Lost and found?

Unsicherheit und Zukunftsangst charakterisieren die junge Generation (Foto: StockSnap / Pixabay)

„Lost“ ist das Jugendwort des Jahres 2020. Übersetzt bedeutet der englische Ausdruck so viel wie „verloren“, „ahnungslos“ oder „unsicher“. Lange Zeit eher scherzhaft verwendet, hat er nun eine gänzlich neue Bedeutung erhalten. Inzwischen scheint der Begriff einer „lost generation“ als Ausdruck ihrer aktuellen Gefühlslage zu dienen. Beklommen und pessimistisch blicken die jungen Menschen von heute in die Zukunft.

Mit knapp der Hälfte der abgegebenen Stimmen ging schließlich „lost“ als Sieger der diesjährigen Wahl hervor. Waren in vorherigen Jahren oftmals zwangsoriginelle Neuschöpfungen, wie zum Beispiel „Gammelfleischparty“ (2008) oder „Smombie“ (2015) das Ergebnis, ist diesmal zu beobachten, dass das neue Jugendwort auch tatsächlich unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Umlauf ist. Dabei gibt es offenbar keine geeignete Übersetzung für die deutsche Sprache, die seine Bedeutung genau widerspiegeln könnte. Vielmehr scheint das englische „lost“ eine Lücke im Geflecht der deutschen Sprache zu füllen und einer „lost generation“ als Ausdruck ihrer Bedrängnis, Verunsicherung und Überforderung im Hinblick auf gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen zu dienen.

Der Rückgriff auf das Englische dient dabei – wie Sprach- und Erziehungswissenschaftler nicht müde werden zu betonen – sicherlich nicht nur der sprachlichen Abgrenzung von älteren Generationen. Die englische Sprache hat sich zu einer internationalen Modesprache mit großer Macht entwickelt. Bezeichnend für das Wörtchen „lost“ ist daher, gerade in diesen Tagen, seine Bedeutungskraft für heranwachsende Menschen weltweit.

Das Siegertreppchen zierten 2017 noch „I bims“, eine Formulierung aus der sogenannten Vong-Sprache und gleichbedeutend mit „Ich bin’s“, sowie im Folgejahr „Ehrenmann/Ehrenfrau“. Das ist eine Wortschöpfung für eine Person, die etwas Besonderes für jemand anderen macht. Im vergangenen Jahr fiel die Wahl aus. Seit 2008 war das Jugendwort des Jahres zunächst vom Langenscheidt-Verlag gekürt worden. Im Frühjahr 2019 wurde die Marke dann jedoch von dem zur Klett-Gruppe gehörenden Pons-Verlag übernommen.

Neu: Online-Voting

Mit der Wiederaufnahme des Votums in diesem Jahr wurde auch das Auswahlverfahren modifiziert. Vorab konnten Bürger*innen aus ganz Deutschland dem Verlagskomitee online Vorschläge unterbreiten. Letzteres ermittelte dann anhand bestimmter Kriterien wie „Originalität“, „Verbreitungsgrad des Wortes“ und „gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse“ eine Top-Ten-Liste von Begriffen. Neu ist jetzt, dass die jugendlichen Wähler*innen im Rahmen eines Online-Votings selbst über den diesjährigen Gewinner entscheiden konnten. In den Jahren zuvor hatte die Langenscheidt-Jury das letzte Wort.

Angaben des Verlags zufolge wurden seit Beginn der Abstimmung Anfang Juni insgesamt mehr als eine Million Stimmen eingereicht. In der finalen Abstimmungsrunde votierten 24 Prozent für das englische Lehnwort „wild/wyld“, das besonders intensive und verrückte, mithin „wilde“ Handlungen und Situationen beschreibt. Die Bezeichnung „cringe“ schaffte es mit 28 Prozent der Stimmen auf Platz zwei. Übersetzt bedeutet „cringe“ so viel wie „zusammenzucken“ oder „erschaudern“, umgangssprachlich wird das Wort jedoch als Ausdruck für „fremdschämen“ verwendet.

