Ein ganzes halbes Jahr: 180 Tage Streik

Lorenza (22) macht auf einer Demonstration in Bordeaux auf sexualisierte Gewalt aufmerksam. „Auf ihrem Schild steht: 10 Femizide jeden Tag in Mexiko.” (Foto: Paulina Keller)

Warum Studierende in Mexiko sechs Monate nicht in der Uni waren und was es bedeutet, dort gegen sexualisierte Gewalt zu demonstrieren – die Situation ein Jahr danach.

Von Paulina Keller

Lorenza ist 22, studiert Architektur an einer der größten Unis in México-City, macht gerade ein Erasmus-Semester in Bordeaux und ist wütend und traurig. Wir haben mit ihr über die Situation in Mexiko gesprochen, und darüber, was es heißt, sich dort gegen sexualisierte Gewalt einzusetzen.

Mehr als 100 Tage akademischer Streik

Mehr als 180 Tage, das sind 25 Wochen, ein halbes Jahr oder so lange wie die Zeit zwischen Weihnachten und dem ersten Eis im Sommer – mit anderen Worten: das ist verdammt lange. In dieser Zeit kann man ein Erasmus-Semester machen, oder eine Bachelorarbeit schreiben oder demonstrieren und den Uni-Besuch verweigern.

Letzteres hat Lorenza vor gut einem Jahr gemacht, zusammen mit all den anderen Architekturstudierenden der UNAM (Universidad Nacional Autónoma de México), einer der renommiertesten Unis in Mexico-City.

Die Regierung errichtet Barrieren um historische Denkmäler, weil sie sich mehr um ihr Image kümmert, als die bestehenden sozialen Probleme anzugehen.

Lorenza, Architekturstudentin aus Mexiko

In der Zeit, in der ihre Kommiliton:innen an anderen Unis weiter studierten und so dem Traumberuf der Architekt:innen näherkamen, hat Lorenza gestreikt. Aber warum? Und was bedeutet das für die Studierenden? Was muss passieren, damit eine ganze Fakultät für 180 Tage auf ihr Recht auf Bildung verzichtet?

Das haben wir Lorenza gefragt. Wir treffen sie am Tag der internationalen Frauenrechte auf einer Demo in Bordeaux, wo sie gerade ihr Erasmus-Semester absolviert.

Mangelndes Engagement bei der Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt

„An meiner Universität in Mexiko kommt es in den Architektur-Kursen oft und schon lange zu sexueller Belästigung oder zu sexistischen Kommentaren von Seiten der Professoren“ erzählt Lorenza.  „Es gibt sogar Klagen und die Uni weiß davon, hat aber nichts dagegen unternommen. Deshalb haben wir demonstriert. Sechs Monate sind wir nicht in die Uni gegangen.“ Und das war schon im März 2021. Abgesehen von sexistischen Äußerungen hat Lorenza nach eigenen Angaben selbst nicht direkt Gewalt erlebt, ihre Architektur-Freundinnen dagegen schon.

Die UNAM ist die größte öffentliche Hochschule in Lateinamerika, sie hat ein hohes Niveau und genießt einen guten Ruf. „Sie läutet am internationalen Tag der Frauenrechte die Glocken und sagt: ‚Frei, voll und sicher‘, obwohl die Institution kaum wirksame Maßnahmen hatte, um uns wirklich zu schützen und sicherzustellen, dass wir in einem sicheren Raum studieren konnten“, kritisierten einige Studentinnen der Uni in einem Artikel des Online-Magazins „Malvestida“.

Lorenza auf der Demonstration am 8. März 2022 in Bordeaux. Auf ihrem Schild steht „Ni calladita, Ni bonita, Ni calmadita, Ni tuya, Ni de nadie, Ni una menos, NI.UNA.MÁS. Das ist Spanisch und bedeutet so viel wie: Keine leise, keine hübsche, keine ruhige, nicht deine, die von niemandem, nicht eine weniger. NICHT. EINE. MEHR.” Der Spruch bezieht sich auf die Femizide in Mexiko und auf die sexualisierte Gewalt gegen Frauen dort. Foto: Paulina Keller

„Sie verstehen das nicht, weil sie Frauen sind“

„Es gibt Lehrende, die noch lange unterrichten durften, obwohl sie meine Kommiliton:innen verletzt haben“ erzählte die Architekturstudentin Julia Gonzáles der Zeitung die „Pie de Página“ im Juli 2021.  Auch in einem Kurs der Landschaftsarchitektur berichteten die Studentinnen von verbaler Gewalt, die von den Lehrenden ausging. Es habe sich dabei um sexistische Kommentare gehandelt erklärten die Studentinnen. Zum Beispiel „Sie verstehen das nicht, weil sie Frauen sind“.

