Bidens erste 100 Tage

In Joe Bidens Amtszeit wird es um die Fundamente der US-amerikanischen Demokratie gehen (Foto: Mike Doherty, unsplash)

Nach vier Jahren Chaos, Korruption und Lügen beginnt ein neues Kapitel in der US-amerikanischen Geschichte. Klar ist aber auch: Mit Joe Bidens Amtsantritt sind noch lange nicht alle Probleme des Landes gelöst, seine Administration muss bereits in den ersten Wochen eine ambitionierte Agenda verfolgen.

Der Blick auf die ersten 100 Tage einer neuen Regierung ist mittlerweile ein geflügeltes Wort und gute Tradition in der US-amerikanischen Politik. In Wahlkämpfen versprechen Kandidat*innen wichtige politische Maßnahmen, neue Administrationen stellen 100 Tage-Pläne vor und Historiker*innen blicken auf die ersten 100 Tage ehemaliger Präsidenten zurück, richten so über Erfolg oder Scheitern. Auch praktisch sind die ersten Monate für neue US-Regierungen von großer Bedeutung. Zwischen Amtsantritt und den nächsten Kongresswahlen bleibt nicht viel Zeit für Regierungsarbeit und auch Joe Biden und seine Vizepräsidentin Kamala Harris sind gut beraten, ihr politisches Kapital nach der gewonnenen Wahl bedacht, aber schnell einzusetzen.

Die ersten 100 Tage der Biden-Präsidentschaft finden unter ungewöhnlichen Umständen statt. Voraussetzungen, die dem ehemaligen Vizepräsidenten von Barack Obama jedoch vertraut sein dürften. Auch Obama hatte die Präsidentschaft nach der im Spätsommer 2008 ausgebrochenen Finanzkrise in einem krisengeschüttelten Land angetreten, Biden war als rechte Hand an der Verhandlung und Implementation des American Recovery and Reinvestment Act, des damaligen Konjunkturprogramms, beteiligt gewesen. Nun steht er selbst an der Spitze.

Und damit erst einmal vor den Trümmern seines Vorgängers Trump. Im Senat steht die Verhandlung über das zweite Amtsenthebungsverfahren gegen den Ex-Präsidenten an. Für die neue Administration ist das eine eher unwillkommene Ablenkung. Biden – so wurde nicht zuletzt in seiner ersten Rede als Präsident am 20. Januar deutlich – sieht die Vereinigung des Landes als die zentrale Mission seiner Amtszeit an. Doch dafür möchte er nach vorne blicken, mit Inhalten überzeugen, eine Verhandlung über die Präsidentschaft seines Vorgängers kommt da – bei aller Notwendigkeit – eher ungelegen.

Die executive orders, die Biden in den ersten Tagen nach seinem Amtsantritt unterzeichnet hat, sprechen eine ähnliche Sprache. Mit seiner Unterschrift machte Biden zahlreiche unilaterale Maßnahmen seines Vorgängers rückgängig. Die Rückkehr in das Pariser Klimaabkommen und der Stopp der umstrittenen Ölpipeline Keystone XL senden deutliche klimapolitische Signale. Im Bereich Einwanderungspolitik strich er den sogenannten muslim ban, stoppte den Bau der Grenzmauer an der amerikanisch-mexikanischen Grenze und widerrief einige von Trumps drastischsten Maßnahmen zur Abschiebung von Migrant*innen.

Covid, Covid, Covid

Die unmittelbar drängendste Herausforderung der ersten 100 Tage von Biden und Harris bleibt aber auch weiterhin die Covid 19-Pandemie und die damit verbundene soziökonomische Krise. In den ersten Stunden seiner Präsidentschaft erließ Biden eine Maskenpflicht auf öffentlichen Grundstücken und stoppte den Austritt der USA aus der Weltgesundheitsorganisation. Mittelpunkt der Anstrengungen unter den Stichworten covid relief und economic stimulus soll sein American Rescue Plan werden. 1,9 Billionen US-Dollar möchte Biden investieren, mehr als doppelt so viel wie das Konjunkturpaket von Obama vor zwölf Jahren vorsah. Herzstücke des Plans sind Direktzahlungen von 1 400 US-Dollar an US-Bürger*innen, wöchentliche Zuzahlungen zur Arbeitslosenversicherung von 400 US-Dollar sowie Investitionen in Tests, Impfungen und die langsame Wiedereröffnung des öffentlichen Lebens.

