Am 19. Februar 2023 jährte sich zum dritten Mal der rassistisch motivierte Terroranschlag, bei dem der Täter in der hessischen Stadt Hanau neun migrantisierte Menschen ermordete und anschließend seine pflegebedürftige Mutter, sowie sich selbst erschoss. Diese Tat ist kein Einzelfall. Sie reiht sich im Gegenteil nahtlos ein in die deutsche Kontinuität von Rassismus und Misogynie. Über den gesellschaftlichen Umgang mit dieser Gewalt und über ein kämpferisches Gedenken berichtet unsere Autorin.

Gökhan Gültekin. Said Neshar Hashemi. Mercedes Kierpacz. Hamza Kurtović. Vili-Viorel Păun. Fatih Saraçoğlu. Ferhat Unvar. Kaloyan Velkov. Sedat Gürbüz. Gabriele Rathjen.
Das sind die Namen der zehn Menschen, die der Rechtsextremist Tobias Rathjen am 19. Februar 2020 erschoss. Bei seiner Tat verfolgte Rathjen eine klare Strategie. Er suchte gezielt Orte auf, die migrantisierten Menschen in Hanau als Rückzugsorte dienten. Diese beobachte er vor dem Anschlag intensiv. Im Internet verbreitete er rechtsextreme Verschwörungstheorien und Hass gegen „Ausländer“. Zum Tatzeitpunkt führte der Täter mehrere Schusswaffen mit sich, die er legal besaß.
Am Abend des 20. Februars erschoss Rathjen in der Bar „La Votre“ Kaloyan Velkov. Fatih Saraçoğlu ermordete er auf der Straße vor der Bar, anschließend tötete er Sedat Gürbüz in dessen Shisha-Bar „Midnight“. Auf dem Weg zu Rathjens drittem Anschlagsziel, einem Kiosk, stellte sich ihm Vili-Viorel Păun in den Weg. Rathjen erschoss ihn durch die Windschutzscheibe seines Autos und stürmte in den Kiosk, wo er Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar ermordete. Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović tötete er wenige Minuten später in der „Arena Bar & Café“. Nach den neun rassistisch motivierten Morden fuhr der Täter zurück in seine Wohnung in Kesselstadt und beging einen Femizid an seiner bettlägerigen Mutter, sowie anschließend Suizid.

Hanau, Halle, Celle – alles keine Einzelfälle
Immer wieder erschüttert uns faschistische Gewalt.
Die auch als „Baseballschlägerjahre“ bezeichneten 90er Jahre, waren geprägt von einer Kultur des offen gelebten Rassismus: Hitlergruß, Springerstiefel, körperliche Gewalt, Brandanschläge, Morde, wie der 1990 in Eberswalde an Amadeu Antonio Kiowa, nach welchem die antirassistisch arbeitende Opferinitiative „Amadeu Antonio Stiftung“ benannt ist. Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung sitzt diese Ideologie immer noch tief in den Köpfen der Menschen. Die rechtsextreme AfD konnte bei den Landtagswahlen 2019 in Sachsen 27,5% der Stimmen für sich gewinnen. Das heißt: Mehr als jede vierte wahlberechtigte Person vertritt aktiv eine faschistische Weltsicht, oder ist bereit eine solche zu tolerieren.
Auch in den letzten zehn Jahren ist rechte Gewalt zu erkennen und zu benennen.
Bei dem antisemitischen Anschlag an Jom Kippur 2019 in Halle, versuchte der rechtsextreme Täter Stephan Balliet, bewaffnet eine Synagoge zu stürmen und erschoss anschließend Jana Lange und Kevin Schwarze. Auch Balliet teilte seine rechte Ideologie offen im Internet. In Celle, in München, in Chemnitz – die Liste der „Einzelfälle“ ist lang und folgt immer demselben Muster.
In den bürgerlichen Medien ist häufig die Rede von psychisch kranken Einzeltätern. Isoliert betrachtet ist es dann sehr einfach, sich von diesen Tätern zu distanzieren. Dass die menschenfeindlichen Ideologien, auf welche sie sich berufen, jedoch alle Gesellschaftsbereiche durchziehen wird dabei ignoriert. Stattdessen instrumentalisieren Politiker:innen die Taten für die Durchsetzung eigener Interessen.
