gelesen: Dschinns

Der Roman von Fatma Aydemir ist am am 14. Februar 2022 erschienen. (Foto: Hanser)

In Fatma Aydemirs neuem Roman wird so einiges auf den Tisch geworfen: Die Einwanderungsgesellschaft, Identitätskrisen, Sexualität, Rassismus und Familie sind nur einige der Themen, die die Schriftstellerin in „Dschinns“ aufmacht. Das Buch teilt aus – und ist gleichsam empathisch mit seinen Figuren.

Dschinnsspielt in den 1990er Jahren, und dennoch ist er ein Roman für die Gegenwart. Fatma Aydemir erzählt die Geschichten einer türkischen Familie, die nach dem Tod des Vaters Hüseyin über ihre Vergangenheit nachdenkt. Die 36-jährige Schriftstellerin aus Karlsruhe schafft eine emotional mitreißende Geschichte, der keine der wunden Stellen unserer Zeit unberührt lässt.

Aydemirs Erzählung spielt in Istanbul, doch die erzählten Erinnerungen zu einem großen Teil in Deutschland, in Rheinstadt genauer gesagt. Rheinstadt war ein Stadtteil in Karlsruhe, der nie gebaut wurde. In ihm sollten in den 1960er Jahren 30.000 Menschen wohnen, der Plan für die Trabantenstadt wurde jedoch verworfen, da das erwartete Bevölkerungswachstum ausblieb. Die Stadt wird als Kulisse für das Deutschland der 1990er Jahre verwendet – ein von der Gastarbeiter:innenmigration beeinflusstes Land. Ein rassistisches Land, wirft man einen Blick auf die Anschläge in Rostock und Hoyerswerda. In diesem Deutschland spielen die Erinnerungen der Protagonist:innen.

Was bedeutet Familie?

Kaum hat man ein paar Seiten gelesen, stirbt der 59-jährige Hüseyin. Die meiste Zeit seines Lebens hat er in Deutschland verbracht, als Gastarbeiter. Zur Rente kann er sich endlich die langersehnte Wohnung in Istanbul leisten, in die er mit seiner Familie ziehen will. Doch dazu kommt es nicht. Kurz bevor seine Frau und Kinder in die Türkei nachkommen können, stirbt er plötzlich an einem Herzinfarkt. Seine Familie kommt nach Istanbul, und in fünf Kapiteln erfahren wir, wie seine Kinder und seine Frau um ihn trauern und ihre Erinnerungen reflektieren.

Aydemirs Roman ist ein Familienroman. Doch was bedeutet Familie eigentlich? „Sie bedeutet ihm alles“, sagt der jüngste Sohn Ümit. „Aber alles heißt eben auch: die Luft zum Atmen und die Schlinge um den Hals zugleich.“ Familie kann Halt geben: Wenn Ümit und seine Schwester Peri spätabends zusammen auf dem Sofa liegen und endlich einmal ehrlich miteinander sprechen. Sie kann aber auch kaltherzig sein, wenn Sevda, die älteste Tochter, von Mutter und Vater vor die Tür gesetzt wird. Weil sie selbstbestimmt leben und ihr eigenes Schicksal bestimmen will. So sehen wir einer Familie beim Ringen um sich selbst zu.

Deutschland, Land des Rassismus

Auch politisch teilt der Roman aus: Homophobie, Rassismus im Alltag, Racial Profiling und Kurdenhass in der türkischen Community werden zum Thema gemacht. Da ist etwa der schwule Ümit, dessen deutscher Psychotherapeut immerzu vom Elternhaus spricht, obwohl seine Eltern doch gar kein Haus besitzen. Als weiße Leserschaft wird man plötzlich nachdenklich, was man mit Worten wie „Kulturkreis“ eigentlich meint. Und da ist Hakan, der auf der Fahrt nach Istanbul nicht zum ersten Mal Opfer von Racial Profiling wird. Dann gibt es Sevda, die ihre Kinder fast bei einem rassistischen Brandanschlag verliert und Peri, die sich an der Uni politisiert und in feministischen Diskussionskreisen unterwegs ist. Erzählt werden die Geschichten in einfühlsamen Passagen, man möchte das Buch nicht aus der Hand legen und doch zerreißt es eine:n als Leser:in innerlich, wenn Aydemirs Figuren mit ihren inneren Fragen und äußeren Angriffen zurechtkommen müssen.

Die Unterschiede zwischen den Generationen stehen an zentraler Stelle im Roman: Die Kinder wollen sich von der Enge der Eltern und den Traditionen lösen. Dafür entwickeln sie verschiedene Strategien: Peri, die als einzige in der Familie zur Universität geht, entwickelt ein politisches Selbstverständnis und sucht durch Bildung nach einer Antwort auf ihre Fragen. Feminismus und schließlich die Erkenntnis, was es bedeutet, aus einer kurdischen Familie zu kommen, treffen auf eine autoritär erzogene Elterngeneration. Sevda findet ihre Emanzipation durch materielle Unabhängigkeit von Vater, Mutter und Ehemann. Hakan ist ein widerständiger Mensch, der sich – anders als sein Vater – nicht den rassistischen Vorgesetzten in der deutschen Firma oder den Polizist:innen bei der Verkehrskontrolle unterordnen will. Die Leser:innen können beobachten, wie die Strategien sich entwickeln, wie die Figuren mit sich und den Menschen um sich herum zu kämpfen haben und wie auch die Mutter Emine ihre eigenen Taten und Gedanken plötzlich in Frage stellt. Das sind die „Dschinns“, die unsichtbaren Geister, die uns begleiten. „Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil sie es mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen müssen, und nichts erbarmungsloser ist als die eigene Fantasie?“ wie die Schriftstellerin den Romantitel erklärt.

Fazit

Fatma Aydemir thematisiert Rassismus in Deutschland nicht zum ersten Mal: Auch ihr Debüt-Roman „Ellbogen“ und der mit Hengameh Yagoobifarah herausgegebene Essayband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ wagen sich an das Thema. So eindrucksvoll wie „Dschinns“ allerdings schafft es keines dieser Bücher, sich mit Generationenfragen, Kultur und Identität auseinanderzusetzen. Die Breite der behandelten Themen wirkt an keiner Stelle wie eine bloße Aufzählung oder oberflächliches Abgrasen der Debatten der Gegenwart. Fatma Aydemir nimmt die Leserschaft an die Hand und führt sie an ihre ambivalenten Protagonist:innen mit empathischem Einfühlvermögen und politischer Klarheit, die einzigartig ist.

AutorinFatma Aydemir
VerlagHanser
Preis24,00 Euro
Seitenzahl368 Seiten