Beschimpfungen, „Lügenpresse!”-Rufe, Attacken auf Kameras und körperliche Übergriffe: Gewalt gegen Journalist*innen hat während der Corona-Krise zugenommen. Gewerkschaften fordern bereits seit längerem besseren Schutz für Medienschaffende auf Demonstrationen. Was muss sich ändern?
Nach einer „Querdenker”-Demonstration Ende März in Kassel wird ein Video auf Twitter hunderte Male geteilt: Es zeigt den Fotojournalisten Felix Dressler – und wie dieser zu Boden geht. Zuvor ist in dem kurzen Beitrag ein Teilnehmer der Demonstration zu sehen, der mehrfach nach Gegendemonstrierenden tritt, die sich dem Zug in den Weg stellen. Felix Dressler steht daneben und fotografiert die Szene. Als der Angreifer realisiert, dass seine Handlungen dokumentiert werden, stürmt er auf den Fotografen zu und schlägt ihm mit der Faust direkt ins Gesicht. Die traurige Wahrheit: Vorfälle wie dieser sind kein Einzelfall. Erst am Ostersamstag musste ein Team des SWR in Stuttgart eine Live-Schalte für tagesschau24 abbrechen. Sie hatten Angst, aufgrund ihrer Berichterstattung mit Steinen beworfen zu werden.
Bereits seit einem Jahr ziehen selbsternannte „Querdenker” regelmäßig durch die Straßen, um ihre Wut über die Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie zu äußern. Wo sie auftauchen, sind auch Anfeindungen gegenüber Journalist*innen meist nicht weit. So häufen sich die Berichte und Videos von Medienschaffenden, die Opfer von Übergriffen geworden sind, insbesondere auf Twitter. Das Perfide: Es sind nicht nur Neonazis und gewaltbereite Hooligans, die ihrer offenkundigen Pressefeindlichkeit Taten folgen lassen oder diese dulden, sondern auch Verschwörungstheoretiker*innen oder Impfgegner*innen. „Die milieuübergreifende Zusammensetzung der Querdenken-Anhänger*innen und ihr oftmals bürgerlich wirkendes Erscheinungsbild erschweren es Journalist*innen zunehmend, die Gefahr eines Angriffs einzuschätzen“, sagt Martin Hoffmann vom European Centre for Press and Media Freedom (ECPMF).
Diskreditierungen und Übergriffe auf Medienschaffende zählen aber nicht erst seit dem vergangenen Jahr zum Alltag der Berichterstattenden. Bereits bei den zahlreichen Aufmärschen der rechtspopulistischen Organisation PEGIDA oder in Chemnitz, wo es 2018 zu Ausschreitungen durch organisierte Rechte und Neonazis kam, eskalierte die Gewalt gegen Medienschaffende. Sarah Ulrich, freie Journalistin und Landeskorrespondentin der taz für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, wollte daher eigentlich nicht mehr von Demonstrationen berichten. Sie empfand sie als zu kräfteraubend. Am 7. November 2020 tat sie es dennoch – und wurde auf der „Querdenker”-Demo in Leipzig mit einer Welle der Gewalt konfrontiert. Sie und ihre Kolleg*innen wurden von Demonstrierenden eingekesselt, beschimpft und mit Gegenständen beworfen. „Es gab weder hinten noch vorne. Wir haben uns dann mit dem Rücken an ein Polizeiauto gestellt, um wenigstens von hinten nicht angegriffen werden zu können.” Dort warteten sie, bis die Demonstrierenden vorbeigezogen waren. Es wundere sie nicht, dass gewaltbereite Hooligans und Neonazis die Presse angreifen, sagt Ulrich. Dennoch teilt sie die Einschätzung des ECPMF: „Da haben scheinbar ganz normale Leute Hand in Hand mit Neonazis die Polizeikette durchbrochen.”
Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in der Gewerkschaft ver.di zählte allein bei der Demonstration in Leipzig 38 körperliche Übergriffe. „Im Vergleich zu den Anti-Corona-Demonstrationen in Berlin haben wir eine völlig neue Dimension beobachtet, was das Ausmaß der Gewalt betrifft“, so Sprecherin Tina Groll. Schilderungen wie die von Sarah Ulrich sind also kein Einzelfall: Zahlreiche Medienschaffende berichten davon, angebrüllt und geschlagen oder von Hooligans umzingelt worden zu sein. Mindestens ein Journalist wurde dabei zu Boden geprügelt.
