Tanz ist eine universelle Sprache, die sich immer weiterentwickelt. In den 1920-er Jahren öffnete sich auch die deutsche Szene für modernen Tanz. Das Leben vieler Künstler:innen wurde von den Entwicklungen in der Weimarer Republik, besonders dem aufkommenden Nationalsozialismus, einschneidend verändert. Ihnen widmet sich John Neumeier in seiner Tanz-Collage. Im Ernst Deutsch Theater feierte „Die Unsichtbaren“ am 16. Juni 2022 Premiere und eröffnete die 47. Hamburger Ballett-Tage. Das Stück geht der Frage nach: Wer waren diese Menschen?
Ein junger Mann mit Leier reitet auf einem Widder. Das Gemälde „Orpheus mit den Tieren“ ziert die Wand des „Folkine-Studios“, einem der Trainingsräume im Ballett-Zentrum. Geschaffen wurde es von Anita Rée, der Tochter eines jüdischen Kaufmanns. 1937 wurde es übermalt und später mit einer Holzkonstruktion verdeckt. Erst in den 1980-er Jahren wurde es wiederentdeckt und ist seitdem im Ballettsaal zu sehen. Die Geschichte des Bildes und der Künstlerin ist ein Beispiel für diejenigen, deren Namen beinahe vergessen sind. Für diese Unbekannten, die Unsichtbaren aus der Kunstwelt, schuf John Neumeier seine neue Kreation. Die Tänzer:innen des Bundesjugendballetts holen gemeinsam mit einem Kammerorchester, zwei Pianisten und drei Schauspieler:innen einige dieser Menschen wieder auf die Bühne.
Eröffnet wird die Tanz-Collage von Tänzer:innen, die mit Taschen bepackt scheinbar zum Training kommen und einzeln oder zu zweit tanzen. Unter sie mischt sich ein Junge (Lennard Giesenberg), dessen Kleidung nicht nach Training aussieht, sondern nach der Mode Mitte des 20. Jahrhunderts. Er sei ein Emigrant geworden, sagt er und erzählt, wie es dazu kam.
Kaum ist er abgegangen, stürmen die anderen Tänzer:innen wieder die Bühne und stellen sich als Bundesjugendballett vor. Anschießend begrüßen sie Mary Wigman, die einen Vortrag über das Tanzen halten soll. Sie war unter anderem Tänzerin, Lehrerin und Choreografin. Bis 1942 hatte sie eine eigene Schule, die sie jedoch schließen musste. Sie erzählt von ihrem Leben und von den Tänzer:innen, denen sie im Laufe der Zeit begegnete. Dieser Bericht zieht sich als roter Faden durch den Abend.
Aus der Vergangenheit
Über die Erzählungen von Mary Wigman lernt das Publikum Tanzschaffende wie Rudolf von Laban, Alexander von Swaine, Harald Kreutzberg oder Palucca kennen, die anerkannte Größen auf ihrem Gebiet waren, deren Namen und Wirken heute jedoch kaum bekannt sind. Die Texte, die von den Schauspieler:innen und Tänzer:innen vorgetragen werden, sind Auszüge aus Reden, Zeitungsartikeln, Briefen oder Verordnungen. Sie geben Einblicke die Lebensrealitäten der Menschen, die als nicht-arisch galten, wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurden, emigrierten oder in Gefängnisse und Konzentrationslager kamen. In den gesprochenen Passagen geht es auch darum, welche Bedeutung Tanz eigentlich hat und um die Frage nach der Schuld derjenigen, die sich dem Nationalsozialismus nicht durch ihre Kunst entgegenstellten.
Das Bundesjugendballett tanzt in immer unterschiedlichen Konstellationen Soli, Pas de Deux oder als gesamtes Ensemble, mal verspielt, mal wütend oder entkräftet. Es zeigt dabei kraftvoll, elegant und mit viel Elan die vielen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten durch Tanz, gut ergänzt von Text und Musik. Die Tänzer:innen nehmen das Publikum mit in den kalten Winter oder die Konzentrationslager und stellen einen Teil der Menschen vor, deren Namen heute fast unbekannt sind.
Sie tanzen zur Live-Musik eines Kammerorchesters und vierhändiger Klaviermusik, zu Liedern der Comedian Harmonists, von Queen, Bob Dylan und zu Stravinskys „Le Sacre du Printemps“. Das Gemälde an der Wand des Ballettsaals bildet dabei, neben einem Flügel, das Bühnenbild, die Kostüme ändern sich immer wieder, je nachdem was, geschieht.
