gefragt: „Kinderliteratur wird nicht ernst genommen”

Kirsten Boie (Foto: Indra Ohlemutz)

In diesem Jahr feiert die berühmte Buchreihe “Wir Kinder aus dem Möwenweg” von Kirsten Boie ihr zwanzigjähriges Jubiläum. Mit KOPFZEILE-Autorin Ekaterina spricht die Schriftstellerin darüber, woher sie die Inspiration für ihre Arbeit nimmt und warum die Kinderliteratur einen “Putzigkeitsstatus” besitzt.

Kirsten Boie ist eine der prominentesten Figuren der zeitgenössischen Kinderliteratur. Ihre Buchreihe über den Möwenweg und seine Bewohner oder weitere Bücher über Lena, Juli und das Meerschweinchen King-Kong wurden von Generationen junger Leser auf der ganzen Welt gelesen. Neben dem Schreiben setzt sich die Schriftstellerin auch für die Leseförderung bei Kindern ein. 2019 wurde Kirsten Boie für ihre literarischen Werke und ihr soziales Engagement zur Ehrenbürgerin Hamburgs ernannt.

Frau Boie, immer wieder wird Ihre Buchreihe über den Möwenweg mit den „Kindern aus Büllerbü“ von Astrid Lindgren verglichen. Haben Sie ein paar Ideen übernommen?“

Tatsächlich gibt es im „Möwenweg“ ganz starke Bezüge zu Lindgrens „Bullerbü“-Büchern. Ich habe diese Reihe als Kind geliebt: das Leben in kleinen Häusern im Wald, ein winziges Dorf, in dem Kinder in der Natur miteinander spielen, ohne dass die Erwachsenen sie kontrollieren, ihre Spiele arrangieren oder beaufsichtigen. Eine freie Kindheit eben. Der „Möwenweg“ ist dagegen überhaupt nicht idyllisch. Die Kinder leben in einer modernen Reihenhaus-Siedlung. Es ging mir bei der Geschichte darum, zu zeigen, dass ähnliche Erfahrungen wie in Bullerbü für Kinder heute in anderer Umgebung ebenso möglich sind. Ich glaube die Reihe ist deshalb auch so beliebt. Wenn Kinder die Bücher lesen, erkennen sie ihren eigenen Alltag wieder, aber auf einmal erscheint er großartig und so schön und aufregend wie sonst nur das Leben in Filmen.

Würden Sie Ihre Möwenweg-Serie als einen klassischen Bildungsroman beschreiben? 

Auf die Idee wäre ich nie gekommen! Mir ist es nicht so wichtig, welchem Genre ein Buch zugeordnet werden kann, sondern welche Wirkung es auf Kinder hat. 

Vorbilder spielen in der Literatur eine große Rolle. Meine Generation ist mit den Büchern von Harry Potter aufgewachsen. Gibt es heute in der Kinderliteratur solche Figuren, die eine ganze Generation führen könnten?

Eine Vereinheitlichung eines sehr großen Anteils der Leserschaft, inklusive Erwachsenen, auf nur eine Figur, wie zum Beispiel bei Harry Potter, hat es seitdem meines Wissens nach nicht mehr gegeben.

Die Kinder zu führen finde ich einen hohen Anspruch und auch nicht ganz unproblematisch. In der Kinder- und Jugendliteratur gibt es immer wieder neue, wechselnde Figuren, die für eine gewissen Zeit eine große Zahl von Leser*innen erreichen. Ob sie aber zum „Führen“, als Vorbilder, taugen, ist in meinen Augen sehr unterschiedlich.

Wie sollte der Held oder die Heldin der gegenwärtigen Kinderliteratur aussehen, um für die modernen kleinen Leser*innen interessant zu bleiben? Welche Art Figur ist Ihrer Meinung nach derzeit bei Kindern besonders gefragt?

Oje, wie so ein Charakter aussehen müsste, möchte ich gar nicht entscheiden. Ich bin sowieso sehr vorsichtig, wenn es um quasi-normative Vorgaben geht. Das Schöne an der Kinderliteratur ist ja gerade, dass sie mit 9000 Neuerscheinungen jährlich so vielfältig ist. Und: Ich bin ja nur Autorin, nicht Rezensentin, nicht Literaturwissenschafterin, nicht Buchhändlerin oder Bibliothekarin. Welche Figur am gefragtesten ist, wissen all diese Menschen wahrscheinlich sehr viel besser als ich!

2019 wurden Sie Hamburger Ehrenbürgerin. In Ihrer Dankesrede sagten Sie, dass die Kinderliteratur bisher einen „Putzigkeitsstatus“ innehabe. Was haben Sie damit gemeint?

Dass Kinderliteratur nach wie vor als Literatur nicht wirklich ernst genommen wird. Im besten Fall gilt sie als Erziehungs-, Beschäftigungs- oder Bildungsinstrument, das ist mir zu wenig. Kinderliteratur sollte die Kinder wacher machen für die Welt um sie herum und für sich selbst.