„Das ist eine Revolution und kein Protest mehr.“

Es gibt viel internationale Solidarität mit den Menschen im Iran. Am 22.10. versammelten sich über 80.000 Menschen in Berlin. Die Demonstration auf dem Bild fand in Stockholm statt. Die Demonstrant:innen zeigen die Iranische Flagge mit dem goldenen Löwen hoch, statt der mit dem Emblem der Islamischen Republik. (Foto: Artin Bakhan/ Unsplash)

Seit der Ermordung von Jina Mahsa Amini finden anhaltende Proteste in Iran statt, die in eine Revolution münden und überall auf der Welt von Solidaritätsbekundungen begleitet sind. In diesem Interview spricht KOPFZEILE mit den iranischen Studentinnen Sogand und Dokhtare Iran. Das sind natürlich nicht ihre echten Namen. Beide müssen anonym bleiben, aus Angst vor dem Regime der Islamischen Republik Iran, das gezielt Menschen verhaftet, die die Wahrheit sagen und sich mit den revolutionären Protesten in Iran solidarisieren. 

Vielen Dank, dass Du über deine Situation, Erfahrungen und Gedanken über die Proteste in Iran mit KOPFZEILE sprichst. Bitte stell dich einmal vor. Welchen Bezug hast du zu Iran?

Sogand: Hallo, ich muss mich bei Euch bedanken, dass ihr jetzt unsere Stimme sein möchtet. Ich bin 25 Jahre alt, komme aus Iran und studiere in Deutschland. Als ich 19 war, habe ich mich entschieden, nach Hamburg zu fliegen, um hier weiter zu studieren. Auch ich hätte Jina Mahsa Amini sein können. Ich hatte immer Angst vor der Sittenpolizei. Dass die Polizei es sich erlaubt, mich wegen meines schlecht getragenen Hijabs zu verhaften, mit mir respektlos zu reden, oder mich zu schlagen. Ich erinnere mich noch daran, was mein Vater mir gesagt hat: Egal, was hier in Iran passiert, egal wie es uns in der Zukunft gehen wird, denk an dich, dein Studium und deine Zukunft. Meine Mutter ist auch in die EU ausgewandert und studiert hier weiter. Für dieses Interview habe ich den Namen ‘Sogand‘ gewählt. Es ist ein weiblicher Name aus dem Persischen und seine Bedeutung ist so viel wie ‘Schwur‘. Es gibt ein neues Lied für die Revolution, das ich sehr schön finde, das auch diesen Namen trägt. Es ist eher eine Hymne, bei der alle mitsingen.

Dokhtare Iran: Ich bin 29 Jahre alt und momentan bin ich Pharmazie-Studentin in Hamburg. Ich wohne seit fast vier Jahren in Deutschland. Ich bin nur zum Studium hier, meine Familie lebt momentan in Iran. Gerade kann ich mir nicht vorstellen, dass ich wieder nach Iran zurückkehre. Aber wenn die Situation wieder besser wäre, dann würde ich gerne zurück gehen. ‘Dokhtare Iran‘ heißt übersetzt ‘iranisches Mädchen‘.  

Wenn Du Familie, Freund:innen, Bekannte oder anderweitige Kontakte zu Menschen hast, was berichten sie? 

Dokhtare Iran: Ich habe viele Freunde in Iran und meine Familie ist dort. Die Situation ist momentan so schlecht. Die wirtschaftliche und politische Situation wird immer schlimmer. Sie verdienen nicht gut und können sich ihre Miete und andere Lebenskosten nicht leisten. Meine Freund:innen wollen alle in andere Länder migrieren.

Wenn wir von Verhaftung und Gefängnis in Iran reden, reden wir von respektlosem Verhalten, von Gewalt, von Folter, von der Angst, die das IR-Regime absichtlich in den Staatsbürger:innen erzeugen will, damit man nie wieder auf die Idee kommt, seine Rechte einzufordern. Als wären wir sein Eigentum.

Sogand, iranische Studentin

Sogand: Meine Familienmitglieder haben mehrere VPNs und Apps auf ihren Handys installiert. Sie probieren es jedes Mal, bis eine von denen funktioniert und wir uns schreiben können. Sie bekommen die richtigen Nachrichten nicht, oder die Nachrichten aus Iran können das Land nicht verlassen. Zweitens haben meine Freunde und Familie Angst, überhaupt etwas in Bezug auf die politische Situation und ihren Ärger zu schreiben, falls das IR-Regime [Islamische Republik, Anm. d. Red.] sie verfolgt und das herausfindet. Das macht ihnen große Angst.