Zahl der Übergriffe mehr als verdoppelt
Die Vorfälle in Leipzig markierten damit eine neue Stufe der Eskalation zwischen Pressefeinden und Medienschaffenden. Zwar wurde bereits am 1. Mai 2020 in Berlin ein Team der ZDF-Heute Show von Vermummten mit metallischen Gegenständen attackiert. Vier Menschen mussten nach den Angriffen im Krankenhaus behandelt werden. Jedoch warnen Journalismusgewerkschaften vor dem neuen Ausmaß und der Vielzahl an Übergriffen. Das belegen auch die Zahlen des Kriminalpolizeilichen Meldedienstes, die als Antwort auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom Bundesinnenministerium veröffentlicht wurden. Demnach wurden im vergangenen Jahr 252 Straftaten in Deutschland verübt, die sich gegen Medienschaffende richteten, darunter zahlreiche Sachbeschädigungen und Bedrohungen, aber auch 22 Körperverletzungen. Damit hat sich die Zahl der körperlichen Übergriffe im Vergleich zu 2019 mehr als verdoppelt. Die meisten Angriffe ereigneten sich in Sachsen, gefolgt von Berlin und Nordrhein-Westfalen. Eine Studie des ECPMF kommt auf ein noch erschreckendes Ergebnis. Demnach gab es im vergangenen Jahr 69 gewalttätige Übergriffe auf Journalist*innen und damit so viele wie nie zuvor. 71 Prozent der Angriffe ereigneten sich auf Protesten gegen die Corona-Maßnahmen. Auch Reporter ohne Grenzen erfasst die Zahlen von Übergriffen auf Journalist*innen. Die Ergebnisse für 2020 stehen noch aus, allerdings erkennt auch Sprecherin Anne Renzenbrink eine deutliche Tendenz: „Wir verzeichnen einen extremen Anstieg im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr.” Allerdings vermutet sie auch eine hohe Dunkelziffer: Viele Betroffene wollen sich aus Sicherheitsbedenken nicht äußern oder fühlen sich nicht ernst genommen.
Vor allem nach der „Querdenken”-Demonstration am 7. November in Leipzig wurde zunehmend Kritik an Polizeibeamt*innen laut. Sie sollen Medienschaffende durch die Androhung von Platzverweisen und der Entziehung ihrer Presseausweise maßgeblich an ihrer Arbeit behindert haben. Zudem seien neun der 38 erfassten Übergriffe von der Polizei ausgegangen. „Die Polizistinnen und Polizisten sind ihrer Aufgabe, die Pressefreiheit durchzusetzen und Journalistinnen und Journalisten zu schützen, nicht nur nicht nachgekommen. Sie haben diese zum Teil selbst an ihrer Arbeit gehindert“, kritisierte Groll von der dju.
Kritik an Vorgehen und mangelndem Bewusstsein der Polizei
Bereits seit Jahren beklagen Medienschaffende und Gewerkschaften, dass die Polizei oftmals nicht gut genug über ihre Rechte und Pflichten aufgeklärt sei. Zu oft würde die Arbeit von Journalist*innen dadurch behindert und ihnen das Gefühl vermittelt, sie seien Störenfriede und Pressefreiheit reiner Luxus. Silvio Duwe, freier Reporter, war am Tag nach der Demonstration in Leipzig unterwegs. Dort wurde er von der Polizei mitgenommen, um seine Identität festzustellen. Zuvor wurde er mitsamt seiner Kamera attackiert. „Prinzipiell erlebe ich es ganz selten, dass die Polizei weiß, was Journalisten dürfen und was nicht. Stattdessen kommt es häufig vor, dass mich die Polizei in bedrohlichen Situationen anspricht und meint, dass sie mich nicht beschützen könne und dass es mein eigenes Risiko wäre, wenn ich hier filmen wolle.”
Auch das ECPMF und der Deutsche Presserat teilen die Forderungen nach besserem Schutz für Medienschaffende. Der Presserat formulierte daher nach den Vorfällen in Leipzig eine Überarbeitung der Verhaltensgrundsätze für Medien und Polizei, um auf die wachsende Gefährdung aufmerksam zu machen. Die darin enthaltenen Lösungsvorschläge: verbesserte Sicherheitskonzepte und ein stärkeres Bewusstsein für die Rechte und Pflichten von Medienschaffenden, die auch stärker in der Aus- und Weiterbildung von Polizist*innen verankert werden sollen. Insbesondere bei Großveranstaltungen solle die Kommunikation beider Parteien verbessert werden. Die Verhaltensgrundsätze sollten auf der Innenministerkonferenz im Dezember 2020 thematisiert werden. Geschehen ist das nicht. „Dadurch wird deutlich, dass das Thema auf Bundesebene nicht ernst genug genommen wird”, kritisiert Monique Hofmann, Bundesgeschäftsführerin der dju. Auch Hendrik Zörner vom Deutschen Journalisten-Verband (DJV) erkennt keinen Willen, das Problem anzugehen: „Briefe von uns, die wir an das BMI geschrieben haben, haben noch nicht mal eine Eingangsbestätigung bekommen.” Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums verweist lediglich auf die regelmäßige Evaluation der Aus- und Fortbildung der Bundespolizei. Zudem seien ihm zum Zeitpunkt der Anfrage nur zwei Schreiben des DJV bekannt.
