Ein Drittel eines durchschnittlichen Wocheneinkaufs landet in Deutschland am Ende im Müll. Die Initiative foodsharing möchte dem ein Ende setzen, indem sie Lebensmittel vor der Tonne rettet und verteilt. Wie das funktioniert, hat unsere Autorin für euch getestet!
Von Maya Varain
Es ist Mittwoch, 18 Uhr: Feierabendstimmung im Schanzenviertel. André hält mit seinem vollbepackten Fahrrad in der Amandastraße an. Er fängt an, den Inhalt seiner Satteltaschen in ein Regal am Straßenrand zu räumen. Vorbeigehende halten an, innerhalb weniger Minuten hat sich eine Menschentraube gebildet. Einige scheinen schon auf André gewartet zu haben, andere sind neugierig. „Gibt es hier etwas umsonst?“, fragt eine Frau von der Seite. In der Tat – das gibt es: Lebensmittel!
Die Initiative foodsharing
André hat einen so genannten fairteiler befüllt – so heißen die Regale der Initiative foodsharing, zu denen Menschen Lebensmittel bringen und von dort entnehmen dürfen. Foodsharing wurde 2012 gegründet und verfolgt vor allem ein Ziel: den „verantwortungsvollen Umgang mit Ressourcen und ein nachhaltiges Ernährungssystem“. Die Initiative rettet Lebensmittel vor ihrer Vernichtung. Laut eigenen Angaben bestehen über 12.000 Kooperationen mit Betrieben, die nicht mehr verkäufliche Lebensmittel abgeben. So konnten in den vergangenen zehn Jahren bereits über 73 Millionen Tonnen Nahrung von sogenannten Foodsaver:innen gerettet werden. Die Produkte werden mit Bekannten oder über die eigene Online-Plattform in Form von digitalen Essenskörben mit anderen Nutzer:innen geteilt. Zudem können Privatpersonen das Übriggebliebene aus dem eigenen Haushalt in den fairteilern anderen zur Verfügung stellen. In Hamburg findet man diese aktuell an 21 Orten.
„Darüber hinaus ist eine allgemeine Sensibilisierung für das Thema Lebensmittelverschwendung wichtig“, so Katrin Meyer, foodsharing-Botschafterin für den Stadtteil Hamburg-Eimsbüttel. Durch Petitionen, Demonstrationen und den regelmäßigen Austausch mit Politiker:innen versucht die bundesweite Initiative auf das Problem aufmerksam zu machen und gleichzeitig Lösungsansätze zu bieten. Zu weiteren Aktionen zählt unter anderem auch das „altonale kulturfutter“ – hier wurde inmitten Altonas Kultur- und Straßenfest „altonale“ mit geretteten Lebensmitteln gekocht und anschließend an einer gemeinsamen langen Tafel gespeist. Das Zusammenkommen sollte zum Mitdenken und Mitmachen im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung anregen. Auch auf anderen Festivals ist foodsharing präsent: Auf dem Feel-Festival werden Camper:innen morgens zu einem offenen Frühstück eingeladen, bei dem jede:r sein überschüssiges mitgebrachtes Essen teilt.

eigene übrig gebliebene Lebensmittel zu einem
gemeinsamen Frühstück mitzubringen. (Foto:
foodsharing e.V.)