In die Erinnerung
Neben dem einprägsamen Tanz und den Berichten über Menschen und Geschehnisse nennt eine Begleitausstellung im Foyer des Ernst Deutsch Theaters die Namen einiger, die nun beinahe unsichtbar sind. Die Lebensgeschichten mancher von ihnen werden ebenfalls im Foyer beschrieben, während sich an den Wänden des Theatersaals Zitate unter anderem von Bertold Brecht, Ernst Deutsch oder Hannah Arendt finden. Auch wenn diese Namen bekannt sind, viele der anderen sind nicht. Und es sind noch mehr Menschen, die mit der Zeit tatsächlich gänzlich verschwanden. Am Ende des Abends stehen einige Fragen im Raum, darunter auch die, ob wir wirklich genug gegen jegliche Form von Diskriminierung tun und was mit jenen Menschen geschah, die unbekannt sind und durch das Wirken der Nationalsozialisten verschwanden.
Fazit
Mit „Die Unsichtbaren“ erinnern John Neumeier, das Bundesjugendballett, die Schauspieler:innen und Musiker:innen auf ergreifende Weise an die Tanzschaffenden, die Opfer und Verfolgte des Nationalsozialismus waren. Sie eröffnen auf eindrückliche Weise die 47. Hamburger Ballett-Tage. Die Tanz-Collage ruft ihre Namen und Geschichten hervor und zeigt vormalige Größen des Tanzes, die nichts mehr wollten als eben das: Tanzen. Durch das fließende Zusammenspiel von unter die Haut gehendem Tanz, Text und Musik bleibt dieser Abend tief in Erinnerung. Begleitausstellung und Zitate vervollständigen die Produktion, mit der „Die Unsichtbaren“ zumindest zum Teil wieder sichtbar werden.
Tänzer:innen | Lormaigne Bockmühl, Giuseppe Conte (a.G.), Justine Cramer, Pepijn Gelderman, Lennard Giesenberg, Thomas Krähenbühl, João Vitor Santana, Mirabelle Seymour, Ida-Sofia Stempelmann (a.G.), Anna Zavalloni |
Schauspieler:innen | Maximilian von Mühlen, Louisa Stroux, Isabella Vértes-Schütter |
Musiker:innen | Violine: Maurice Mustatea, Jazeps Jermolovs | 2. Violine: Dana Anka, Rebecca Borchert | Viola: Aaren Aning, Emanuel Meshvinski | Cello: Tristan Köster | Flöte: Rebecca Blau, Ingvild Ness | Klarinette: Noam Carmon, Pamela Coats | Percussion: Andy Kouchen, Nikita Diament | Piano: Laura Chihaia, Alexander Vorontsov, Konstantin Dupelius, Vsevolod Brigida, Tinatin Gambaschidze (in wechselnden Besetzungen) |
Konzept, Regie, Choreografie & Ausstattung Zusätzliche Choreografie | John Neumeier Raymond Hilpert |
Wissenschaftliche Beratung & dramaturgische Mitarbeit | Ralf Stabel |
Realisation Beleuchtung | Roger Irman |
Musikalische Leitung | Jay Gummert, Marshall McDaniel |
Ausstellung | Peter Schmidt |
Mitarbeit Kostüm | Sonja Kraft |
Weitere Informationen gibt es hier.
Das Programm der 47. Hamburger Ballett-Tage: 20. Juni, 19.00 Uhr: Erste Schritte
21. Juni, 19.30 Uhr: The Winter’s Tale
22. Juni, 19.30 Uhr: Die Glasmenagerie
23. Juni, 19.30 Uhr: Sylvia
24. Juni, 19.00 Uhr: Dornröschen
25. Juni, 19.30 Uhr: Hamlet 21
26. Juni, 18.00 Uhr: Beethoven-Projekt II
28. Juni, 19.30 Uhr: Gastspiel Polnisches Nationalballett
29. Juni, 19.30 Uhr: Gastspiel Polnisches Nationalballett
30. Juni, 19.30 Uhr: Liliom
01. Juli, 19.30 Uhr: The Winter’s Tale
02. Juli, 20.00 Uhr: Ghost Light
03. Juli, 18.00 Uhr: Nijinsky-Gala XLVII