gelesen: Zahlen sind Waffen

Der Gesprächsband ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. (Foto: Valentin Hillinger)

„Ich kann gar nicht so gut reden“ sagt Sibylle Berg zum Einstieg ins Gespräch – und beweist dann das Gegenteil. Gemeinsam mit Dietmar Dath, Autor („Niegeschichte“) und Science-Fiction-Kenner kommt Sybille Berg, Autorin von „GRM Brainfuck“, das zwar oft unter Science Fiction eingeordnet wird, aber eigentlich keine ist, im Oktober 2019 zu einem Gespräch zusammen. Sie unterhalten sich über Dystopien, Literaturkritik, Digitalisierung und Marxismus, kurz: Sie reden über die Zukunft.

Lars Weisbrod, Jens Balzer, Maja Beckers und Thomas Vašek führen die insgesamt drei Gespräche. Sie alle sind erfahrene Kulturjournalist:innen und begegnen ihren Gesprächspartner:innen mit klugen Fragen. Doch um welche Zahlen soll es eigentlich gehen? Und warum sind diese Waffen? Die Rede ist von den Daten, die Algorithmen über uns alle sammeln und die – wie zahlreiche Geschichten zeigen – auch gegen uns verwendet werden können. Womit wir auch schon im ersten Thema wären.

Was ist „Literaturhausliteratur“?

Dystopien sind das erste Thema, an dem sich die Gesprächspartner abarbeiten. Sie haben Hochkonjunktur – zahlreiche Serien, Bücher und Filme handeln von einer schlimmen Zukunft. Kein Wunder, sie seien auch ein tolles Instrument, wie Dietmar Dath erklärt: Man könne die Welt gut erklären, in dem man sie kaputt macht.

Dystopische Szenarien werden oft einem bestimmten Genre zugeschrieben: Der Science-Fiction, die von der etablierten Literaturkritik nie ernst genommen wurde. „Literaturhausliteratur“ nennen die beiden das, „was im Feuilleton besprochen wird“. Diese Art der Literatur handle nur von den Sorgen des Kleinbürgertums. Science-Fiction würde von der Literaturszene als Bedrohung wahrgenommen. Bücher wie Sibylle Bergs „GRM Brainfuck“, die sich nicht so einfach in die etablierten Kategorien der Kritik einordnen lassen, seien für viele schwer zu fassen.  Science-Fiction schaffe es aber, die Welt und die Zukunft zu bearbeiten, ohne dabei in Sozialkunde-Gehabe zu verfallen, erklären die beiden Autor:innen.

Die Bedeutung von „GRM“

Sybille Berg sieht nicht kritisch auf die digitale Revolution: denjenigen, die die Kontrolle über die technischen Entwicklungen haben, liege nichts daran, dass die Masse über die Gefahren und Funktionsweisen nachdenkt. Die digitale Welt wurde von weißen Männern entworfen, sie hätten die Regeln festgelegt. Sibylle Berg fragt sich, ob daraus wirklich was Neues entstehen könnte.

Schon in „GRM Brainfuck“ konnte man lesen, welche Befürchtungen die Autorin bezüglich der Zukunft hat. Sibylle Berg hat in ihrem Roman eine Welt erschaffen, in der Großbritannien von einem hyperkapitalistischen Überwachungsstaat regiert wird, während immer größere Teile der Gesellschaft verarmen. Der Roman, der oft als Dystopie bezeichnet wurde, sei aber eigentlich gar keine Dystopie: So sei die Welt, in der wir leben. Das erklärt Sibylle Berg auch noch einmal im Gespräch mit Jens Balzer und Maja Beckers. Sie knüpft an die Gesellschaftskritik, die in all ihren Werken zum Ausdruck kommt, an und führt sie weiter fort.

Am Ende wird man aber doch noch mit einem positiven Gefühl aus der Lektüre entlassen: Die vielen unglaublich großartigen Menschen, die es gibt, Tiere, Wassermelonen, Kioske in italienischen Meerorten, oder auch Nerds, all das stimmt Sybille Berg optimistisch für die Zukunft.

Die Systemfrage stellen

Und dann kommt Dietmar Dath zu einem zentralen Punkt: „Mich regen Leute auf, die es schlimm finden, überwacht zu werden, während sie es nicht schlimm finden, beherrscht zu werden. Wenn sie nur gegen die Tools sind und nicht gegen unsere Gesellschaftsordnung.“ Technische Innovationen seien nicht inhärent „böse“, sie würden aber zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden. Ein ähnliches Argument hatte schon 1985 die Feministin Donna Haraway geäußert, die vom „Herrschaftscharakter der Technik“ schrieb. Auch sie verstand sich, wie Dietmar Dath, als Sozialistin. Haraway ermutigte ihre eigene politische Bewegung, sich die technischen Entwicklungen für ihre Ziele anzueignen.

Dieser Gedankengang ist auch heute noch aktuell und wird von Dietmar Dath dargelegt. Sibylle Berg erkennt dieses Potenzial in den Sozialen Netzwerken: „[…] ich glaube nicht, dass man sich deswegen vollständig von ihnen fernhalten sollte. Man kann sich solche Plattformen ja auch aneignen.“

Fazit

Der Gesprächsband schafft es, viele wichtige Themen, die unser aller Zukunft betreffen, in unterhaltsamer Form zu vermitteln. Die Journalist*innen Lars Weisbrod, Jens Blazer, Maja Beckers und Thomas Vašek, die mit Sibylle Berg und Dietmar Dath die Gespräche geführt haben, regen mit klugen Fragen kluge Antworten an. Viele komplexe und vielfältige Themen werden abgehandelt, die Leser:innen können sich auf aufschlussreiche und anregende Gedankengänge freuen. Langweilig wird es dabei nicht, zudem beweisen die Gesprächspartner:innen immer wieder Humor. Was nach der Lektüre bleibt, ist ein differenziertes Denken über die Zukunft abseits von stumpfen Utopie- oder Dystopie-Szenarien. 

AutorSibylle Berg, Dietmar Dath, Lars Weisbrod (Hg.), Jens Balzer (Hg.), Maja Beckers (Hg.), Thomas Vašek (Hg.)
VerlagMatthes & Seitz Berlin
Seitenzahl117
Preis10,00 Euro