Von seinem Ursprung in den Rocky Mountains bis ans Meer in Mexiko wird Ana Zirner dem Colorado River – der Lebensader des amerikanischen Westens – zur Begleiterin. Zu Fuß und mit einem aufblasbaren Kajak möchte die deutsche Bergsportlerin den Fluss in all seinen Facetten kennenlernen. Dabei beschäftigt sie sich unter anderem mit seiner Gesundheit und der bedeutenden Kraft des Elements Wasser.
Ana Zirner ist bekannt für ihre langen Solotouren. Aufgewachsen im bayerischen Voralpenland überquerte die heute 38-Jährige 2017 zunächst die Alpen und im Folgejahr die Pyrenäen, bis sie schließlich 2019 auf dem und entlang des Colorado Rivers unterwegs war. Die Erfahrungen ihrer ersten Reise hielt sie in ihrem Buch „Alpensolo“ fest. In ihrem jüngsten Werk „RIVERTIME“ beschreibt die Autorin nun rückblickend die kleinen und großen Erlebnisse, die ihr während ihrer Zeit auf einem der wildesten Flüsse der USA zuteilwurden.
Die Distanzen und das Ausmaß der Wildnis seien für Europäer:innen wie sie oft überwältigend, insbesondere wenn sie zu Fuß unterwegs sind, schreibt Zirner. Als Reisende:r müsse man die eigenen Grenzen gut einschätzen können und planvoll, aber gleichermaßen flexibel, vorgehen, um sich sicher und gut ausgerüstet fortzubewegen. Ein aufblasbares Kajak (genannt „Packraft“), ein kleines Zelt, die richtige Schutzkleidung, ein Notfallmesser, gefriergetrocknete Mahlzeiten und ein GPS-Gerät sind nur einige der Dinge, die man in der US-amerikanischen Wüste sowie auf dem Colorado River zum (Über-) Leben unbedingt benötigt.
Von Lebensanfang bis -ende
Trotz intensivster Planung hat die Autorin selbst erst vor Ort wirklich verstanden, was sie auf ihrer Reise wirklich brauchte: Instinktiv passte sie sich an die verschiedenen Wetterlagen sowie Erscheinungsweisen des Flusses an. Allmählich beginnt sie, in ihm ein Lebewesen zu erkennen, das die Entwicklungsphasen der Geburt, Kindheit und Jugend, des Erwachsenseins und Alters durchläuft. Ausgangspunkt ihrer Flussexpedition sind die US-amerikanischen Rocky Mountains im nördlichen Colorado; dort, wo der Colorado River aus unzähligen kleinen Bächen geboren wird und seine 2330 Kilometer lange Reise in Richtung Meer beginnt, letztlich aber als karges Flussdelta endet.
In den ersten Wochen ist das Paddeln auf dem teils noch gefrorenen Colorado River unmöglich, sodass Ana Zirner den Flusslauf zunächst am Ufer entlang verfolgt. Anschließend bewältigt sie einige nervenaufreibende Kilometer entlang des stark befahrenen Highways sowie kurze Fahrtstrecken per Anhalter und im Zug, bevor sie endlich die unberührte Wildnis erreicht.
Ein Fluss mit vielen Gesichtern
Fortan bahnt sich die Alleinreisende mit einem Paddel ihren Weg durch fünf US-Bundesstaaten bis hin zum Golf von Kalifornien bei Mexiko. Die junge Frau entdeckt immer neue Eigenschaften am Fluss und lernt, ihn in seiner Eigenartigkeit und Besonderheit wahrzunehmen, gewissermaßen sogar zu verstehen. Die vielen Formen und Farben sowie die Weite der Wüstenlandschaft berühren Ana Zirner nachhaltig. In erster Linie aber ist sie ergriffen von der Kraft des Wassers, der Vielseitigkeit des Colorados und seinem universellen Stellenwert:
Der Colorado River ist mehr als ein Fluss, und er hat viele Gesichter. Er ist ein Abbild der sozialen Strukturen, denen er ausgeliefert ist. Er wird gleichermaßen respektiert und ausgebeutet, er wird leidenschaftlich geliebt, pragmatisch genutzt und rücksichtslos missbraucht.
