Eineinhalb Wochen nach dem verheerenden Erdbeben an der Türkisch-Syrischen Grenze laden zwei Hamburger Studierendengruppen zu einem Vortrag über die aktuelle Situation. Für die Veranstalter:innen ist klar, dass das Beben vom 06. Februar eine hochpolitische Angelegenheit ist. Während die machthabende AKP-Partei unter Präsident Erdoğan von einem unvorhersehbaren natürlichen Desaster spricht, sind sie überzeugt, dass unter einer anderen Politik die humanitäre Katastrophe hätte verhindert werden können. Kopfzeile war bei der Veranstaltung dabei.
Von Verena Muehlberger
Die Hochschulgruppe „Internationaler Jugendverein“ und der Jugendverband der Föderation Demokratischer Arbeitervereine, die DIDF-jugend, luden am vergangenen Freitagabend zu einem Vortrag über die aktuelle Situation im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien. Dort erschütterte vor zwei Wochen ein Erdbeben der Stärke 7.8 die Erde und forderte mehr als 47.000 Menschenleben. Ziel des Abends war es, die Lage in der Erdbebenregion darzustellen. Die beiden Gruppen der Universität Hamburg wollten aufzeigen, wie wichtig es ist, zu helfen, aber auch zu hinterfragen, wie es zu einer so großen humanitären Katastrophe kommen konnte.
Der Vortrag drehte sich vor allem um die Situation in der Türkei. Der türkischstämmige Redner Doğuş Bidal hat sich in den letzten zwei Wochen viel mit dem Thema beschäftigt, gerade auch mit Blick in die Vergangenheit: 1999 gab es ein verheerendes Erdbeben rund um die türkische Stadt Gölcük, bei dem 18.000 Menschen starben. Nach der Katastrophe wollte die Türkei für zukünftige Wiederholungen besser vorbereitet sein. Wissenschaftler:innen warnten nämlich immer wieder vor erneuten, noch stärkeren Beben. Das Fazit Bidals am Freitag war jedoch ernüchternd. Die präventiven Maßnahmen, die nach 1999 eingeführt wurden, seien nicht konsequent umgesetzt worden, sagt er.
In Folge der Katastrophe von Gölcük wurde eine Erdbebensteuer eingeführt. Das eingenommene Geld sollte in die Erdbebensicherheit der Bevölkerung fließen, alte Gebäude etwa sollten erdbebensicher saniert werden. Laut der türkischen Opposition endete das Steuergeld jedoch im Straßenbau oder in Flughäfen. Um sich nicht an das strenge Baurecht, welches erdbebensicheres Bauen vorschreibt, halten zu müssen, wurden stattdessen viele Gebäude illegal errichtet. Doch anstatt dies zu ahnden, beschloss das türkische Parlament sogenannte ‘Bauamnestien‘. Gegen die Zahlung eines bestimmten Betrages konnten illegale Gebäude nachträglich, ohne weitere Kontrollen legalisiert werden. Seit 1999 wurden neun solcher Amnestien verabschiedet. „Erdbebensicher bauen ist teuer und die Bevölkerung ist schon an die Bauamnestien gewöhnt“, erklärt Doğuş Bidal und betont: „Das ist politisches Versagen“.
Ein Erdbeben mitten im Bürgerkrieg
Neben dem Versagen präventiver Maßnahmen erschwert ein weiteres großes Problem die bereits schreckliche Situation: In großen Teilen des Erdbebengebiets herrscht Bürgerkrieg. Die türkisch-syrische Grenze ist traditionell Kurdisch geprägt. Die kurdische Minderheit wird in der Türkei jedoch massiv unterdrückt. Seit Jahrzehnten kämpfen die türkischen Streitkräfte gegen die PKK, die paramilitärische Kurdische Arbeiterpartei. Seit 2011, mit Beginn des Syrischen Bürgerkriegs, befinden sich zudem vermehrt syrische Flüchtlingslager in der Region, was für weitere Spannungen sorgt. Die Region lag somit schon vor dem Beben in einem Spannungsfeld und auch in Zeiten der Krise wird den Menschen keine Pause gegönnt. Tage nach dem Erdbeben gab es hier neue Gefechte.
