gelesen: Mehr Nichts!

Viel hilft nicht immer viel. Was also brauchen wir wirklich, um unsere persönliche Zufriedenheit zu steigern? (Foto: Astrid Speke)

Kannst du mit dem zufrieden sein, was da ist? Oder muss es immer mehr sein? Geht auch mal weniger – oder gar nichts? Was brauchst du wirklich? Über diese und weitere Fragen, die unser gesellschaftliches Zusammenleben bestimmen – so etwa aus den Bereichen Medizin, Achtsamkeit und Glauben sowie Ökologie und Wirtschaft – gilt es nachzudenken. Der Neurowissenschaftler, Gesundheitsforscher und Allgemeinmediziner Prof. Dr. Tobias Esch plädiert in seinem neuen Buch für eine auf die Essenz reduzierte Gesinnung, mittels derer die Menschen zurück zu echtem Lebensglück und Nachhaltigkeit finden können.

Denn seit einigen Jahren zeigt sich ein Phänomen, das sich wie ein roter Faden durch sämtliche Areale unserer Lebensrealität zieht: Die Menschen sehnen sich offensichtlich nach Rückzug und Entschleunigung in einer Welt, in der messbare Größen anzeigen, dass sich nahezu alles um sie herum zu beschleunigen scheint.

Schon vor Beginn der Corona-Pandemie zeichnete sich das Bedürfnis der Menschen nach Ruhe und Sicherheit ab. Doch wurde es durch das grassierende Virus noch einmal befeuert, da etwaige Ersatzhandlungen, wie beispielsweise die Ablenkung durch Sozialkontakte oder massenhafter Konsum als Mittel, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erlangen, plötzlich ausblieben. Hinzu kam bei vielen die Erkenntnis, dass der eigene Lebensstil weder dem Menschen noch der Erde guttut und dringend Änderungsbedarf besteht.

In seinem neuen Buch legt Tobias Esch die größten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit dar, wobei er darum bemüht ist, neue Gedanken und Lösungsansätze in die bereits bestehende Diskussion über die menschliche Gesundheit, Erfüllung und Sinnhaftigkeit des Lebens einzubringen. Seine Abhandlung folgt drei Teilen – Medizin, Glaube beziehungsweise Achtsamkeit sowie Wirtschaft und Ökologie   -, in denen es jeweils um die Frage „Mehr oder weniger?“ geht. Auf diese Weise verbindet der Autor unterschiedliche Themenfelder und liefert überzeugende Argumente dafür, dass der Schlüssel für die Problemlösung vermutlich irgendwo in der Mitte liegt.

Gesundheit als Megatrend

Das Thema Gesundheit begegnet uns im Alltag so häufig wie kaum ein anderes. Global steigt die Anzahl der Arztbesuche, zudem werden Menschen weithin immer stärker zu Teilhaber:innen und Multiplikator:innen von Gesundheitsdienstleistungen. Ferner werden Zeitschriften und digitale Angebote zu medizinischen Themen immer stärker genutzt. Das allgemeine Interesse an Gesundheit ist gewaltig und die Medizin setzt ihre bemerkenswerte Erfolgsgeschichte fort. Der Gesundheitsmarkt wächst.

Tobias Esch beleuchtet die Themen Glück und Gesundheit aus vielerlei Perspektiven, wobei er den Schwerpunkt zum einen auf sein Spezialgebiet Medizin, zum anderen auf das Thema Achtsamkeit legt. Der Autor selbst bezeichnet sich als „Mediziner durch und durch“. Ebenso sei er „als Arzt und als Wissenschaftler der Heilkunde engstens verbunden, aber auch als Kunde und Nutzer, als Familienvater, Bürger und Nachbar“. Er betont die immense Bedeutung der Medizin, da sie Leben rette und die Lebensqualität für zahlreiche (vor allem ältere) Menschen durch Forschung sowie verschiedene Therapie- und Behandlungsoptionen signifikant verbessert werde.

Doch gebe es immer auch eine Schattenseite. Das Gesundheitssystem ist – und bleibt auch während der Coronakrise – ein global umkämpfter Markt, der prinzipiell durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Dabei folgt die Medizin einem Wachstumsdiktat und die Debatte über die menschliche Gesundheit weitet sich immer weiter aus. Die Tatsache, dass es immer neue Märkte, neue Bedürfnisse, neue Krankheiten gibt, lässt dabei die Frage aufkommen, ob die medizinischen Möglichkeiten und Kapazitäten insgesamt nicht bald knapp werden könnten. Spätestens an diesem Punkt scheint es naheliegend, sich dem Glauben oder der Achtsamkeits- und Meditationspraxis zuzuwenden, wobei auch dieser neu entstandene Markt seine Tücken berge.

Fazit

Tobias Esch stößt durch seine vielschichtigen, aber differenzierten Gedanken und faktenbasierten Ausführungen eine umfassende Debatte an, die die Konzentration auf das Wesentliche zum Mittelpunkt hat. Er macht deutlich, dass es letztlich an jedem/jeder Einzelne:n liegt, selbstbestimmt sämtliche Lebensbereiche zu überdenken und gegebenenfalls zu verändern. In einer Gesellschaft, in der sich Widersprüche häufen, Pluralismus und Diversität, Leistung und Anerkennung großgeschrieben werden, müssen sich die Menschen bewusst von dem ewigen Streben nach „Mehr“ sowie den stetig aufkommenden möglichen Alternativen distanzieren. Dass „Mehr Nichts“ beziehungsweise „Weniger“ eine befreiende „Leere“, Gedankenfreiheit und Handlungsspielraum für uns alle bedeuten kann, verdeutlicht der Autor anhand einiger Beispiele, Studien und Exkurse. Dabei behält er einen optimistischen, lösungsorientierten Grundton bei, der positiv stimmt und die eigene Gestaltungslust weckt. Anzugehende Probleme stellt er ins Licht der Herausforderung: „Wir sollten keine Angst vor dem Wandel haben. Wir sollten uns daran erfreuen!“ Gerade die Zeit des Studiums ist für viele eine Phase des Umbruchs sowie der Chancen und (Entscheidungs-) Möglichkeiten, aber genauso ein Lebensabschnitt, der von Anstrengung und Überforderung geprägt sein kann. Mehr Optionen sind nicht immer hilfreich und gut, sondern erfordern die Fähigkeit des/der Einzelnen, mehr Sinn und Lebenszufriedenheit im „Weniger“ zu entdecken. Letztlich schließen sich Einfachheit und Tiefe nicht aus, sondern führen erwiesenermaßen zu mehr Erfüllung.

AutorProf. Dr. Tobias Esch
VerlagGoldmann
Preis22,00 Euro
Seitenzahl432 Seiten