Trotzdem habe ich mit meiner Familie gesprochen. Mein Cousin, der ein Student in Teheran ist, sagte mir, dass die Sicherheitskräfte Tränengas in sein Zimmer geworfen haben. Ich muss dazu sagen: Er ist nicht mal politisch aktiv. Er war einfach zu Hause, aber es gab Proteste in seiner Straße. Mein anderer Cousin, der auch ein Student ist, hat berichtet, dass seine Freund:innen in den Protesten nach dem Tod von Jina Mahsa Amini verhaftet wurden und im Gefängnis sind. Er ist aus Angst aus Teheran in eine kleine Stadt gefahren. Für mich ist es klar: Er wurde traumatisiert. 

Vielleicht ist es gut, das zu erklären: Wenn wir von Verhaftung und Gefängnis in Iran reden, reden wir von respektlosen Verhalten, von Gewalt, von Folter, von der Angst, die das IR-Regime absichtlich in den Staatsbürger:innen erzeugen will, damit man nie wieder auf die Idee kommt, seine Rechte einzufordern – Als wären wir sein Eigentum.

Wie geht es Dir gerade angesichts der Situation in Iran? 

Sogand: In zwei Wörtern: Nicht gut. Ich habe das Gefühl, dass ich gleichzeitig als zwei Personen lebe. Als eine iranische Person und als iranische Person, die im Ausland überleben muss. Auf dem Weg zur Arbeit zum Beispiel lese ich schreckliche Nachrichten und zwei Minuten später bin ich bei der Arbeit und muss lächeln, weil ich dort verantwortlich bin, egal wie viele Personen in meinem Heimatland und meiner Stadt ermordet werden, egal wie viel Blut ich in den Videos sehe. Das ist schwer, das erfordert viel psychische Kapazität. 

Außerdem hat das IR-Regime Irans Ökonomie ruiniert. Jeden Tag wird es für meine Familie schwieriger, mir Geld zu schicken. Also muss ich unbedingt neben dem Studium arbeiten.

Diese Nachrichten sind so schlimm und manchmal denke ich: Warum kann ich gar nichts für die Leute da machen?

Dokhtare Iran, iranische Studentin

Dokhtare Iran: Ich höre jeden Tag schlechte Nachrichten von meinem Heimatland. Zu viele Leute werden hingerichtet, weil sie auf der Straße waren und friedlich protestieren! Zu viele wurden auf der Straße ermordet und viele sind im Gefängnis. Diese Nachrichten sind so schlimm und manchmal denke ich: Warum kann ich gar nichts für die Leute da machen? Was kann ich überhaupt tun? Ich kann mich nur sehr schwer konzentrieren während der Vorlesungen und auch beim Lernen.

Wie verfolgst Du die Entwicklungen in Iran? 

Auch wenn die revolutionären Proteste in Iran von einem Querschnitt der Gesellschaft unterstützt werden, sind es vor allem junge Frauen, die sich gegen das Regime wehren. Die tödliche Unterdrückung der Frauen und queeren Menschen sind Auslöser und Antreiber der Proteste.

Dokhtare Iran: Ich lese die Nachrichten auf Twitter und Instagram.

Sogand: Ich verfolge die Nachrichten aus ausländischen Nachrichtenmedien und sozialen Netzwerken, besonders Twitter, denn in Iran gibt es keine unabhängige und freie Nachrichtenmedien. Viele unserer Journalist:innen sind im Gefängnis. Die Journalistin Niloofar Hamedi, die über den Tod von Jina Mahsa Amini berichtet und sie fotografiert hat, ist jetzt auch im Knast. [Hamedi droht nun die Todesstrafe, Anm. d. Red.].

Wie nimmst Du die Proteste wahr? 

Sogand: Ich sehe Menschen, die seit 44 Jahren unterdrückt werden. Sie haben Angst zu protestieren, weil sie verhaftet und getötet werden. Sie haben keinen möglichen Weg, ihre Meinung zu äußern. Alles wird kontrolliert. Es gibt viele weitere Beispiele von Menschen, die verhaftet, vergewaltigt und ermordet werden, wie zum Beispiel Armita [TW: sexualisierte Gewalt und Mord, Anm. d.]. Und es scheint so, als ob das IR-Regime keine Angst hat, als Mörder erkannt zu werden. Sie bestätigen die Ermordungen nur nicht. Viele Videos wurden aufgenommen und sind ein guter Beweis. Ghazaleh Chalabi und Shirin Alizadeh wurden erschossen, während sie die Proteste aufnehmen wollten. 

