Nach über einem Jahr Corona-Pandemie könnte man davon ausgehen, die Regierung in Deutschland hätte aus ihren Fehlern gelernt. Doch die Inzidenzzahlen zeigen das Gegenteil. In einer akuten Pandemielage tritt Deutschland aufgrund der Entscheidungen seiner Politiker*innen auf der Stelle – mehr noch, macht sogar Rückschritte. Wie ist das zu rechtfertigen?
Es herrscht eine Situation, wie sie die Bundesrepublik noch nie erlebt hat. Covid-19 hat unser Leben ungefragt und wider unseren Willen auf den Kopf gestellt. Das Virus zwingt uns zu massiven Verhaltensänderungen: Geduld und Verständnis. Anpassung an eine desolate Gesamtlage. Aufbau neuer Gewohnheiten, die auch nach einem Jahr nicht zur Routine geworden sind, weil stets die Hoffnung darauf blieb, das Pandemiegeschehen sei nur vorübergehend und man könne schon bald zum gewohnten Alltag zurückkehren.
Nach der ersten, der zweiten Welle gehe es endlich bergauf, dann hätten wir es geschafft, verlautbarten deutsche Politiker*innen zukunftsgläubig und nahezu siegessicher, wie mir im März und schließlich Dezember vergangenen Jahres schien. Dann tauchten die Mutationen auf – Überraschung! Zwar bin ich weder Virologin noch Epidemiologin oder gar Politikerin, die Erstere rechtzeitig hätte um Rat fragen können. Jedoch hatte ich lange genug Biologie in der Schule, um zu wissen, dass Viren natürlicherweise mutieren. Ja, Mutationen sind Zufallsveränderungen und doch hätte man mit ihnen rechnen können.
Ein deutsches Systemproblem
Was Menschen in einer Pandemie wie dieser brauchen, ist letztlich Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung, dass diese sie professionell und zuverlässig durch diese harte Zeit führen wird. Den Führungskräften eines demokratischen und sozialen (!) Staates sollte man doch – zumindest in der Theorie – vertrauen können, oder etwa nicht? Wie die meisten verließ ich mich auf die Handlungs- und Sachkompetenz unserer Kanzlerin und Ministerpräsident*innen. Doch auch nach einem Jahr Pandemie ist die Teststrategie ausbaufähig, die nationale Vorgehensweise beim Impfen unausgereift und abstrus. Es gibt noch immer keine Kommunikationsstrategie, vielmehr sind Bund, Länder und Kommunen unzureichend miteinander vernetzt. Aus dem ewigen Ringen der Kanzlerin mit den Länderchefs ist längst ein allgemeiner Unmut hervorgegangen. Die Bürger*innen stellen sich die Frage nach der Verantwortung.
Derzeit kann man in der Bundesrepublik von einem kooperativen Föderalismus sprechen, der Zuständigkeiten verschleiert und Entscheidungsprozesse hemmt. Tatsächlich gäbe es auch einen anderen Weg, der sogar im Grundgesetz selbst verankert ist. Mit einem einfachen Parlamentsbeschluss sowie einem Mehrheitsbeschluss im Bundestag wäre es der Regierung möglich die Pandemiebekämpfung zu zentralisieren. So könnten sämtliche Schritte zur Corona-Eindämmung bundeseinheitlich organisiert werden. Die einzige Ausnahme würden weiterhin Schulen bilden. Aktuell entscheiden die einzelnen Länder für sich, was höchst unproduktiv ist und wertvolle Zeit kostet, die das Virus für sich nutzt.
Ich möchte keinesfalls die Bemühungen und Redlichkeit der deutschen Politiker*innen in Zweifel ziehen. An meinem Grundvertrauen in die Demokratie unseres Landes, das anderen Staaten in vielerlei Hinsicht als Vorbild dient, konnte auch das holprige Pandemiemanagement der Regierung nicht rütteln. Wir haben ein funktionierendes – wenn auch verbesserungswürdiges – Bildungssystem, wir verfügen über ein intaktes Krankenversicherungssystem und können uns allein deshalb glücklich schätzen, dass wir in einer sicheren, liberalen Demokratie leben. Für diese und viele andere Privilegien müssen wir dankbar sein. Zugleich kann all das nicht über ein Systemproblem in Deutschland hinwegtäuschen, das in der Zuständigkeits-Diffusion zwischen den Ländern, dem Bund und Europa liegt.
