Fokus Gesundheitssystem: Erfahrungen, Eindrücke, Geschichten

Ein anonymer Bericht über Bodyshaming und den Besuch bei einer Gynäkologin. Foto: Karolina Grabowska

Im Gespräch stellten wir fest, dass viele Studierende, aber auch Bekannte und Familienmitglieder, schon einmal schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem gemacht haben. In dieser Serie wollen wir versuchen, insbesondere Studierenden einen Raum für ihre Erfahrungen zu geben, sie zu teilen und zu verarbeiten. In den Berichten geht es um Diagnosen und Gespräche mit Ärzten*Ärztinnen oder auch Therapeuten*Therapeutinnen. Letztendlich sollen diese persönlichen Erfahrungsberichte zum Nachdenken über unser Gesundheitssystem anregen. Die Redaktion versucht dabei immer Hintergrundinformationen zu den verschiedenen Themen zu liefern, die die Erfahrungen am Ende jedes Berichtes in einen Bezug setzen. Positive wie negative Erfahrungen sind willkommen!

II

“Stört Sie das?”

Ein persönlicher Erfahrungsbericht von Anonym

Mir ist es sehr unangenehm, überhaupt über meine Erfahrung zu schreiben – dennoch habe mich entschieden im Rahmen dieser Serie hier ein Erlebnis von mir zu teilen, über das ich bis heute nur den Kopf schütteln kann. Tatsächlich glaube ich, dass ein paar meiner Selbstzweifel und einige toxische Einstellungen, die ich zu meinem Körper hatte, durchaus durch diese Erfahrung befeuert wurden.

Aber was soll ich sagen – ich war gerade 18 und das erste Mal beim Frauenarzt. Beziehungsweise bei einer Frauenärztin. Wovon ich mir eigentlich irgendwie eine sensible Art erhoffte? Aber das war wohl sehr sexistisch von mir gedacht, denn letztendlich war die gute Frau das Gegenteil von einfühlsam. Und ja, ich war 18, also „offiziell“ erwachsen. Aber ganz ehrlich, ich weiß zwar nicht, wie ihr euch so mit 18 gefühlt habt… Aber ich war definitiv noch nicht „fertig“ im Kopf. Dazu kam, dass ich schon mit 16 den ganzen pubertären Selbsthass angestaut hatte, den viele Mädchen in diesem Alter bekämpfen. Wenn man mit 13 vielleicht noch dachte, man könne ja später wie die Frau auf dem Magazin aussehen, schließt sich ab 16 dieses Fenster so ziemlich. Mit 18 ist man dann eh komplett desillusioniert und muss sich der Realität hingeben (die ja auch nicht mal schlimm ist, aber halt nicht die Vogue). Hatte ich auch mehr oder weniger gemacht und immerhin hatte ich jetzt einen richtigen, echten, festen Freund. Ergo auch der Frauenarztbesuch.

Gut. Ich gehe also zu besagter Frauenärztin. Erster Frauenarzttermin, für alle Leser*innen ohne entsprechende Erfahrung: Ist wirklich absolut zum Nervöswerden, wenn man noch nie in dem gruseligen Stuhl mit den komischen Instrumenten gesessen hat. Und wirklich schön wird’s auch nie werden, Spoiler alert. Die Frauenärztin begrüßt mich also kurz, Brille und kurze braune Haare. Sieht eigentlich ganz nett aus. Ich setze mich.

Sie fragt mich warum ich hier bin. Ich druckse herum, die Essenz ist aber: Sex bitte, aber ohne die unerwünschten Nebenwirkungen. Und in dem Moment habe ich es überhaupt nicht hinterfragt, aber jetzt, Jahre später, frage ich mich schon, warum mir im Anschluss nur etwas über die Pille erzählt wurde und keine einzige andere Verhütungsmethode vorgestellt wurde. Nicht falsch verstehen, ich glaube ich habe sogar explizit nach der Pille gefragt – aber halt auch nur, weil es das Einzige war, was ich außer Kondomen kannte. Besonders viel erzählte sie auch gar nicht konkret über die Pille, außer, dass ich sie zu einer bestimmten Uhrzeit nehmen müsse und dass ich bei Magen-Darm-Sachen nicht mehr geschützt bin. Über Nebenwirkungen wurde mir nichts gesagt, zumindest kann ich mich an keine einzige erinnern, bis ich mir zu Hause dann den Beipackzettel mal durchgelesen habe. Dann fragte sie mich, was für andere Medikamente ich nehme. Ich sagte, Schilddrüsentabletten und hochdosiertes Johanniskraut gegen meine Depression. Und genau hier hätte vielleicht eine Red Flag bei ihr aufwirbeln müssen, aber nein. Sie sagte nur: „Oh. Okay. Ja, das kann man tatsächlich nicht zusammen nehmen. Da müssen sie dann aufhören, das zu nehmen. Die Pille verträgt sich damit nicht.“

Das Johanniskraut war damals meine relativ milde Alternative zu Psychopharmaka um meine Stimmung aufzubessern. Da ich aus dem Gröbsten raus war, war es jetzt nicht so dramatisch es abzusetzen, wenn auch ungünstig. Aber die Frauenärztin erwähnte mit keinem Wort, dass die Pille Stimmungsschwankungen auslösen und meine Depression verstärken könnte. Hätte ich damals gewusst, wie es mir nach einem Jahr Pille ging, hätte ich damals darauf verzichtet.