Die Islamische Republik wird nicht so einfach Iran verlassen. Sie benutzen alle Wege, um zu zeigen, dass sie die iranische Bevölkerung repräsentieren. Genau das Parlament dieser Regierung ebnet 14.000 Hinrichtungen den Weg [Das Parlament hat den Teilnehmenden „Krieg gegen Gott“ vorgeworfen, was im iranischen Recht die Todesstrafe zur Folge haben kann. Mindestens 14.000 Menschen wurden seit dem Tod Aminis am 16. September verhaftet, Vergangene Woche wurden die ersten Todesurteile von der Regierung bekannt gegeben. Anm. d. Red.].

Wie gesagt, die Islamische Republik repräsentiert uns nicht.

Sogand, iranische Studentin

Meiner Ansicht nach hat für 44 Jahre in meinem Land die freie Diskussion gefehlt. Ich spreche aus eigener Erfahrung, ich habe aufgegeben, überhaupt zu reden und habe Iran verlassen. Nach diesen Protesten aber, vor allem auf Twitter, haben Iraner:innen aus der ganzen Welt angefangen, wieder miteinander zu diskutieren. 

Wie gesagt, die Islamische Republik repräsentiert uns nicht. Genau wie in Deutschland besteht unsere Bevölkerung aus vielen Menschen mit unterschiedlichen Mentalitäten. Die Islamische Republik ist nur ein Teil davon, und in der Tat ein gefährlicher Teil.

Außerdem will ich sagen, dass wir in Deutschland auch Angst von der Islamischen Republik haben. Die meisten von uns tragen während der Demos in Deutschland ihre Maske, damit, falls die Videos veröffentlicht werden, unsere Gesichter nicht erkannt werden können. Obwohl ich letztes Jahr einmal nach Hause geflogen bin, werde ich es nicht wieder riskieren. Ich habe schon zweimal während der Demo keine Maske getragen. Es kann sein, dass sie mich erkannt haben, und vielleicht kann ich nächstes Mal Iran nicht nochmal verlassen.

Dokhtare Iran: Die Proteste im Iran sind dieses Mal total anders. Die Welt sieht alles und bis jetzt haben so viele Menschen und Promis darauf reagiert. Ich denke, das ist eine Revolution und kein Protest mehr.

Warum ist es wichtig, über die Geschehnisse in Iran zu sprechen?

Der Druck auf das Regime muss auch von außen da sein.

Dokhtare Iran, iranische Studentin

Sogand: Ich habe ein Jahr im Studienkolleg studiert und dort habe ich viele meiner Freunde kennengelernt, die aus anderen Ländern kamen. Ich habe dort bemerkt, dass viele andere Länder, besonders im Nahen Osten, eine diktatorische Regierung haben. Es ist wichtig von Iran zu reden, damit Menschen aus anderen Ländern auch hören und wissen, dass sie nicht allein sind, dass sie Rechte haben, dass es wichtig ist, wie es ihnen geht, aber zuerst müssen sie, die Menschen in Ländern mit Diktaturen, für ihre Freiheit einstehen und ihre Rechte kennen.

Dokhtare Iran: Es ist wichtig, weil wir die Leute in Iran nicht allein lassen dürfen. Der Druck auf das Regime muss auch von außen da sein.

Mit wem redest du über die Entwicklungen in Iran? Reden Menschen ohne persönlichen Bezug zu Iran mit dir darüber? 

Sogand: Auch Menschen ohne persönlichen Bezug zu Iran haben mit mir darüber geredet. Bisher war es aber so, dass ich das Gespräch angefangen habe, weil meine Kolleg:innen nicht wussten, was in Iran läuft. Sie wussten von Jina Mahsa Aminis Tod, aber mehr waren sie nicht informiert. Aber sie haben mich unterstützt und meinen jedes Mal, dass auch sie Irans Freiheit wollen. Ich glaube, kein Mensch will das Leiden anderer Menschen sehen. 

Am 29.10. organisierten Hamburger Studierende eine Demo („Students stand with people in Iran – for woman, life and freedom!“) vor dem Hauptgebäude der Uni Hamburg, begleitet unter anderen durch Reden von Katharina Fegebank und Maryam Blumenthal.