So sprach der CDU- Politiker Thorsten Frei bereits zwei Tage nach dem Attentat in Hanau in einem Interview mit der Welt davon, der Verfassungsschutz solle „nach dem Willen der Union […] künftig Online-Chats mitlesen können.“ Dabei war die verschwörungsideologische Weltsicht des Täters von Hanau den Behörden bereits lange vor der Tat bekannt: Mehrfach erstattete Rathjen Anzeige gegen ausländische, geheimdienstliche Organisationen, die ihn bespitzeln und „psychisch vergewaltigen“ würden.
Der AfD-Politiker Jörg Meuthen schrieb im Anschluss auf den Anschlag in Hanau auf Facebook: „Das ist weder rechter, noch linker Terror, das ist die wahnhafte Tat eines offenkundig Irren.“ Das Bestehen auf diesem Narrativ verhindert eine Aufklärung und Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen, in welchen faschistische Gewalt immer wieder reproduziert wird. Bis zum nächsten Anschlag.
Nazis morden, der Staat macht mit – der NSU war nicht zu dritt
Eine rassistische Kontinuität durchzieht alle Teile der deutschen Gesellschaft. Das betrifft auch und insbesondere staatliche Institutionen. Der „Nationalsozialistische Untergrund“ (NSU), die rechtsextreme Terrorgruppe um Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, ermordete dreizehn Jahre lang Menschen, legte Bomben und verbreitete rassistisches Gedankengut. In einem Bekennervideo filmten sie die toten Körper ihrer Opfer und unterlegten dies mit Zeichentrickfilmmusik. Das Trio wurde über einen längeren Zeitraum vom deutschen Verfassungsschutz beobachtet und zunächst nicht als rechtsterroristisch eingestuft. Die Akten, welche das Versagen des Verfassungsschutzes dokumentieren sollten ursprünglich für 120 Jahre unter Verschluss bleiben, bis die Investigativjournalist:innen des „Neo Magazine Royal“ diese 2022 veröffentlichten.
Von Polizeibehörden und Bundeswehr geht ebenfalls eine staatlich legitimierte und steuerlich finanzierte Gefahr und direkte Gewalt aus. Der rassistisch motivierte Mord 2005 in Dessau an Oury Jalloh, welcher gefesselt in einer Polizeizelle verbrannte, die Erschießung Halim Deners durch einen Zivilpolizisten 1994 in Hannover, Racial Profiling, Polizeigewalt auf Demonstrationen, Razzien in als „Problembezirke“ bezeichneten, migrantisch geprägten Stadtteilen, Abschiebungen: So unterschiedlich die Formen sind, die strukturelle Diskrimierung innerhalb deutscher Behörden annimmt, die Gemeinsamkeit heißt Rassismus.
Und dass das ein strukturelles Problem ist, lässt sich auch mit geschlossenen Augen schon lange nicht mehr leugnen. Die 2016 von einem Polizeikommissar gegründete rechtsextremistische Gruppierung „Nordkreuz“, plante als Teil des „Hannibal-Netzwerks“, welches sich zu großen Teilen aus Polizei und Bundeswehr zusammensetzt, einen politischen Umsturz und die Ermordung geflüchteter Menschen, sowie Menschen, die als Fluchthelfer:innen tätig sind. Über Textnachrichten gratulieren sie sich zu Hitlers Geburtstag und verbreiten menschenverachtende rechte Hetze.
Immer wieder werden rechtsextreme Chatgruppen deutscher Polizeibeamten öffentlich, auch die AfD verwendet in internen Chats Hassparolen. Überraschend ist das nicht, aber eine Benennung dieser Tatsachen ist wichtig, um die Dimensionen der systematischen Diskrimierung weiterhin sichtbar zu machen.
Gegen dreizehn der Polizeibeamten, welche 2020 in der Tatnacht in Hanau im Einsatz waren, wird ebenfalls wegen rechtsextremistischer Textnachrichten ermittelt. Angehörige der Opfer fordern seit mittlerweile drei Jahren die Aufklärung des Polizeiversagens in dieser Nacht. Auf der Internetseite der „Initiative 19. Februar Hanau“ lässt sich detailliert nachlesen, was der Untersuchungsausschuss bisher herausarbeiten konnte.