Liebe Politiker*innen, aus Fehlern kann man lernen
In den vergangenen 15 Monaten haben wir Fehler gemacht – viele Fehler –, was uns jedoch nicht den Kopf kosten würde, wenn wir daraus lernten. Ein berühmter deutscher Physiker hat einmal etwas gesagt, das sich wunderbar auf die zweifelhaften Lernfortschritte der deutschen Corona-Politik beziehen lässt. Einstein sagte: „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten“. Lernen impliziert Verhaltensänderungen – intentionale oder beiläufige. Bei unseren Politiker*innen erkenne ich weder das eine noch das andere, sondern nur, dass die gleichen Fehler wiederholt werden und wir nun wieder Rückschritte machen. Die Inzidenzen steigen dramatisch schnell an, gleichzeitig wird geöffnet – das passt für mich nicht zusammen.
Statt einen neuen Weg mit veränderten Strategien einzuschlagen, verweilt die Regierung in alten Fußstapfen, nur um hinterher sagen zu können: „Wir sind auf Nummer sicher gegangen“. Dass sie dabei enorm viel versäumt, scheint sie jedoch zu verdrängen. Die Debatte ist reduziert worden auf Öffnen vs. Lockdown. Schon im Mai 2020 rangen Bund und Länder um den Grenzwert für die Sieben-Tage-Inzidenz, unterhalb dessen Lockerungen möglich sein sollten. Verhandelt wurde über dieselben Werte wie im Februar dieses Jahres: 50 oder 35. Wenn ein Problem zum wiederholten Mal auftritt, kann, darf und soll man aus den Fehlern vom ersten Mal lernen, liebe Politiker*innen, alles Übrige ist doch wahnsinnig! Dazu zählt auch, bei ansteigenden Inzidenzwerten (am ersten März über 70 in Hamburg!) unvermittelt Friseursalons, Buchläden, Museen und Schulen zu öffnen, und inzwischen bei bundesweiten Inzidenzen von über 100 (!) über partielle Öffnungen der Außen-Gastronomie nachzudenken. Statt 50 und 35 sind es nun die Zahlen 50 und 100, um die herum heiß diskutiert wird. Fatalerweise erkenne ich kein angebrachtes Verhalten, sondern eine Unfähigkeit, Willkür und Schwäche, die wir uns aktuell nicht leisten können.
Tempo bitte!
Wollen deutsche Politiker*innen nicht aus ihren Fehlern lernen? Ich fürchte fast, sie können es nicht (mehr), weil sie müde sind. Inzwischen ist die akribische Planung einer politischen Laune gewichen, für die ich persönlich kaum noch Verständnis habe. Es wird zu viel über akademische Fragen und Details gestritten: Werden wir lernen müssen mit dem Virus zu leben oder sollten wir es niederringen? Was tun gegen das gebremste Wirtschaftswachstum und blockierte Wertschöpfungsketten? Wie sieht es generell mit Kollateralschäden im Bildungs- und Kultursektor aus? Wie genau sollen die Altersgruppen bei der Impfpriorisierung gestaffelt werden? Soll es Schnelltests in Supermärkten geben? Wer darf sich wann wo mit vielen Personen aufhalten?
Die Politik tritt auf der Stelle. Immer wieder wird über dieselben Angelegenheiten und vor allem Lockerungen der bestehenden Maßnahmen gestritten, während andere Punkte, wie z.B. die Situation von Studierenden, Auszubildenden und Berufseinsteiger*innen, nahezu gar nicht behandelt werden.
Durch Fragen wie diese lähmt sich Deutschland letztlich selbst. Die Pandemie ist ein Marathon-Lauf, wir jedoch verharren in Lockdown-Sprints. Physisch und psychisch ist das ermüdend. Es herrscht eine kollektive Pandemie-Müdigkeit in Politik und Gesellschaft; die Menschen wollen und können nicht mehr. Aber das Virus verschwindet nicht einfach. Statt also über Teststrategien und die Priorisierung beim Impfen zu diskutieren, ist daher – meiner Ansicht nach – aktuell nur eine Frage wichtig: Wie können wir die Geschwindigkeit beim Impfen (drastisch) erhöhen? Wenn wir nicht schnellstens das Impftempo steigern und eine klare Richtung nach vorne einschlagen, wird das unsere Gesellschaft weiter spalten.
Wer zum/zur Wutbürger*in mutiert, schadet letzten Endes vor allem sich selbst. Es geht auch weniger darum, zu zeigen, welche Politiker*innen welche Fehler begangen haben. Fehler kann man nicht immer rechtfertigen und erst recht nicht rückgängig machen. Jedoch kann man jederzeit auf sie zurückschauen und es fortan anders machen. Lernen können wir glücklicherweise auch, wenn wir müde sind, und je mehr wir aus der gegenwärtigen Mattheit herauskommen, desto schneller kommen wir hoffentlich vorwärts.