Zur Kontrolle tastete sie mir dann noch die Brust ab. Sie machte irgendeinen Kommentar über meine Körbchengröße, der mich nicht weiter störte. Dann musste ich auf den Stuhl. Es war alles halb so schlimm, aber während sie alles kontrollierte und ich super nervös und peinlich berührt an die Decke starrte, machte sie erstmal Bemerkungen übers Rasieren, ob mir das so besser gefalle. Super unangenehm, ich sagte nur sowas wie „Keine Ahnung, ja?“. Heute würde ich denken, dass das grenzüberschreitend ist und bei einer medizinischen Kontrolle überhaupt nichts verloren hat. Damals aber dachte ich: Was? Ist das komisch? Sie sieht doch jeden Tag Frauen, sehen die alle anders aus, ist das doof, mache ich was falsch?? Und dann, nachdem ich weiter konzentriert an die Decke starrte und mir das alles durch den Kopf schoss, kam der Oberhammer. „Ihre inneren Schamlippen sind ungleich groß, stört sie das?“ Die Bemerkung kam wie ein Schuss. „Was? Äh, nein, ich wusste nicht, dass…“, stammelte ich. Sie sagte nur: „Ja, die linke ist größer. Aber gut… Nicht schlimm… Wenn es Sie nicht stört…“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich nie damit beschäftigt oder irgendwas verglichen oder auch nur näher angeschaut oder hinterfragt… Genauso wie es ja auch sein sollte! Diese Ärztin, die täglich viele Frauen sah, fand mich aber offensichtlich komisch, ich war nicht „richtig“ und hatte es bis dahin nicht einmal gewusst. Die Schamesröte schoss mir in die Wangen, ich konnte nicht mehr denken, so peinlich war mir das Ganze. Sie dagegen rollte nur weg und ich durfte mich wieder anziehen. Zur Pille hatte ich dann keine Fragen mehr, ich nahm das Rezept und ging völlig verstört aus der Praxis.

Was war das???

Heute weiß ich, das war Bodyshaming. Von einer Person, der ich Vertrauen geschenkt hatte und die in der Verantwortung war, mit mir und meiner altersangemessenen Unsicherheit richtig umzugehen. Eigentlich. Damals wusste ich das aber nicht und den Begriff Bodyshaming kannte ich auch nicht. Ich fühlte mich bloß miserabel und fragte mich jahrelang, ob mit mir was nicht stimmte. Irgendwann merkte ich dann zwar, dass keiner meiner Partner sich jemals beschwert hatte, aber die Peinlichkeit und Unangemessenheit dieser Bemerkungen macht mich bis heute wütend. Gerade vor dem Hintergrund, dass ich offensichtlich psychische Belastungen mitbrachte und ich erst 18 war. Die Pille, die sie mir verschrieben hatte, brachte meine Psyche übrigens völlig durcheinander. Nach heftigsten Stimmungsschwankungen verschrieb mir eine andere Frauenärztin dann mildere Präparate. Ganz ohne waren die allerdings auch nicht und heute fahre ich besser ohne hormonelle Verhütungsmittel. Seitdem hat sich meine Stimmung stabilisiert und ich kann korrekt erkennen, wenn ich wirklich mal ein psychisches Tief habe. Ich wünsche mir, dass jungen Mädchen nicht einfach so die Pille verschrieben wird, sondern dass sie auf mögliche Nebenwirkungen hingewiesen werden, ohne diese zu verharmlosen (!). Und auch, was für sichere Alternativen es gibt. Und bitte, ein Appell an alle Ärzte* und Ärztinnen*: Lasst doch Kommentare zu den Körpern eurer Patienten einfach aus, solange sie nicht medizinisch relevant sind. Ist doch so schon unangenehm genug.

Anmerkung der Redaktion: Hintergründe zum Erfahrungsbericht

In diesem Beitrag wird aufgrund der besseren Lesbarkeit und der zum Gendern ungünstigen Grammatik der Berufsbezeichnung “Arzt“ nicht gegendert, wobei aber alle Geschlechter und Identifikationen selbstverständlich gemeint und miteingeschlossen sind. Studien, die spezifisch weibliche Stichproben untersuchten, werden auch nur auf Frauen bezogen. Dies bedeutet aber nicht, dass nicht-binäre Personen nicht auch betroffen sein könnten!