Dennoch erkennen sowohl Betroffene als auch Gewerkschaften Besserungen. Zörner betont, dass einzelne Landesministerien sich offen für Gespräche zeigten. Denn da der Versammlungsschutz Aufgabe der Landespolizei ist, müssen Maßnahmen in jedem Bundesland neu verhandelt werden. Auch die dju stellt Berichtigungen des Verhaltens von Polizist*innen fest. So habe das Land Berlin nach den Vorfällen im vergangenen Jahr eine bessere Zusammenarbeit zwischen Polizei, Innenministerium und der DJU vereinbart. Dafür sollen Demonstrationen regelmäßig gemeinsam ausgewertet sowie zusätzliche Schulungen für Einsatzkräfte und Informationsmaterial der DJU für die Polizei bereitgestellt werden. Auch in Sachsen sollen in Zukunft Runde Tische mit Vertreter*innen der Presse, Polizei und Politik stattfinden. Die Polizei Sachsen verweist zudem auf ein Pilot-Projekt von 2019, bestehend aus einem mehrstufigen Aus- und Fortbildungskonzept zur Zusammenarbeit von Polizei und Medien in Einsätzen. Dafür wurden Schulungen von Einsatzmoderator*innen und Gastvorträge von Journalist*innen in das Lehrprogramm aufgenommen sowie Übungsszenarien erstellt. Für 2021 sind weitere Veranstaltungen geplant. Zudem habe es laut einem Sprecher der sächsischen Polizei bereits am 7. November ein entsprechendes Schutzkonzept für Medienschaffende gegeben. Medienschaffende hätten sich an Beamt*innen wenden können, um über das Veranstaltungsgelände begleitet zu werden.
Gewerkschaft fordert Schwerpunktstaatsanwalschaften
Für viele Journalist*innen kommt das jedoch nicht infrage. Auch nicht für Linus Pook. Er ist freier Videojournalist bei democ, einem Verein zur Dokumentation demokratiefeindlicher Bewegungen, und berichtete von zahlreichen Demonstrationen im vergangenen Jahr: „Ich habe keine Lust, auf Polizist*innen angewiesen zu sein, sie verändern die Situation. Leute schauen dich anders an, wenn man von vier Polizisten abgeschirmt wird.” Er selbst sei jedoch auch kaum Opfer von Attacken: „Ich bin ein relativ großer, schwerer, weißer Mann. Manchmal schreie ich auch zurück.” Für ihn funktioniere das gut, doch natürlich könne das nicht die Lösung sein. Welche anderen Maßnahmen müssen ergriffen werden?
Julius Geiler fordert eine unabhängige Beschwerdestelle bei der Polizei. Er war als Reporter für den Tagesspiegel im vergangenen Jahr ebenfalls auf etlichen Corona-Demonstrationen unterwegs. Er berichtet, von Kolleg*innen vor bestimmten Orten gewarnt worden zu sein, an denen Pressevertreter*innen gezielt gejagt worden seien. Aber auch schon davor habe er gezielte Anfeindungen erfahren. „Der Helm gehört mittlerweile zu meiner Standardausrüstung”, sagt er. Zudem bewege er sich meist nur in Begleitung anderer Journalist*innen. Der freie Reporter Silvio Duwe unterstützt die Forderung nach einer Studie zu den politischen Einstellungen innerhalb der Polizei. Auch die Vorstellungen der Gewerkschaften gehen darüber hinaus: „Es sollte eine Art Schwerpunktstaatsanwaltschaft geschaffen werden, weil es sowohl in der Justiz als auch bei der Polizei an Bewusstsein für das Problem mangelt”, sagt Monique Hofmann (dju). Hendrik Zörner (DJV) empfiehlt, nur erfahrene Reporter*innen zu Demonstrationen mit Eskalationspotential zu schicken. Außerdem bieten immer mehr Gewerkschaften Notfalltelefone, Mail-Adressen und Gruppen in Nachrichtendiensten zur Vernetzung bei Schwierigkeiten und Meldung etwaiger Übergriffe an. Auch die Rundfunkanstalten haben ihre Verantwortung erkannt: Der RBB und der MDR schützen beispielsweise ihre Teams durch die Begleitung von Sicherheitspersonal. Zudem fänden Schulungen für Reporter*innen zur Vorbereitung und zur Vermittlung von Deeskalationsmaßnahmen statt.
Sarah Ulrich, Landeskorrespondetin der taz, betont auch die Relevanz der Sensibilisierung der Redaktionen: „Diese Notsituation des Gefangenseins hat bei mir auch psychologische Auswirkungen zur Folge gehabt. Deswegen war ich sehr froh, dass die taz eine Vertrauensstelle anbietet, die mir psychologische Hilfe vermitteln konnte.” Niemand dürfe gezwungen werden, von Demonstrationen zu berichten. Langfristig könne die Lösung jedoch nur eine gesamtgesellschaftliche sein: „Pressefeindlichkeit ist eine ideologische Frage, der man nicht mit einfachen Maßnahmen begegnen kann”, betont Ulrich. „Es hilft, immer wieder zu betonen, dass die Pressefreiheit ein sehr hohes Gut ist und wie wichtig sie für demokratische Prozesse ist. Journalismus muss sowohl ideell als auch finanziell wieder mehr wert werden.”