gelesen: Über Menschen

Sind Menschen wirklich so verschieden, wie sie im Alltag häufig annehmen? (Foto: Astrid Speke)

Zuhause ist nicht einfach eine Wohnung, ein Haus oder ein Garten. Zuhause ist ein Gefühl, das sich entwickeln muss und maßgeblich von der Beziehung zu unseren Mitmenschen, aber auch zu uns selbst, abhängt. Nun sind Selbstentfremdung, Einsamkeit und mangelndes Verständnis heutzutage keine Seltenheit. In ihrem neuen Roman erzählt Juli Zeh, wie es uns gelingen kann, Menschlichkeit offen walten zu lassen, als Stärke anzuerkennen und in Krisenzeiten – trotz aller Unterschiede – füreinander da zu sein.

Dora, 36 Jahre alt und aus Berlin, steckt in der Krise. Ihre bröckelnde Beziehung zu ihrem Freund Robert, der stressige Job als Werbe-Texterin, Großstadtwirbel und nun auch noch der Corona-Lockdown treiben sie in die Einsamkeit. Sie weiß nicht, wohin mit sich, bis sie bedenkt, dass sie vor einiger Zeit ein altes Gutsverwalterhaus in Bracken, einem kleinen Dorf im brandenburgischen Nirgendwo, gekauft hat.

Während viele Städter:innen ein Haus auf dem Land als Zweitwohnsitz erstehen, hat Dora nie wirklich die Absicht gehabt, ihre freie Zeit dort zu verbringen. Das Gutsverwalterhaus war für sie mehr eine Idee, ein fiktiver Notausgang aus dem eigenen Leben – den sie jedoch tatsächlich wählt, als ihr herrischer, übereifriger Freund Robert ihr coronabedingt verbieten will, die Wohnung zu verlassen, um mit ihrer Hündin Jochen spazieren zu gehen. Sehnsucht nach Ruhe? Atempause für die Seele? Abkehr von urbanen Lebensbedingungen und Hinwendung zum ländlichen Idyll? Dora kann selbst nicht sagen, was sie eigentlich sucht. Was jedoch feststeht ist, dass sie schleunigst wieder Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken bringen muss.

Aus Weltschmerz hat Dora außerdem ihren Nachrichtenkonsum stark eingeschränkt: Sie erträgt es schlicht nicht, dass Corona die Medien dominiert, als seien der Bürgerkrieg in Syrien, die Drangsalierung von Flüchtlingen, Neonazi-Terroristen und die weltweite Armut plötzlich nicht mehr existent – und vor allem als wären all dies niemals reale Probleme gewesen. Sie muss etwas in ihrer Gedanken- und Lebenswelt ändern, denn so wie bisher kann es nicht weitergehen. Da scheint es für sie nur folgerichtig, einen neuen Ort zu beziehen, neue Menschen zu treffen und in einer fremden Umgebung neue Eindrücke zu sammeln.

„Hallo, ich bin hier der Dorf-Nazi“

Was zunächst simpel klingen mag, entpuppt sich als ungewollte Herausforderung. Es passieren Dinge, die Doras städtisches Weltbild ins Wanken bringen und sie zum Nachdenken zwingen. Die Krux ist nämlich, dass sie zwar den neuen Wohnort wählen konnte, die dort lebenden Personen aber nicht.

Doras neuer Nachbar Gote stellt sich ihr sogleich mit den Worten „Hallo, ich bin hier der Dorf-Nazi“ vor. Dieser hat auf der einen Seite bornierte Ansichten und ein Alkoholproblem, singt abends im Garten mit seinen Freunden das Horst-Wessel-Lied und ist mitschuldig am Mord an einem 40-jährigen Mann, der einst Mitglied der örtlichen Antifa gewesen ist. Auf der anderen Seite jedoch überlässt der Mann Dora ein Bett sowie vier eigenhändig abgeschliffene und lackierte Stühle für ihr neues Haus, er schenkt ihr die Zinnsoldaten aus seiner Kindheit und strengt sich – auch wenn er die meiste Zeit überhaupt nicht zurechnungsfähig ist – aufrichtig an, seiner Tochter Franzi ein guter Vater zu sein.

Auf eine Zigarette mit Alexander Gerst

Regelmäßig stehen Dora und Gote auf Gartenstühlen an der Mauer zwischen ihren Grundstücken, um gemeinsam zu rauchen. Denn ungeachtet einiger diametraler Ansichten, individueller Neigungen sowie Stärken und Schwächen, finden sich die Menschen letztlich doch auf derselben Erde wieder. Sie sind eine „Existenzgemeinschaft“ und können, ganz gleich ob sitzend oder stehend, schweigend oder redend, als Raucher:innen und Nicht-Raucher:innen, füreinander da sein. Respekt und Fürsorge sind nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine bewusste Entscheidung, findet Dora.

Die Erde wird sich weiterdrehen, die Sonne jeden Morgen von Neuem aufgehen und Alexander Gerst zeit seines Lebens ins Weltall fliegen, die Menschen vom Kosmos begeistern und mit der Aussicht beseelen, dass die Vorstellung von gesellschaftlicher Polarisierung doch nur ein gewaltiger Irrtum sein kann. Mehrfach blickt Dora in den Himmel und fragt sich, ober er gerade dort oben ist. Auch wenn Gerst, der oft Teil von Doras Gedanken ist und zu dem sie sich geistig hingezogen fühlt, sicher nicht raucht, würde er wohl eine Zigarette mit ihr teilen und über heikle Fragen sprechen? Sie kann es nicht wissen.

Fazit

Juli Zeh weiß genau, welche Spannungsbögen sie aufbauen muss, damit die Geschichte funktioniert. So liest sich ihr Roman erstaunlich leicht, obwohl sie Themen adressiert, die ein hohes Maß an Komplexität aufweisen. Die Leser:innen werden umfassend mit gegenwärtigen sowie schon lange vorhandenen Problemen konfrontiert: Globalisierung, Landflucht, Bildungsmisere, Rechtsextremismus, Klimawandel und vielen mehr. Corona ist dabei nur die Kulisse, vor der die Autorin die Geschichte spielen lässt und mit der sie den Zeitgeist nicht besser hätte treffen können.

Dora verkörpert als Identifikationsfigur eine Haltung und Weltanschauung, wie sie womöglich viele Menschen von sich selbst kennen. Sie ist unzufrieden mit sich und der Welt, will etwas verändern, aber weiß nicht, wo und wie sie anfangen soll. In ihr macht sich ein Gefühl der Vergeblichkeit breit, das es zu überwinden beziehungsweise zu überdenken gilt. Die Personen, die sie in Bracken kennenlernt – aber auch diejenigen, die sie noch aus Berlin kennt – lassen sie erkennen, dass sie gar nicht so anders und einsam ist, wie sie oft annimmt. Letzten Endes ähneln sich Menschen doch mehr, als sie zunächst glauben (wollen). Sie lassen sich auch nicht in Kategorien wie „Neonazis“, „Hartz IV-Empfänger:innen“, „Flüchtlinge“ oder „Gutmenschen“ einordnen, weil ihre Lebensgeschichten und Persönlichkeitsstrukturen schlichtweg zu divers sind, um darüber mutmaßliche Schlüsse mit objektivem Geltungsanspruch ziehen zu können. Juli Zeh zeigt so, dass die Erde zwar unser Wohnort ist, doch dass es die Menschen sind, die gemeinsam ein Gefühl von Zuhause erschaffen können.

AutorinJuli Zeh
Verlag Luchterhand
Preis22,00 Euro
Seitenzahl412 Seiten