Zusätzlich kam in Syrien nach dem Erdbeben kaum Hilfe an. Die syrische Regierung sendete fast keine Hilfen. Aus der Türkei führt hingegen nur eine Straße in die betroffenen Gebiete. Auch darüber kommen Hilfen nur schleppend an. Die einzige Straße ins Krisengebiet ist schwer beschädigt, was das Ausliefern der Hilfsgüter zusätzlich erschwert. Darüber hinaus kommt es immer wieder zu neuen Beben, die die Rettung und Bergung verschütteter Menschen sowie die Lage der Überlebenden in den provisorischen Unterkünften und Zeltlagern zusätzlich erschweren.
Stand heute wurden mehr als 47 000 Tote nach dem Erdbeben bestätigt. Die Menschen vor Ort trauern aber nicht nur um ihre Angehörigen, sie sind auch wütend. Der Afad, der türkische Katastrophenschutz, war zunächst so unkoordiniert, dass wertvolle Zeit verschwendet wurde. Nach zwei Wochen beendete die türkische Regierung nun fast alle Rettungseinsätze; die Wahrscheinlichkeit, jetzt noch Überlebende zu finden, sei zu gering. Während Kritiker:innen von staatlichem Versagen sprechen, möchte Erdoğan das Beben indessen als Jahrhundertkatastrophe darstellen.
Berichte aus dem Krisengebiet und Spendenaufruf
Die Vortragenden wissen durch ihren Kontakt mit den Menschen vor Ort von vielen weiteren Problemen in der Krisenregion. So sei ihnen etwa berichtet worden, der Afad habe Bankautomaten bewacht, anstelle Menschen zu bergen. Außerdem solle es zu Gewalt gegen Hilfskräfte gekommen sein. Diese und weitere Berichte werfen bei den jungen Veranstalter:innen viele Fragen über die lokalen Vorkommnisse auf.
Der Abend ist auch ein Aufruf für Spenden. Durch ihre Kontakte wissen die Organisator:innen der Veranstaltung jedoch, dass viele Hilfsgüter oftmals erst in die Wahlkreise der Abgeordneten verschwänden. Deshalb rufen sie dazu auf, an regierungsferne Organisationen zu spenden. Die DIDF hat dafür auch einen Link eingerichtet.
Sei es nun das Aufarbeiten vergangener Entscheidungen, das Hinterfragen von Verantwortlichkeiten oder aber auch der Fokus auf die Zukunft, – den Veranstalter:innen ist ganz klar: Politik ist aus der aktuellen Situation nicht wegzudenken.
Infobox: Erdbeben
Erdbeben entstehen entlang aktiver tektonischer Plattengrenzen. Zwei Platten der Erdkruste können sich verhaken, wenn sie sich entweder aneinander vorbei (Transformstörung) oder übereinander hinweg (Subduktionszone) bewegen. Dadurch baut sich Spannung auf, die sich in einem Erdbeben entladen kann. Eine Transformationszone befindet sich auch unter der Türkei. Die Anatolische Platte wird von der Arabischen Platte, die sich nach Norden schiebt, nach Westen verschoben. Dadurch entstehen zwei Spannungszonen: die Nordanatolische Verwerfung, an der Grenze zur Eurasischen Platte, und die ostanatolische Verwerfung, an der Grenze zur Arabischen Platte.
Entlang dieser Grenzen werden Erdbeben immer wieder erwartet. Den genauen Ort und den genauen Zeitpunkt kann man allerdings nicht vorhersehen. Anfang Februar kam es zu zwei Beben an der ostanatolischen Verwerfung. Beide waren mit einer Magnitude von 7.8 M und 7.5 M sehr stark. Dabei skaliert die Stärke jedoch nicht linear, sondern logarithmisch. Das erste Beben war deshalb signifikant stärker. Zudem traten beide Beben in geringer Tiefe und in dicht besiedelten Regionen auf, weshalb es zu verheerenden Folgen kam.