Der Bass lässt den Boden leicht vibrieren, Nebel steigt auf und das Licht ändert sich. Dann wieder erklingt ein Filmsoundtrack oder Country-Music. Die Tänzer:innen sind allein, in kleinen oder großen Gruppen. Die Jungen Choreografen, Tänzer:innen des Hamburg Ballett John Neumeier, präsentieren mit eineinhalb Jahren Verzögerung ihre Werke.
Nach und nach füllt sich die opera stabile, deren Eingang neben dem großen Gebäude der Staatsoper, direkt neben dem Bühneneingang, ist. Das Publikum dieser Vorstellungen ist bunt gemischt, wenn auch der Anteil der Zuschauerinnen überwiegt. Es ist das erste Mal seit Beginn der Corona-Pandemie, dass das Publikum hier wieder direkt nebeneinandersitzt und die Masken am Platz abgenommen werden können. Denn die vier Vorstellungen der „Jungen Choreografen“ finden als 2G-Veranstaltung statt, alle Anwesenden sind also entweder geimpft oder genesen.
Die opera stabile bietet Platz für 96 Zuschauer:innen, die Bühne geht direkt in die Stuhlreihen über, die Tänzer:innen sind dadurch beinahe zum Greifen nahe, jede Regung ist zu erkennen. Alice Mazzasette ist eine der Tänzer:innen, deren Choreografie gezeigt wird. Ihr Stück trägt den Titel „Alla vita“ und eröffnet das erste der beiden Programm. „Dadurch das wir in der opera stabile sind, sind die Zuschauer:innen sehr nah an uns dran. Für mich war das auf jeden Fall ein super Erlebnis“, erklärt sie. „In der opera stabile hat das Tanzen etwas Intimes. Es ist eine andere Erfahrung, zusammen mit dem Publikum“, ergänzt Florian Pohl, einer der Solisten des Hamburg Balletts.
Alices Choreografie ist ein fröhliches, energiegeladenes Pas de Deux, welches ihre beiden Kolleg:innen Torben Seguin und Madeleine Skippen tanzen. Der Tanz geht elegant aus der Musik hervor. Sie sagt: „Grundlegend war die Musik. Die Choreografie war dann eine Reaktion auf die Gefühle, die der Song in mir ausgelöst hat.“ Francesco Guccinis „Auschitz“ aus dem Album „The Plantinum Collection“ berühre sie auf eine bestimmte Art und Weise, das habe sie dazu bewegt, sich dazu zu bewegen.
Neue Schritte
Alice zeigt zum ersten Mal ihr Werk bei den „Jungen Choreografen“, es war aber nicht die erste Choreografie, die sie entwickelte. Die Schüler:innen der Ballettschule des Hamburg Ballett John Neumeier choreografieren in der „Werkstatt der Kreativität“ für ihre Abschlussprüfung eigene Stücke und präsentieren diese. „Da macht man dann so die ersten Erfahrungen, wie es ist als Choreografin auf der anderen Seite zu stehen“, erklärt Alice.
Florian Pohl, dessen Stück „Vortex“ den Abschluss des ersten Programms bildet, hat schon verschiedene Werke bei den Jungen Choreografen gezeigt. Im Laufe der Zeit habe er gelernt, seine Stücke weniger inhaltlich aufzuladen, erklärt er. An der Arbeitsweise habe sich aber nicht viel geändert. „Ich bin jemand, der in den Saal reingeht, ohne wirklich viele Schritte im Kopf zu haben. Ich habe in paar Ideen, aber ich entwickle mit den Tänzer:innen, die ich habe, Schritte um ihre Bewegungen oder ihren Stil mit reinzubringen, damit sie sich am Ende darin wohlfühlen.“
Wie Alice ließ sich Florian ebenfalls durch Musik zu seiner Choreografie inspirieren. Aber auch das Publikum spielt eine Rolle. „Ich möchte, dass sie einfach zuschauen und Spaß haben, da ich selbst Sachen mache, die mir extrem Spaß machen, wie gerade das Tanzen von Pas de Deux“, sagt er. Auch seine Choreografie, die er selbst gemeinsam mit Madoka Sugai tanzt, ist ein kurzes, akrobatisches und rhythmisches Tanzfeuerwerk.
