Fehl am Platz? Studieren als Arbeiterkind

Für Studierende aus Nicht-Akademiker-Familien ist es oft nicht leicht, sich an der Hochschule zurechtzufinden. (Foto: Andrea Piacquadio/Pexels)

Das deutsche Bildungssystem ist noch immer undurchlässig. Chancen und Erfolg hängen maßgeblich von der sozialen Herkunft ab. Das gilt auch für das Studium. Die Corona-Krise könnte es für Nicht-Akademiker-Kinder jetzt noch schwerer machen.

Von 100 Kindern aus Akademiker-Familien beginnen 79 ein Studium. Bei den Nicht-Akademiker-Kindern sind es gerade einmal 27. Das ergab eine Untersuchung des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) im Jahr 2018. In den vergangenen Jahren hat sich nur wenig verändert, heißt es in der dazugehörigen Pressemitteilung. „Wenn man das auf die Grundgesamtheit überträgt, würden die Zahlen noch viel dramatischer aussehen. Es gibt ja viel, viel mehr Familien nicht-akademischer Herkunft in Deutschland“, sagt Tina Maschmann, Bundeslandkoordinatorin bei Arbeiterkind.de in Hamburg. Die Organisation versteht sich als Unterstützungsnetzwerk für Studierende der ersten Generation. Ehrenamtliche engagieren sich dort als Mentor*innen, beantworten Fragen und halten Vorträge. Sie haben oft selbst erlebt, wie es ist als Erste*r in der Familie zu studieren und möchten ihr Erfahrungswissen teilen.

Quelle: Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung Brief 03/2018, Untersuchung zur Hochschulbeteiligung in Deutschland

Eine von ihnen ist Nele Burckhardt. Sie wurde auf einer Messe auf die Organisation aufmerksam: „Ich war mir selbst nie so wirklich bewusst, dass ich Arbeiterkind bin, aber ich habe mich sofort angesprochen gefühlt“, sagt sie. Damals war sie bereits im Masterstudium. „Mir war eigentlich früh klar, dass ich studieren möchte und ich wusste auch, dass es irgendetwas mit Biochemie sein wird. Davon habe ich mich nicht abbringen lassen. Ich habe aber ehrlich gesagt gar nicht darüber nachgedacht, dass ich wenige kenne, die studiert haben.“ Inzwischen hat sie ihr Studium der Molecular Life Sciences abgeschlossen und plant ihre Promotion. Damit gehört sie zu einer Minderheit. Laut dem Hochschulbildungsreport promoviert von 100 Kindern aus Familien ohne akademischen Hintergrund nur eine einzige Person. 15 erreichen den Bachelor, 8 den Masterabschluss. Bei Kindern aus Akademiker-Familien sind es dagegen 63, die einen Bachelor erlangen, 45 schaffen einen Master und 10 promovieren.

Studienfinanzierung bleibt die größte Baustelle

Corona könnte das ungleiche Verhältnis verstärken, fürchtet Maschmann. Weil Informationsveranstaltungen und Beratungen wegfallen, aber auch weil Studierende aus Nicht-Akademiker-Familien oft besonders unter den Pandemie-bedingten Einschränkungen leidet. „Wenn zu Hause nicht genug Platz zum Lernen und Arbeiten ist, wird häufig die Unibibliothek genutzt. Das fiel lange weg“, erklärt die Koordinatorin. Aber auch die Ausstattung für das digitale Lernen könne zum Problem werden.

Eines der größten Hindernisse bleibt jedoch die Studienfinanzierung. „Armut und Bildungsherkunft hängen nicht immer zusammen – aber die Frage der Finanzierung ist bei Leuten, die als Erste aus ihrer Familie studieren immer noch die häufigste“, sagt Maschmann. Das spürt auch Birte Aye, Leiterin des Beratungszentrums Studienfinanzierung beim Studierendenwerk Hamburg. „Bei uns melden sich zahlreiche Ratsuchende mit finanziellen Problemen. Darunter sind natürlich auch Kinder von Nicht-Akademiker*innen“, sagt sie.

Die Förderung über BAföG ist das wichtigste Instrument – viele nutzen es dennoch nicht, weiß Maschmann. „Ich kenne Geschichten, wo die Eltern sagen: Was ist denn BAföG? Ich will das gar nicht ausfüllen, dann muss ich ja mein Einkommen offenlegen.“ Außerdem sei die Scheu vor den Schulden häufig groß. Das erlebt auch Beraterin Aye. „Da versuchen wir, die Angst zu nehmen. Da es Freibeträge für die Rückzahlung gibt, muss man das BAföG erst dann zurückzahlen, wenn man es auch kann.“

Häufig ist einem nicht bewusst, warum einem Studieren vielleicht schwerer fällt als anderen oder warum man Fragen hat, die andere nicht stellen. Und der Grund ist einfach, dass man nicht aus einer akademischen Familie kommt.