Gleichwohl bleibt die Wahl angesichts ihrer Gültigkeit umstritten. Während das Wort des Jahres von der unabhängigen Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) in Wiesbaden bestimmt wird, wird das Jugendwort des Jahres als Werbeaktion für das Langenscheidt-Jugendsprachen-Lexikon kritisiert. Hinzu kommen die bereits angedeuteten Zweifel am repräsentativen Wert der Ergebnisse für die Jugend. Wolfgang Gaiser, ehemals in der Jugendforschung am Deutschen Jugendinstitut in München tätig, äußerte 2013 in einem Interview mit „Der Sonntag“: „Wenn Spaßformulierungen herausgehoben werden, als ob sie das Sprach- und Denkniveau der Jugend heute wären, verzerrt dies das Bild über die Jugend von heute.“.

Neue Normalität

Die Menschheit ist „lost“ inmitten einer Pandemie. Nachdem China im Dezember 2019 erste Fälle einer neuartigen Lungenentzündung an die Weltgesundheitsorganisation gemeldet hatte, verbreitete sich das Coronavirus innerhalb kürzester Zeit auf dem gesamten Erdball. Am 28. Januar dieses Jahres wurde schließlich der erste Krankheitsfall in Deutschland bestätigt. Seither ist wahrhaft viel geschehen: Die an- und absteigenden Fallzahlen gingen einher mit teils drakonischen, obgleich folgerichtigen Maßnahmen und provozierten in der Gesellschaft einen ständigen Wechsel zwischen Angst und Zuversicht, Jähzorn und Sanftmut, Frustration und Akzeptanz. Gewiss nicht ohne Grund lautet das Wort des Jahres 2020 „Corona-Pandemie“, dicht gefolgt von „Lockdown“ und „Verschwörungserzählung“.

Doch sieht sich jede*r Einzelne nicht nur den Mitmenschen gegenüber in der Verantwortung, sondern insbesondere auch gegenüber sich selbst. Die Corona-Verordnungen machen eine gewisse Selbstfürsorge unbedingt erforderlich. Gleichzeitig bedarf es einer adäquaten Unterstützung seitens der Politik, weshalb regelmäßig neue Regelungen für beispielsweise Schulen, Krankenhausbetriebe sowie die Gastronomie getroffen werden, um äußere Zwänge bestmöglich zu kompensieren.

Learn to surf

Eine Personengruppe, die dabei in Vergessenheit geraten ist, ist die Studierendenschaft. Zwar hat die überwiegend digitale Lehre im zurückliegenden Sommersemester insgesamt gut funktioniert. Es gab vermehrt Unterstützungsangebote bei der Studienorganisation, Lehrende und Studierende haben ihre überfachlichen Fähigkeiten, vor allem im technischen Bereich, erweitern können und die Hochschulen haben einen digitalen Schub erfahren. So zeigen die Ergebnisse einer Online-Umfrage vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, dass die Zahl der rein digitalen Lehrveranstaltungen von 12 Prozent vor der Corona-Krise auf 91 Prozent im Sommersemester 2020 gestiegen ist. Bezogen auf die unvorhergesehene Umstellung ist das zunächst ein positives Ergebnis. Faktisch fußt dieser Kompetenzerwerb allerdings mehr auf kurzfristiger Improvisation als auf langfristiger Innovation.

Etliche Studierende haben seit Beginn der Pandemie ihre Nebentätigkeiten verloren und stehen nun gemeinsam mit den unerfahrenen Studienanfänger*innen vor der großen Schwierigkeit, eine Aushilfsstelle zu finden. Für die Erstsemester*innen kommen in der Regel gigantische Literaturberge, der Alltag in einer noch fremden Studienstadt und damit einhergehend die Herausforderung, neue Freundschaften zu schließen hinzu.

Ahnungslos in der Gegenwart gefangen und perspektivlos hinsichtlich ihrer Zukunft haben zurzeit viele junge Menschen das Gefühl, sinnbildlich unterzugehen und die Wellen, die auf sie zukommen, nicht aufhalten, geschweige denn bezwingen zu können. Niemand kann und darf die prekäre Gesamtsituation einer „lost generation“ beschönigen. Dennoch kann es mitunter helfen, sich die folgende Aussage von Jon Kabat-Zinn immer einmal in Erinnerung zu rufen, um der Flut von Erschwernissen mit Gelassenheit gegenüberzustehen und wieder mehr zu sich selbst zu finden: „You can’t stop the waves, but you can learn to surf.“