Die Hamburger Nonprofit-Bildungsorganisation „Pinkstinks“ klärt schon lange auf über Geschlechterrollen, Abwertung aufgrund von Geschlecht in Medien und Werbung sowie Sexualität. In der „Schule gegen Sexismus“ kann sich jeder, ob jung oder alt, über diese Themen informieren und dazulernen. Und hier wird auch ganz eingängig erklärt, warum man Kommentare zu Körpern lieber einfach lassen sollte: Selbst ein nett gemeintes Kompliment könne nämlich bspw. eine Störung der Körperwahrnehmung verstärken oder schlichtweg unangemessen sein. Da man die Geschichte einer Person oft nicht vollständig kenne, kann ein „Du siehst schlank aus“ auch sehr verletzend sein, sollte die Person vielleicht gerade eine Krankheit hinter sich haben. Generell gilt, dass Kommentare zu Körpern den Aufmerksamkeitsfokus zu sehr auf die Dinge lenken, die eigentlich nicht wichtig sein sollten. Sowohl für den Kommentierenden als auch für den Kommentierten. Doch ist das Ärzten eigentlich klar?

Konkrete Statistiken zu Bodyshaming-Erfahrungen im Gesundheitssystem gibt es nicht, natürlich auch keinerlei Statistiken zu Frauenärzten. Berichte über Fatshaming gibt es zwar immer wieder, aber der Begriff Bodyshaming, der ja nun mal alle Körperformen und jeden Teil davon umfasst, taucht in diesem Zusammenhang nur vereinzelt auf. Vor allem Schwangere sind im Gesundheitssystem öfter von Bodyshaming betroffen, so finden sich zumindest einige Berichte über solche Erlebnisse – unter anderem der Stern berichtete. Dennoch scheint es diese Erlebnisse auch bei Nicht-Schwangeren zu geben. Denn auch wenn es keine offiziellen Zahlen oder Berichte gibt: Stöbert man etwas länger in diversen Foren oder Blogs, findet man einige Berichte. Dies kann unter Umständen natürlich sehr schambehaftet sein, weshalb ein offizielles Sammeln solcher Beschwerden schwierig werden dürfte. Eine mutige Betroffene berichtet sehr offen auf ihrem Blog, dass sie schon öfter abwertende Kommentare über ihre angeblich zu großen Brüste hinnehmen musste („Das ist ja auch nicht mehr schön“) und sich von ihrem Gynäkologen zu einer Brustverkleinerung gedrängt gefühlt habe. Analog zu dem Erfahrungsbericht in unserer Serie hier, lastet wohl auch ein derartiges Stigma auf „zu großen“ inneren oder äußeren Schamlippen. So zumindest berichtet es so das deutsche Ärzteblatt und weist auf den besorgniserregenden Trend zur Intimchirurgie (z.B. „Schamlippen-Verkleinerung“) hin. Gerade Mädchen und junge Frauen gerieten zunehmend unter Druck, einem neuen und unrealistischen Intimideal zu entsprechen. Die groß angelegte Befragung „International Vaginal Dialogue Survey“ stellte schon 2004 fest, dass 61 Prozent der befragten Frauen Bedenken bezüglich des Aussehens der eigenen Vagina hätten. Die Zahl der medizinisch nicht notwendigen Schönheitsoperation im Intimbereich stiegen dabei, berichtete das Ärzteblatt.

Bodyshaming ist ein Problem. Eine repräsentative Umfrage von 2020, durchgeführt von YouGov, fand heraus, dass schon 25 Prozent der Deutschen Erfahrungen mit Body Shaming machen mussten. Besonders häufig seien Frauen betroffen. Zwar kämen diese Kommentare oft von Familienmitgliedern, Freunden oder Arbeitskollegen. Doch gerade medizinisches Personal hat tagtäglich mit Körpern zu tun. Hinweise auf medizinisch nicht relevante Körpermerkmale müssen nicht sein. Eine Studie des Connecticut College fand heraus, dass Fatshaming bei den Patienten Stress erzeugte. Dies könne dazu führen, dass Patienten das Gesundheitswesen in Zukunft meiden. Davon abgesehen könnten Ärzte durch negative Stereotype voreingenommen sein und die Studie argumentiert, dass Fatshaming somit auch ein Behandlungsfehler sei. Tatsächlich steigt das Bewusstsein hierfür mehr und mehr. Medizinstudenten an der Uniklinik Tübingen üben inzwischen Patientengespräche mit „Adipositas-Anzug“ in Rollenspielen, um das Bewusstsein für mögliche Vorurteile zu stärken und den korrekten Umgang mit Patienten zu üben. Doch Fatshaming ist nur ein Aspekt eines größeren Problems. Fatshaming schließt nicht alle Körperformen mit ein – jede Person, egal wer, kann nämlich von Bodyshaming betroffen sein. Egal ob das ein Kommentar zu Gewicht, Nase, Körperbehaarung oder etwas anderem ist, was eigentlich nur die eigene Person etwas angehen sollte. Es ist also interessant, wie sich die wenigen Konzepte und Informationen und Fatshaming auf Bodyshaming übertragen lassen. Hierzu wären also auch Forschung, Erhebungen, Weiterbildungen und Maßnahmen wünschenswert.