Nele Burckhardt, ehrenamtliche Mentorin bei Arbeiterkind.de in Hamburg

Oftmals greift die BAföG-Förderung allerdings erst spät. „Die große Hürde sind die Studienvorkosten, also alles, was für die ersten Studiengebühren oder den Semesterbeitrag anfällt, für den Umzug, die erste Ausstattung“, erklärt Maschmann. „Dafür gibt es keine Finanzierung, man muss erst eingeschrieben sein und das Studium erst mal antreten in einer anderen Stadt. Aber um dahin zu kommen, ist halt Geld notwendig.“ Birte Aye kennt das Problem: „Der BAföG-Antrag soll erst mit der Zulassung an der Hochschule eingereicht werden“, sagt sie. Dadurch gehen aber viele Anträge gleichzeitig ein, sodass das BAföG häufig nicht gleich zum Studienstart da ist. „Für die Ausgaben vor Studienbeginn gibt es einfach nicht für jede*n Töpfe. Wenn die Eltern Hartz-IV-Leistungen beziehen, kann das überbrückt werden“, so die Beraterin. „Auch wenn jemand den Semesterbeitrag nicht zahlen kann, gibt es zum Teil Hilfsmöglichkeiten, auf die wir verweisen. Aber zum Beispiel für Umzugskosten gibt es keine finanziellen Mittel.“

Die Pandemie verschärft die Situation

Durch die Corona-Krise hat sich die finanzielle Notlage vieler Studierender zugespitzt. Für Arbeiterkinder sei besonders typisch, dass sie in fachfremden Nebenjobs, etwa in der Gastronomie arbeiteten, anstatt beispielsweise als Hilfskraft an einem Lehrstuhl, berichtet Maschmann. Damit sind sie stark vom Lockdown betroffen. Eine Community-Umfrage von Arbeiterkind.de ergab unter anderem, dass viele ihre WG-Zimmer untervermietet haben und wieder zu ihren Eltern gezogen sind – wo sie zum Teil keinen Arbeitsplatz oder Zugang zur Literatur haben. „Auch die Hemmungen, das Notfalldarlehen anzunehmen sind höher, weil das Risikoempfinden für alles, was Geldinvestitionen angeht, größer ist. Deswegen ist es so wichtig, dass es eine Überbrückungshilfe gibt, die nicht zurückgezahlt werden muss“, sagt die Bundeslandkoordinatorin.

Allein zwischen Juli und September sind in Hamburg rund 9500 Anträge auf Überbrückungshilfe eingegangen. Die Anerkennungsquote lag laut Studierendenwerk bei knapp über 74 Prozent. Das Studierendenwerk habe dabei darauf gedrängt, dass auch Erstsemester Anspruch auf die Hilfe haben, die wegen der Pandemie gar nicht erst einen Nebenjob fanden, sagt Beraterin Aye. Allgemein sei die Not unter Studierenden in der Pandemie groß, ergänzt sie. Arbeiterkind.de betonte auf einer Online-Konferenz Ende November, Corona hätte zu Tage bracht, wie arm viele Studierende seien.

Quelle: Hochschulbildungsreport 2020 des Stifterverbandes in Kooperation mit McKinsey, Jahresbericht 2017/2018

Zum Studieren als Nicht-Akademiker-Kind gehören jedoch noch ganz andere Hürden. „Häufig geht es zunächst um Finanzierung, aber darunterliegend ist ein ganz anderes Anliegen, nämlich: Ich finde mich nicht zurecht“, erklärt Bundeslandkoordinatorin Maschmann. Informationsdefizite, fehlende Vorbilder, Ängste oder Vorurteile in der Familie sind nur einige der Unsicherheiten. Die Arbeit der Organisation bestehe deshalb oft im Ermutigen. Seit 2019 betreibt sie in Hamburg ein Regionalbüro, gefördert von der Behörde für Wissenschaft, Forschung, Gleichstellung und Bezirke. Eine Ortsgruppe gibt es aber bereits seit über 10 Jahren. „Die Leute haben häufig noch gar nicht reflektiert, dass sie als erste in ihrer Familie studieren und beziehen die Orientierungslosigkeit auf sich und denken, sie seien nicht gut genug“, beschreibt Maschmann. Das sieht auch Arbeiterkind.de-Mentorin Nele Burckhardt so: „Häufig ist einem nicht bewusst, warum einem Studieren vielleicht schwerer fällt als anderen oder warum man Fragen hat, die andere nicht stellen. Und der Grund ist einfach, dass man nicht aus einer akademischen Familie kommt.“ Sie erinnert sich an die Auswahlseminare der Studienstiftung des Deutschen Volkes, von der sie ein Stipendium erhielt. „Da waren dann Leute, die sich ganz anders ausdrücken, Wörter benutzen, die man vielleicht nicht kennt. Das endete dann damit, dass ich am Abend vor meinem Auswahlgespräch im Internet nachgeschlagen habe, was zum Beispiel Interdisziplinarität heißt“, erzählt sie.

