 30 Jahren noch nie in Ostdeutschland waren ist, dort hinzufahren und die fünf sehr unterschiedlichen Bundesländer und deren Menschen kennenzulernen. Wichtig ist, dass nicht nur die handelnden Akteure in der Politik oder anderen herausgehobenen Positionen des Staates, der Wirtschaft und Gesellschaft diese Perspektive mit aufnehmen, sondern auch jeder einzelne von uns in diesem Land: Damit wir wirklich an den Punkt ankommen, dass „Zusammenwächst, was zusammengehört!“ – Ein Land. Denn nur wenn man sich wirklich ernsthaft mit dem „anderen“ befasst, dann lernt man dies besser zu verstehen. Ein im kommenden Jahr wieder aktuelles Beispiel sind die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Da dürfen die Ergebnisse kein Aufschrei sein, sondern es muss vielmehr hinterfragt werden, warum die Menschen so wählen. Viel Erklärungskraft liegt auch in den Jahren nach der Einheit und politischen Entscheidungen. Das ist nicht nur ein Auftrag an die Politik, die Probleme ernst zu nehmen und wirklich anzugehen, sondern auch an die Medien, nicht in Alarmstimmung zu verfallen, sondern die Sorgen ernsthaft und reflektiert auf Augenhöhe darzustellen.