Marmeladenbrote an hungrige
Festivalbesucher:innen. (Foto: foodsharing e.V.)
„Wir sind angetreten, um uns selbst abzuschaffen.“
Eigentlich möchte die Initiative gar nicht benötigt werden: „Das Ziel von foodsharing ist es, das Ernährungssystem in Deutschland so zu verändern, dass die Initiative wieder abgeschafft werden kann“, so Meyer. Ein gesetzlich geregelter Wegwerf-Stopp könnte helfen, die Verschwendung zu reduzieren. In Frankreich gibt es bereits ein Gesetz, das Supermärkte dazu verpflichtet, Lebensmittel, deren Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist oder die sich nicht mehr verkaufen lassen, an karikative Einrichtungen zu spenden. „Für eine solche Regelung gibt es auch in Deutschland bereits Entwürfe, doch jetzt ist es an der Zeit, diese auch umzusetzen!“, fordert Meyer.
„Ernährung ist politisch!“
Auch Andrea Nunne, Sprecherin für Agrarpolitik, Ernährungswende und Wasserwirtschaft der Grünen-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft, hält einen Wandel im Umgang mit Lebensmitteln für unumgänglich. Nicht nur aus ethischer Sicht sei unser Verhalten problematisch, auch in Hinblick auf die Klimakrise müsse sich etwas verändern.
Die Zahlen sind erschreckend: Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) werden weltweit jährlich circa 1,3 Milliarden Tonnen verzehrbare Lebensmittel weggeworfen. Nunne verweist zudem auf einen Bericht des IPCCs aus dem Jahr 2019, der 23 Prozent der klimaschädlichen Emissionen auf Ernährung und Landwirtschaft zurückführt. „Die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung ist ein ganz wichtiger Teil der Ernährungswende“, sagt sie. Wenn weniger Nahrung weggeschmissen würde, blieben mehr finanzielle Mittel für den Einkauf hochwertiger Lebensmittel, deren Anbau weniger Umweltfolgeschäden mit sich trage. Jede Initiative, die sich für eine Ernährungswende einsetzt, helfe, denn die Politik schaffe den Kampf gegen die Klimakrise nicht alleine – es brauche auch den Einsatz der Bürger:innen. „Die Klimakrise ist existenziell bedrohend. Es ist ein großer politischer Auftrag an uns alle, zu handeln!“
Wie kannst du aktiv werden?
Um Nutzer:in der foodsharing-Angebote zu werden, solltest du dich mit den grundsätzlichen Regeln vertraut machen. Die wichtigste Devise lautet: „Nichts an andere weitergeben, was man selbst nicht mehr essen würde“. Danach folgt eine Registrierung auf der Webseite. Dort findest du auf einem persönlichen Dashboard Informationen zu aktuell verfügbaren Essenskörben (eine Art EbayKleinanzeigen für kostenlose Lebensmittel) oder den Inhalten der fairteiler in deiner Nähe.
Um darüber hinaus selbst als Foodsaver:in Lebensmittel aus den Supermärkten zu retten, musst du dich in die foodsharing-Grundlagen einlesen und ein Quiz absolvieren. Darauf folgen die Unterzeichnung einer Haftungsvereinbarung sowie drei begleitete Einführungsabholungen in den Betrieben. Das Vorgehen stelle sicher, dass man sich ernsthaft mit dem Thema beschäftige und nicht nur den Gedanken verfolge, etwas umsonst zu bekommen, erklärt Katrin Meyer. „Dies ist wichtig, um ein verlässliches System und eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit den Betrieben beizubehalten“.
André ist seit sieben Monaten als Foodsaver aktiv. Nach seiner Arbeit im Studierendenwerk der Uni Hamburg geht er Lebensmittel aus verschieden Supermärkten retten. Aktuell ist er dreimal die Woche im Einsatz. Die Dinge, die er selbst verwerten kann, darf er behalten, den Rest teilt er mit Freunden, Bekannten und anderen Nutzer:innen. Meist kann er die geretteten Produkte mit seinem Fahrrad transportieren, doch manchmal verlaufen die Abholungen auch unerwartet. „Letztens hatte ein Supermarkt 150 Tafeln Schokolade übrig. Ich hatte das Glück, nah an dem Geschäft zu wohnen und konnte schnell meine Sackkarre holen.“ In anderen Fällen könne man aber auch andere Foodsaver:innen kontaktieren, die einem etwa mit einem Auto aushelfen könnten.
Auch Übriggebliebenes aus seinem eigenen Haushalt räumt André regelmäßig in die fairteiler. Und deren Inhalt ist durchaus erstaunlich: von Aufschnitt und veganem Pudding bis hin zu Obst und Gemüse, an denen man kaum Makel erkennen kann, ist alles dabei. Als Andrés Ware schon fast wieder verteilt ist, kommt ein weiterer Foodsaver am fairteiler an und räumt ebenso qualitativ hochwertige Lebensmittel ein. Es gäbe den ganzen Tag über Befüllungen des fairteilers, doch zwischen 20 und 21 Uhr geschähen die meisten. Lange bliebe die Ware meist nicht liegen: „Oft wird ein Großteil der Lebensmittel innerhalb von 10 Minuten entnommen. Da dieser Standort so zentral ist, gibt es hier einen wahnsinnigen Umschlag. Das hat den Vorteil, dass nur wenige Dinge hier drinnen verderben“.

„Das foodsharing ist auch finanziell gesehen eine großartige Möglichkeit für Studierende.“
Eine junge Mutter, die vom Geschehen auf dem Bürgersteig angelockt wurde, zeigt sich begeistert: „Ein Wahnsinn, was hier alles abgegeben wird – das ist ja ein super Projekt. Am liebsten würde ich selbst aktiv werden!“. André erklärt ihr das Verfahren und verweist sie auf die Webseite der Initiative. Die Situation macht deutlich, dass es an diesem Ort nicht nur um die Verteilung von Lebensmitteln geht. Die Gespräche leisten wichtige Aufklärungsarbeit und führen Menschen aus unterschiedlichsten Generationen und Lebenssituationen zusammen. Gerade auch für Studierende sei das foodsharing eine großartige Möglichkeit, erklärt André. Er selbst gebe im Monat nur noch um die 40 Euro für den Einkauf von Lebensmitteln aus. Sein Kühlschrank fülle sich ansonsten mit geretteten Produkten. „Man tut also nicht nur der Umwelt etwas Gutes, sondern gleichzeitig auch dem eigenen Geldbeutel“, so André.
“fairteiler” an Universitäten
Dass das Konzept auch an der Uni funktionieren kann, zeigt der fairteiler an der Technischen Universität in Harburg. Dieser wurde im Frühjahr 2018 errichtet und seitdem von der TU-internen „Foodsharing AG“ organisiert. Die Universität war selbst am Aufbauprozess beteiligt und versorgt den großen Kühlschrank auch heute noch mit Strom. Trotz seines Standorts inmitten des Campus können nicht nur Studierende, Dozierende und Mitarbeitende ihn nutzen – der Zugang ist für jede:n uneingeschränkt. Das Angebot wird von der Uni sowie vom ganzen Viertel sehr gut angenommen, sodass dort eine hohe Fluktuation herrscht.
Anfang Mai wurde vom AStA der Uni Hamburg angekündigt, dass im Rahmen der Wiedereröffnung des Info-Cafés auf dem Campus die Errichtung eines foodsharing-Kühlschranks geplant sei. Aktuell wurde dies allerdings noch nicht umgesetzt. Es bleibt spannend, ob bald auch auf unserem Hauptcampus Lebensmittel fairteilt werden
können.