Ana Zirner
Für die indigene Bevölkerung ist der Colorado River ein heiliger Ort, für etliche Tiere und Pflanzen die Lebensgrundlage; für die Landwirtschaftsindustrie ein zentraler Rohstofflieferant und für Staudammbauer:innen der Beweis des menschlichen Triumphs über die Natur. Als engagierte Klimaschützerin reflektiert die Autorin vielfach Themen, die in Zusammenhang mit sozialen Phänomenen und dem Schutz unserer Umwelt stehen. Sie macht auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen konkurrierender Gesellschaften aufmerksam und zeichnet anhand des Mikrokosmus des Colorado Rivers ein ungeschöntes Bild des modernen US-Amerikas.
Rivertime – ein Maß für die Zeit
Selbstverständlich durchlebt die Abenteurerin Höhen und Tiefen: Phasen der Wut, Schwere, Einsamkeit und Erschöpfung wechseln mit Tagen der Euphorie, Leichtigkeit, inneren Ruhe und wohligen Empfindsamkeit. Variablen wie die Strömung des Flusses und Wettergewalten zehren an ihren Kräften und stellen sie von Anfang an auf die Probe. Doch ihr unbeugsamer Wille und die bewusste Konzentration auf das Positive erweisen sich als treue Konstanten und lassen sie ihren Weg gen Südwesten fortsetzen.
Während sie unterwegs ist, verliert sie jegliches Gefühl für die konventionelle Zeit, weil ihr Kalender nun in „Rivertime“ läuft – einem flüssigen Zeitmaß, das ganz ohne Zahlen, Uhrzeiger und andere menschengemachte Größen funktioniert. Kein nerviges Ticken, kein Zeitdruck; von Bedeutung ist nur das, was unmittelbar vor ihr liegt. Immer wieder betont die Autorin, wie schwer es ihr falle, das Erlebte wahrheitsgemäß wiederzugeben. Passend hierzu notiert sie an Tag 45 ihrer Reise:
Tag 45: Faszination, Erstaunen, Inspiration, Bewusstseinserweiterung, Schönheit … Worte sind kalt, reichen nicht aus, sie sind zu menschlich, um das hier zu beschreiben. Ich schreibe nicht mehr. Ich sehe, höre, fühle besser.
Ana Zirner
Fazit
Ana Zirners Buch ist mehr als ein einfacher Reisebericht, aber auch kein typischer Selbstfindungs-Kompass für den modernen Zivilisationsmenschen. Die Landschaftsbeschreibungen der Autorin sind beeindruckend und die zahlreichen Karten und Bilder ergänzen ihre Erzählung in hervorragender Weise. Besonders schön ist, wie sie die vorbeiziehenden Landschaften, aber auch Wetterphänomene in emotionalen Geisteszuständen und zwischenmenschlichen Empfindungen spiegelt. Es ist ihr gelungen, ihre individuellen Erfahrungen sowie gewonnen Einsichten mit den natürlichen Prozessen des Flusses, dessen Geschichte und Wesen erzählerisch zu verweben. Für die Lesenden fügt sich so schließlich alles zu einem nachvollziehbaren Ganzen zusammen.
Die Autorin teilt mit ihren Leser:innen mehr als nur eine Geschichte. Aufgehängt an aktuellen Ereignissen und Herausforderungen, wie der Klimakrise und weltweiten Wasserknappheit, humanitären Missständen in mexikanischen Flüchtlingscamps sowie dem Vergehen an der indigenen Kultur, appelliert und inspiriert Ana Zirner zum Nachdenken. In Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer (sozialen) Umwelt beweist sie, wie wichtig es ist, einander zuzuhören und Toleranz gegenüber Andersartigkeit zu zeigen. Als Leser:in sollte man daher nicht nur interessiert an Natur, Sinnlichkeit und Abenteuerreisen sein, sondern genauso auch an unterschiedlichen Sichtweisen. Das Leben ist mannigfaltig und so auch der Colorado River, der Zirners Begeisterung für das Element Wasser geweckt hat.
„Wenn es eine Materie gibt, in der Magie lebendig wird, dann im Wasser“.
Autor | Ana Zirner |
Verlag | Malik |
Preis | 20,00 Euro |
Seitenzahl | 286 |