Rassismus ist nicht allein ein Phänomen der extremen Rechten. Auch Parteien der bürgerlichen Mitte, wie etwa die neoliberale FDP scheut sich nicht, die Leben schutzsuchender Menschen gegeneinander aufzuwiegen. So wird Flüchtenden nur solange eine Existenzberechtigung zugesprochen, wenn sich ihre Arbeitskraft innerhalb des kapitalistischen Systems verwerten lässt. „Fachkräfte“, insbesondere im Niedriglohnsektor, sind willkommen in Deutschland – vorausgesetzt sie ordnen sich der deutschen „Leitkultur“ unter und akzeptieren ihre Rolle als Menschen zweiter Klasse, die ohne einen deutschen Pass nicht zur Teilhabe an der parlamentarischen Demokratie berechtigt sind. Menschen, die ohne dokumentierte Qualifikationen nach Deutschland fliehen, wird mit, je nach Parteilinie mehr oder weniger unverhohlener, Ablehnung begegnet. Mit dem Status der „Duldung“ werden Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, kriminalisiert und leben mit der ständigen Bedrohung einer Abschiebung.
Femizide und Intersektionalität
Rathjens menschenfeindliche Taten reihen sich auch in eine weitere Form der systematischen Unterdrückung. Der Täter vertrat neben einem zutiefst rassistischen auch ein misogynes Weltbild. Als Teil der „Incel“- Internetsubkultur (involuntarily celibate) gehörte Rathjen zu den Männern, die sich einen Rechtsanspruch auf Frauenkörper einbilden. 2018 bedrohte Rathjen eine prostituierte Frau, welche sich daraufhin an die Polizei wand. Die Ermittlungen gegen ihn wurden zu diesem Zeitpunkt eingestellt. Auch der erweiterte Suizid des Täters, der Femizid an seiner pflegebedürftigen Mutter, reiht sich nahtlos in diese Ideologie. Die Täter, in der Regel Männer, sind überzeugt, ein Leben ohne sie sei nicht lebenswert und treffen die Entscheidung, die Frauen in ihrem Leben mit in den Tod zu nehmen.
Von der Gesellschaft mehrfach als nicht neutral, das heißt als nicht weiß, männlich, heterosexuell, nicht-behindert, nicht-migrantisch oder anderweitig markierte, Menschen sind an den Schnittstellen der verschiedenen Diskriminierungsformen besonders gefährdet. Umso wichtiger ist es daher, die verschiedenen Befreiungskämpfe zu bündeln, sich zusammenzuschließen und miteinander zu solidarisieren. Dazu gehört ebenso die Bereitschaft, die eigenen Privilegien zu reflektieren, als auch sichere Orte für diejenigen zu schaffen, die diese Mehrfachdiskriminierung erfahren.
Vereine und Initiativen wie Rosa bieten beispielsweise Frauen auf der Flucht eine mobile Anlaufstelle, weil sie dem hohen Risiko ausgesetzt sind, sexualisierte Gewalt zu erfahren. Auch lokale Organisierungen müssen den Anspruch haben, gegen alle strukturellen und systematischen Unterdrückungsformen zu arbeiten.

Erinnern heißt Kämpfen
Trauer hat ihren Platz, wenn Menschen sterben, insbesondere, wenn wir zu diesen eine persönliche Bindung hatten. Und Trauer darf uns nicht lähmen. Ein Erinnern an die Verstorbenen reicht nicht, wenn wir daraus keine Konsequenzen für unser zukünftiges Handeln ziehen. Im Gegenteil beinhaltet ein kämpferisches Gedenken die Organisierung durch alle solidarischen Menschen, die gemeinsam den Anspruch haben, eine Wiederholung des Geschehenen zu verhindern. Kämpferisches Gedenken ist Mahnung und Motivation: In den gemeinsamen Kämpfen und im gemeinsamen Gedenken lebt die Erinnerung an die Verstorbenen weiter.
Darum vernetzt euch, achtet aufeinander, seid politisch und organisiert. Hanau ist überall und wir alle tragen die Verantwortung, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der sich Hanau nicht wiederholen kann.