Angesichts dieses Tableaus an Herausforderungen und Vorhaben dürften die Entwicklungen der nächsten Monate bereits darüber entscheiden, ob Biden auch mittelfristig ein erfolgreicher Präsident sein kann. Gelingt es ihm und seinem Team, zentrale Versprechen wahrzumachen, etwa mindestens 100 Millionen Bürger*innen in den ersten 100 Tagen zu impfen, und damit Handlungsfähigkeit zu beweisen, kann er sich als Gewinner darstellen. Scheitert Biden jedoch an der Blockade der Republikanischen Partei, muss er seine hoffnungsvolle message von Überparteilichkeit und neuen Chancen nach einer unter Kontrolle gebrachten Pandemie wohl begraben.

Doch auch wenn das schon nach zu viel des Guten für nur 100 Tage und langsam mahlende administrative Zahnräder klingt, ist die größte Herausforderung der US-amerikanischen Politik damit noch nicht einmal genannt: Neben existenziellen Fragen, wie der Bekämpfung des Coronavirus, systemischem Rassismus oder der Klimakrise, muss sich Biden nämlich auch noch dem Herzen des amerikanischen politischen Systems, dem fragilen Status der amerikanischen Demokratie annehmen. Seine Präsidentschaft muss neben der Lösung zahlreicher drängender Probleme auch für grundlegende institutionelle Reformen in die Geschichte eingehen.

Der filibuster als Demokratie-Hürde

Das momentan größte Sorgenkind ist der Senat, eine der Kammern des legislativen Kongresses. Ebenfalls seit dem 20. Januar sind die Sitze dort 50 zu 50 zwischen Demokraten und Republikanern verteilt. Da bei einem Stimmengleichstand die amtierende Vizepräsidentin die entscheidende Stimme abgeben kann, liegt die Demokratische Partei hier nun also ebenfalls hauchdünn vorne. Doch auch wenn diese Mehrheit den Demokraten erlaubt, die Debatten- und Abstimmungsagenda des Hauses zu kontrollieren, ermöglicht eine jahrzehntealte Regel den nun in die Minderheit gedrängten Republikanern die effektive Blockade der neuen Administration: Mit dem sogenannten filibuster kann ein einziger Senator den Abstimmungsprozess lahmlegen, einfach indem er sein Rederecht im Laufe einer Debatte nicht mehr abtritt. Dieser Mechanismus wurde Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem eingesetzt, um Civil Rights-Gesetze zu blockieren, 1957 etwa brachte es der Senator Strom Thurmond aus South Carolina mit über 24 Stunden ununterbrochener Redezeit auf die bislang längste filibuster-Rede. Heute wird der Regeltrick inflationär genutzt, auch weil kaum noch tatsächliche filibuster stattfinden, sondern meist schon die Ankündigung einer Rede zur Absage der Abstimmung führt. Die einzige Möglichkeit einen filibuster zu überstimmen, so sehen es die Regeln des Senats vor, ist mit einem Votum von mindestens 60 Senator*innen. Dass die Demokraten regelmäßig mindestens zehn Politiker*innen der Republikaner zu dieser Maßnahme überzeugen können, ist nahezu ausgeschlossen.