Die Anti-Baby-Pille wurde 2020 übrigens einem Drittel der jungen Frauen und Mädchen zwischen 14 und 19 Jahren verschrieben. Ein leichter Abwärtstrend ist zu verzeichnen, vergleicht man die Zahlen mit 2015: Waren es damals noch 67 Prozent der 18-Jährigen, die die Pille nahmen, waren es 2020 „nur noch“ 50 Prozent. Die Aufmerksamkeit für die Nebenwirkungen von hormoneller Verhütung scheint etwas gestiegen zu sein. Der Blog „Generation Pille“ beispielsweise informiert schon lange über die Nebenwirkungen hormoneller Verhütung und ist inzwischen so erfolgreich, dass sie Kurse zur Unterstützung beim Absetzen der Pille anbieten. Der Hormonhaushalt soll sich so langsam wieder einpendeln. Die Gründerin Isabell Morelli hatte selbst psychische Veränderungen durch die Einnahme der Pille erlebt und veröffentlichte seitdem die Bücher “ByeBye Pille” und “Kleine Pille, große Folgen”. Darin wird detailliert beschrieben, wie sehr Hormone unsere Stimmung beeinflussen und wie hormonelle Verhütungsmittel in den natürlichen Haushalt eingreifen können. Schaut man sich die Follower-Zahlen von Generation Pille an, wird klar, dass das Thema Anklang zu finden scheint.

Die Pille war und ist ein Symbol der sexuellen Revolution und der Rechte der Frau, über ihren eigenen Körper zu bestimmen. Ohne die Erfindung hormoneller Verhütung wäre vielleicht vieles anders gekommen. Und für viele Frauen* funktioniert das Verhüten mit Hormonen auch einwandfrei. Doch beim Verschreiben und Einnehmen sollte individuell entschieden werden. Eine dänische Studie kommt zu dem Schluss, dass die Pille nicht depressiv „macht“ – aber bei einem erhöhten Risiko oder einer depressiven Vorerkrankung könnte der Einfluss der Pille auf die Stimmung schwere Folgen haben. Und dies gilt besonders bei Mädchen und jungen Frauen zwischen 15 und 19 Jahren – hier sei das Risiko einer Depression besonders hoch.

Argumentiert wird oft mit der hohen Sicherheit der Pille, die einen sehr guten Pearl-Index (Maß für die Wirksamkeit von Verhütungsmitteln) hat. Doch rechnet man die Einnahmefehler mit ein, die bei der Pille auftreten, und vergleicht die Anwendungssicherheit mit anderen Verhütungsmethoden, steht sie plötzlich nicht mehr ganz so gut da. Das liege daran, dass der Pearl-Index nichts mit der Realität zu tun habe und der realistischere Methoden- oder Gebrauchsindex kaum angeführt werde, schreibt „Generation Pille“. Studien legen nahe, dass die Pille zwar sehr beliebt ist, aber dass das umfassende Wissen über die Wirkungsweise verschiedener Verhütungsmittel oft fehlt. Es sei also durchaus möglich, dass die Pille vor allem aus Unwissenheit so beliebt ist und Alternativen und Informationen nicht umfangreich genug vermittelt werden. Über zahlreiche Nebenwirkungen wie Thrombosen, Verlust der Libido und Stimmungsveränderungen weiß nicht jeder Bescheid – aber auch nicht jeder leidet darunter, und die Studienlage ist teilweise schwammig. Letztendlich muss schlichtweg genügend informiert werden, um jeder Person eine differenzierte Entscheidung zu ermöglichen.

Übrigens: Nachdem an der Hormonspritze für Männer zunächst nicht weiter geforscht wurde wegen zu hoher Nebenwirkungen, gibt es jetzt ein hormonelles Gel für Männer, welches sich noch in der Entwicklung befindet. Der Abbruch der Weiterentwicklung der Hormonspritze für Männer wegen zu hoher Nebenwirkungen löste eine heftige Diskussion über Gleichberechtigung in der Verhütung und Pharmaindustrie aus. Was das neue Gel bringen wird und ob die hormonelle Verhütung für Männer es tatsächlich auf den Markt schafft, wird sich zeigen.