Ein Multiversum
Die tänzerische Energie haben allen gezeigten Choreografien gemeinsam, aber sonst sind sie sehr unterschiedlich. Das bestätigt auch Florian Pohl: „Ich glaube, es ist interessant für das Publikum, weil man fünf verschiedene Stücke an einem Abend sieht, die total unterschiedlich sind, von der Story, von der Musik, von allem, wie man Tanz noch anders zeigen kann“.
Einige der Choreografien erzählen eine ganze Geschichte, etwa die von Edvin Revazov, der sich mit August Strindbergs Theaterstück „Miss Julie“ auseinandersetzt. Louis Haslachs „Mycelium“ beschäftigt sich mit Klassenkampf und der Ausbeutung von Arbeiter:innen durch einige reiche Industrielle, dargestellt durch eine in Lumpen gekleidete und schmutzige Gruppe von Tänzer:innen, die immer wieder versuchen, sich gegen einen anzugtragenden Chef durchzusetzen.
Wieder andere Choreografien entführen Tänzer:innen und Publikum ins Weltall oder halten der modernen Gesellschaft den Spiegel in Form von Handys vor, welche die Tänzer:innen in Marc Jubetes „Ilone – The Experiment“ kaum aus der Hand legen (können).
Nicht nur die behandelten Themen sind sehr abwechslungsreich, auch die Verwendung von Licht, Musik und Kostümen ist vielfältig. Jede:r der Choreograf:innen entwickelt auch diese Aspekte der Präsentation. Selbstverständlich wählen die jungen Choreograf:innen auch die Tänzer:innen für ihre Stücke aus. Sie hätte für ihre Werke immer schon jemanden im Hinterkopf, erklärt Alice. „Man hat das oft, dass man zum Beispiel in Proben ist und Kolleg:innen anguckt und sagt ‚Boah, ich hätte so Lust, mit dieser Person zu arbeiten‘ oder ‚Ich glaube, die Person würde wirklich gut aussehen in dem, was ich mache oder in meinem choreografischen Stil‘“, erklärt sie.
Was lange währt, wird endlich aufgeführt
Eigentlich hätten die Jungen Choreografen ihre Stücke bereits im vergangenen Frühjahr vor Publikum zeigen sollen. Doch durch Corona wurde daraus nichts. Einfluss auf die Choreografien von Alice und Florian hatte die Pandemie jedoch kaum. „Ich habe eher das Gefühl, das jeder Corona entfliehen wollte und unsere künstlerische Arbeit daher in eine ganz andere Richtung gegangen ist“, sagte Alice. Die Zeit habe sie alle sehr bedrückt und es sei schön, etwas zu machen, was nichts damit zu tun habe. Nur den Anfang ihres Stückes habe sie im Laufe der Zeit noch etwas verändert.
„Vortex“ von Florian Pohl ist über die Zeit gleichgeblieben, für ihn hatte das lange Warten einen weiteren Vorteil: „Es ist schön, wenn man ein bisschen mehr Zeit hat, daran zu arbeiten, weil die Sachen dann noch mehr in den Körper gehen und die Übergänge von Schritt zu Schritt feiner werden.“
Die Feinheit der Schritte, die Kreativität und künstlerische Energie zeigt sich in allen Choreografien immer wieder und so nahmen die neun Mitglieder das Hamburg Balletts, die ihre Choreografien präsentierten, ein begeistertes Publikum mit auf Ausflüge in die Welt ihres Schaffens und Könnens.

Alice Mazzasette wurde in Hamburg geboren und ist am liebsten Zitroneneis. Sie absolvierte auch ihre Ausbildung an der Ballettschule des Hamburg Ballett John Neumeier, wo sie seit 2019 fest als Gruppentänzerin mitwirkt.

Florian Pohl stammt aus Karlsruhe. Er machte seine Ausbildung beim Hamburg Ballett John Neumeier, wo er seit 2019 Solist ist. Sein Lieblingseis ist Ben & Jerry’s Peanut Butter Cup. Er tanzt unter anderem Horvendel in „Hamlet 21“, einen der Drei Weisen in „Weihnachtsoratorium I-VI“ oder Soli in „Des Knaben Wunderhorn“. Besonders gerne tanzt und choreografiert er Pas de Deux.