Schon für die anstehenden Verhandlungen zu Bidens American Relief Plan, der erfolgreich durch den Senat gebracht werden muss, ist das ein Problem. Durch einen sogenannten budget reconciliation-Prozess, bei dem es lediglich einer einfachen Mehrheit bedarf, kann dies noch adressiert werden. Doch dieser Mechanismus ist nur für Haushaltsausgaben und steuerpolitische Maßnahmen vorgesehen, soll es um umfassendere Regulierungen, etwa in den Bereichen Klima, Migration, Mindestlohn oder auch Polizeigewalt und Waffenkontrolle gehen, bleibt die de facto Schwelle von 60 Stimmen bestehen – kurz: Möchte Biden seine ambitionierte Agenda angehen und sind die Republikaner auf der anderen Seite – wie in der Zeit Obamas im Weißen Haus – auf Fundamentalopposition aus, steht die filibuster-Regel konstant im Wege.

Für eine Abschaffung des filibusters reicht theoretisch eine einfache Mehrheit, die 50 Senator*innen der Demokraten könnten zusammen mit der Stimme von Vizepräsidentin Harris dem Spuk ein Ende bereiten. Auch deshalb haben sich jüngst immer mehr Demokraten, darunter auch Ex-Präsident Obama, für diesen Schritt ausgesprochen. Präsident Biden hielt sich während des Wahlkampfs noch bedeckt. Dies sei Angelegenheit des Senats, als Präsident wolle er der Legislative nicht ihre Verfahrensregeln vorschreiben. Gleichzeitig betont er in den ersten Tagen seiner Präsidentschaft wiederholt, dass er durchaus gewillt ist, Gesetzesinitiativen auch ohne Stimmen der Republikaner zu verfolgen. Ein Eintreten des Weißen Hauses für eine Abschaffung des filibusters könnte auch die letzten zögernden Stimmen in der Demokratischen Partei, vor allem die demokratischen Senator*innen, die sich bislang noch gegen eine Reform sperren, überzeugen und den Weg für eine endgültige Abschaffung des filibusters freimachen.

Biden hat es in der Hand

Die USA stehen – das ist nicht erst seit der Präsidentschaft von Donald Trump klar – vor fundamentalen Richtungsentscheidungen. Die Republikanische Partei, getrieben von einer radikalisierten Basis und einem rechten Medienökosystem, kann sich aufgrund institutioneller Rahmenbedingungen wie der filibuster-Regel, auch als Minderheitenkraft konkurrenzfähig halten. Anreize für eine Kooperation mit den Demokraten bestehen kaum noch. Die Demokraten auf der anderen Seite müssen sich entscheiden: Durch institutionelle Reformen ließe sich die Blockade der Republikanischen Partei brechen, vor allem aber würden sie in einer Phase autoritärer Tendenzen einen wichtigen demokratisierenden Kontrapunkt setzen.

Joe Biden ist ein Produkt des Senats, 36 Jahre lang war er Senator für seinen Heimatstaat Delaware. Genau die Institutionen und Prozeduren, die nun seine legislative Agenda behindern könnten, hat er über Jahrzehnte mit Herzen vertreten und verteidigt. Gleichzeitig hat er ein Gespür für sich verändernde Herausforderungen und Mehrheiten. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Demokraten Andrew Yang brachte es auf den Punkt: „The magic of Joe Biden is, that everything he does becomes the new reasonable.“

Dem neuen Präsidenten präsentieren sich zahlreiche existenzielle Herausforderungen: Eine globale Pandemie, die ökonomische Rezession, systemischer Rassismus und der Klimawandel. Entsprechend ambitioniert gestaltet sich die Agenda, mit der Biden seine ersten 100 Tage gestalten möchte. Sollte ihre Durchsetzung annähernd gelingen, kann sie Biden zum progressivsten Präsidenten seit Franklin D. Roosevelt machen – dieses Ziel hatte er sich vor der Wahl selbst gesetzt. Historische Bedeutung kann Biden nach seinen beiden denkwürdigen Vorgängern aber vor allem dann erlangen, wenn sein Ruf nach Einheit, Respekt und Anstand auch durch strukturelle Reformen begleitet wird. Dies könnte der neuen diversen Mehrheit im Land – der anti-demokratischen Kräfte in der Republikanischen Partei trotzend – zum Durchbruch verhelfen. Auch in diesem Sinne dürften die ersten 100 Tage richtungsweisend werden.