„Diese Art von Kommentaren ist super unangebracht und wir wollen nicht, dass andere Semester das Gleiche erleiden wie wir, denn es war schrecklich“, heißt es in dem Zeitungsartikel weiter. „Sie greifen uns immer mit passiv-aggressiven Sprüchen an“, so die Architekturstudentin Manzanita zur „Pie de Pagina“. „Sie sagen uns, dass wir nicht weit kommen werden oder dass, wenn wir es doch schaffen, es daran liegt, dass ein männlicher Kollege uns geholfen hat. Sie bemerken oft nicht, dass sie was Böses tun, aber das ist verbale Gewalt, und das verletzt.“

Frauen-Kollektiv:„Wir haben genug“

„Von all diesen Anschuldigungen wusste die Uni, tat aber nichts“, erklärt Lorenza. Deshalb wurde das Kollektiv „mujeres organizadas de la facultad de Arquitectura“, kurz MOFA gegründet.

Im März 2021 forderte MOFA die Entlassungen der Professoren, die wegen geschlechtsspezifischer Gewalt angeklagt sind. Außerdem verlangten sie eine öffentliche Entschuldigung der Hochschulleitung, die Einführung einer Rechenschaftspflicht, die Umbenennung der Räume in Namen von Frauen, die in der Architektur tätig sind, die Einsetzung einer Kommission für geschlechtsspezifische Fragen und die Einrichtung einer Stelle für die Bearbeitung von Beschwerden und geschlechtsspezifischer Gewalt.

Doch weil die Uni ihren Forderungen nicht nachkam, entschloss sich die MOFA zu handeln – und rief die Student:innen der Fakultät zum Streik auf. Und weil nach 100 Tagen immer noch keine Antwort der Uni gekommen war, entschied sich die MOFA, auf eine andere Art darauf aufmerksam zu machen. Sie hinterließ eine Botschaft auf dem Unigelände, groß und direkt unter den Fenstern der Direktoren.

Mexiko-Stadt: Student:innen der Architekturfakultät der UNAM machten mit diesem überdimensionalen Kreidebild darauf aufmerksam, dass sie sich bereits mehr als 100 Tage im Streik befinden. (Foto: Ulises Hernández Barajas)

„Vielleicht sehen es viele Menschen nicht, weil sie es normalisiert haben, aber das heißt nicht, dass es nicht existiert. Wenn wir ein Jahr lang streiken müssen, werden wir streiken, weil die Gewalt aufhören muss“, sagt eine der Landschaftsarchitektur-Studentinnen aus dem sechsten Semester der Zeitung Pagina im Juli 2021.

Student:innen der Fakultät für Architektur der UNAM nach 100 Tagen Streik im Juli. (Foto: María Ruíz),

Doch wie fühlt es sich an, als Frau in Mexiko gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu demonstrieren? „In Mexiko ist es eher ein Protest gegen die Macho-Kultur und die Unfähigkeit der Regierung, darauf zu reagieren. Das Vorgehen gegen Frauenmorde ist sehr politisch“, so Lorenza. „Sie schicken auch die Polizei mit Pfefferspray, und man hat wirklich das Gefühl, dass einem jeden Moment etwas passieren kann, wenn man etwas falsch macht.“

Ein Jahr nach dem Streik: Was hat sich verändert?

Auf Instagram berichtet MOFA, was sich rund ein Jahr nach dem Beginn des Streiks verändert hat.

  • Es wurde ein technischer Rat eingerichtet, der sich mit Situationen geschlechtsspezifischer Gewalt befasst und die Aufgabe hat, zu überwachen, dass die Direktion weiterhin das tut, was sie in den Vereinbarungen mit der MOFA versprochen hat.
  • Alle wichtigen Gebäude (wie Bibliotheken und Theater) wurden offiziell umbenannt. Trugen sie vorher den Namen eines männlichen Architekten, sind sie heute nach weiblichen Architektinnen benannt.
  • Die Uni hat Kurse und Wahlfächer zum Thema Gender-Perspektive eingerichtet und sogar ein Studienseminar integriert.
  • Im Allgemeinen gibt es mehr Aktivitäten rund um das Thema geschlechterspezifische Gewalt (zum Beispiel Basare, Filmzyklen, Lesezyklen, Konferenzen).

„Die beschuldigten Professoren halten keine Vorlesungen mehr und ich nehme an, sie wurden durch Leute ersetzt, die für das Thema Gewalt geschult und sensibilisiert sind“, erklärt Lorenza. Es war eine schwere Zeit, die Zeit des Streiks, und es ist auch noch lange nicht vorbei. „Aber es ist sehr schön zu sehen, dass eine starke Gemeinschaft entsteht, also dass man sich von den Menschen, die ebenfalls protestieren, geschützt fühlt. Es ist ein Unterstützungsnetz“, so Lorenza, die erst im September an ihre Uni in Mexico-City zurückkehren wird und die Veränderung dann selbst erleben kann.