Mehr Sichtbarkeit gewünscht

Zu den akademischen Grundfertigkeiten, etwa zum wissenschaftlichen Schreiben, gibt es Beratung an den Hochschulen selbst. „Wir bieten Unterstützungsangebote, weil wir wissen: Da gibt es Dinge, die fallen allen schwer“, sagt Ronald Hoffmann von der Studierendenberatung an der Universität Hamburg. Abgefragt werde der soziale Hintergrund der Ratsuchenden nicht, „wir müssen aber davon ausgehen, dass Studierende, die als erste in ihrer Familie studieren, weniger Unterstützung und Rückgriffsmöglichkeiten haben.“ Er spricht außerdem unbewusste Hindernisse an. „Wenn Studierende zum Beispiel ihre Abschlussarbeit immer weiter aufschieben, kann es durchaus sein, dass dahinter die Frage steckt: Was bedeutet der Abschluss für die Beziehung zu meinen Eltern? Wenn ich als Akademiker*in in den Beruf starte, dann bin ich vielleicht ‚einer von denen‘, ich könnte mich entfernen.“ Er unterscheidet jedoch noch einmal zwei Untergruppen: „Die erste Gruppe hat regulär Abitur gemacht, oft auch als Erste in der Familie. Die kennen die gemischte Zusammensetzung von Klassenverbänden mit Kindern aus Akademikerfamilien und Kindern aus Nicht-Akademiker-Familien schon aus der Schule. Daneben gibt es die beruflich Qualifizierten ohne Abitur. Die kommen an der Universität oft erstmals in Kontakt mit einem Akademikerumfeld. Das ist eine große Herausforderung, weil sich plötzlich die Freundeskreise mischen.“

Diese Herausforderung kennt auch Nele Burckhardt, trotz Abitur. „Ich habe in meinem Freundeskreis festgestellt, dass viele gar nicht verstanden haben, was es bedeutet, wenn die Eltern in Schichten arbeiten und warum jemand zum Beispiel nachts arbeiten muss.“ Sie findet es außerdem schade, dass der Begriff „Arbeiterkind“ negativ behaftet sei. Deshalb habe sie ihn in den vergangenen Jahren immer wieder aktiv betont. So will sie unter anderem den neuen Kandidat*innen der Studienstiftung Mut machen. „Bei der Einführungsveranstaltung habe ich mich hingestellt und gesagt: ‚Ich weiß, unter euch sitzen Personen, die fühlen sich genauso fehl am Platz, wie ich mich damals fehl am Platz gefühlt habe, aber man kann es schaffen. Lasst euch nicht davon abhalten, dass andere vielleicht schon in Kreisen aktiv sind, zu denen ihr noch keinen Zugang habt.‘“ Sie würde sich wünschen, dass noch mehr Menschen, zum Beispiel Professor*innen offen darauf hinweisen, wenn sie als Erste ihrer Familie studiert haben. Tina Maschmann stimmt ihr zu, dass das einen empowernden Effekt haben kann.

Wichtig sei aber zudem, den Übergang von der Schule an die Universität zu begleiten. Auch wenn immer mehr Arbeiterkinder Abitur machten, habe sich an Studienquoten wenig geändert. „Da zeigt sich, wie wirksam fehlende Vorbilder und fehlendes Erfahrungswissen ist“, betont Maschmann. Neben der Organisation Arbeiterkind.de selbst setzt auch das Studierendenwerk auf Informationen noch vor Studienbeginn. „Wir versuchen, früh anzusetzen“, sagt Beraterin Aye. „Wir gehen auch gerne in die Schulen, vorwiegend in Stadtteilen, wo wir viele BAföG-Empfänger*innen vermuten.“ Ronald Hoffmann von der Universität Hamburg sagt ebenfalls: „Im Bereich Studienorientierung scheint uns der Austausch mit Stadtteilschulen besonders wichtig, weil der Anteil an Nicht-Akademiker-Kindern dort oft noch höher ist.“ Daran zeigt sich, dass die Bildungswege sich schon viel früher trennen, nämlich nach der Grundschule. Wie Maschmann berichtet, ist die Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen bei gleicher Leistung drei bis viermal höher, wenn die Eltern studiert haben. Dabei gehe es gar nicht darum, dass alle Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien unbedingt studieren sollen. „Wir wollen, dass sich alle Schüler*innen gut informiert und unterstützt für oder gegen ein Studium entscheiden können.“