Dokhtare Iran: In der Uni hat niemand mit mir darüber gesprochen, aber die Menschen draußen wie im Zug oder auf meiner Arbeit reden manchmal darüber. Aber sie haben keine genauen Informationen über die Lage.

Wie nimmst Du die Aktionen und Demonstrationen hier in Deutschland wahr? 

Dokhtare Iran: Die sind sehr toll. In Berlin zum Beispiel waren letztes Mal so viele Leute auf den Straßen zum Protest. Das kann die Leute in Iran motivieren und zeigt, dass sie nicht alleine sind und die Welt ihre Revolution unterstützt.

Sogand: In Hamburg gab es bisher viele Demonstrationen, die Iraner:innen selbst organisiert haben. Letzte Woche gab es aber auch eine Demo vom AStA.

Verfolgst Du das Verhalten der deutschen Politik? Was denkst Du darüber? 

Sogand: Frau Baerbock hat zwar Maßnahmen gegen das IR-Regime ergriffen und Herr Scholz hat auf Twitter geschrieben. Jetzt ist die deutsche Politik aktiver, aber insgesamt kam zu Beginn alles viel zu langsam und viel zu wenig. Wir haben vielleicht mehr erwartet, aber danken trotzdem für die Unterstützung.

Dokhtare Iran: Ja, gestern habe ich ein Video von Norbert Röttgen auf Instagram gesehen. Er hat die Situation in Iran sehr gut beschrieben und wollte eine wirksame Reaktion gegenüber den Hinrichtungen. Leider sind aber die Politiker:innen in Deutschland in diesem Fall bis heute nicht aktiv genug.

Was wünschst Du dir von den Menschen in Deutschland und von der deutschen Politik? 

Dokhtare Iran: Die Situation in Iran ist jeden Tag schlechter geworden und zu viele Leute sind in Gefahr. Auch für iranische Studierende in Deutschland wird die Situation schlechter, wir können nicht mit unseren Familien Kontakt haben, weil das Internet im Iran so schlecht ist. Die iranische Regierung hat das Internet teilweise abgeschaltet. Wir können kein Geld oder andere Unterstützung von unseren Familien bekommen. Ich habe keine richtige Antwort für diese Frage, aber es gibt Möglichkeiten, etwas zu tun. 

Die Sicherheitskräfte des Regimes schießen direkt auf Menschen und töten sie. Wie kann man sie nicht Terroristen nennen?

Sogand, iranische Studentin
Das Regime der Islamischen Republik Iran schaltet das Internet ab, um die Protestierenden zu isolieren (Foto: Emma Guliani/Pexels).

Sogand: Unterstützen Sie entschlossen das iranische Volk. Beenden Sie Ihre politischen Beziehungen zur Islamischen Republik. Erklären Sie die Revolutionsgarden zur Terrororganisation. Vertreiben Sie die Botschafter der Islamischen Republik. Das IR-Regime ist eine terroristische Gruppe und das ist nicht nur meine persönliche Meinung. Es gibt Videos, die wir jeden Tag schauen. Die Sicherheitskräfte des Regimes schießen direkt auf Menschen und töten sie. Wie kann man sie nicht Terroristen nennen?

Wünschst Du Dir etwas von Deiner Uni? 

Sogand: Ja, bitte stellen Sie sich an unsere Stelle und versuchen Sie, uns zu verstehen. Wir sind mitten in einer Krise. Es ist keine normale Situation. Unsere Leistungsfähigkeit leidet darunter.

Dokhtare Iran: Ich weiß nicht, welche Möglichkeiten die Uni in solchen Situationen für uns hat. 

Was können deine Freund:innen, Kommiliton:innen und andere für die Menschen in Iran tun? 

Dokhtare Iran: Ihr könnt uns bei unseren Protesten unterstützen und teilnehmen.

Sogand: Be our voice! Die Stimme der Iraner:innen kann dazu führen, dass sie getötet werden, weil ihre Regierung sie nicht unterstützt, sondern ihr Feind ist. In Deutschland hingegen sorgt der Staat für die Sicherheit seiner Bevölkerung. Lasst uns die Stimme des iranischen Volkes sein. Heute steht ihr in Solidarität mit uns. Morgen stehen wir in Solidarität mit euch.

Vielen Dank an Sogand und Dokhtare Iran für das Interview.

هر يك نفر كشته شه، هزار نفر پشتشه

(Ungefähre Übersetzung: „Hinter jedem Menschen, der getötet wird, stehen Tausende von Menschen.“)