Selbst während der Corona-Pandemie darf in Deutschland kein Kind ohne die Begleitung einer Hebamme geboren werden: Ihre Arbeit ist systemrelevant die Entlohnung wird dem aber nicht gerecht.
Für Rebecca Teetzen gehören Ausnahmesituationen zur Routine. Jede Woche parkt sie ihren roten Kleinwagen im Stadtteil Hamburg-Hamm. Vor der Eingangstür zieht sich die junge Hebamme ihre Gesichtsmaske über Mund und Nase, entledigt sich ihrer Schuhe und schleicht leise durch die fremde Wohnung ins Badezimmer. Dort wäscht sie sich gründlich die Hände.
Erst danach setzt sich Rebecca Teetzen zu Fabienne (36), Ayk (37) und der sechs Wochen alten Ragna auf den Fußboden. Zum Schutz vor dem Coronavirus hält sie einen Sicherheitsabstand von mehreren Metern. Nur die blauen Augen der Hebamme verraten das freudige Lachen hinter dem Mund-Nasen-Schutz.
Gerade erklärt sie den jungen Eltern, wie sie ihren Säugling am besten baden. „Damit sich die Hals- und Nackenfalten von Ragna leichter waschen lassen, könnt ihr euren Daumen und Zeigefinger unter ihr Kinn legen. Dadurch lässt sich der Hals vorsichtig strecken“, erklärt Teetzen. Dabei hält die Hebamme ihre Finger hoch in die Luft, um die Bewegung zu verdeutlichen. Berühren kann sie den Säugling nicht. „Diesen Abstand halte ich nicht immer ein. Im Wochenbett können die Wunden der Mutter nicht ohne Kontakt versorgt werden. Das ist utopisch“, sagt die 27-jährige Hebamme.
In der Begleitung werdender Mütter sind Hebammen echte Alleskönner

Das Aufgabenfeld einer Hebamme ist vielfältig: Während der Schwangerschaft kontrolliert sie unter anderem das Gewicht und den Blutdruck der Mutter, sowie die Lage und die Größe des Kindes. Bei der Geburt wird die Betreuung in der Regel an eine vor Ort arbeitende Hebamme übertragen. Sie unterstützt die Gebärende dabei, ihr Kind auf die Welt zu bringen. In der anschließenden Wochenbettphase übernimmt die zuständige Hebamme die Betreuung der jungen Familie. Bei regelmäßigen Hausbesuchen fördert sie die Bindung zwischen Mutter und Kind, wiegt das Neugeborene und gibt Hilfestellungen beim Stillen. Zusätzlich führen einige Hebammen Geburtsvorbereitungs- und Rückbildungskurse, Babymassagen sowie Erste-Hilfe-Kurse durch.
Im März steigen in Deutschland die Infektionszahlen. Im gleichen Monat kommen hierzulande nach Informationen des statistischen Bundesamts insgesamt 60.015 Kinder zur Welt. Während das öffentliche Leben stillsteht, arbeiten die Hebammen weiter.
Für die Zeit im Lockdown muss sich Rebecca Teetzen etwas einfallen lassen: Ihr Beruf ist systemrelevant – viele Mütter und Kinder sind auf ihre Betreuung angewiesen. „Zu Beginn hat sich niemand für uns Hebammen zuständig gefühlt. Keiner wusste, wo wir unsere notwendige Schutzkleidung herbekommen sollen.“
Am 3. März beschließt der Hamburger Hebammenverband, alle städtischen Kräfte per E-Mail-Newsletter über die aktuelle Situation zu informieren. Darin rät die erste Vorsitzende Andrea Sturm zunächst, Ruhe zu bewahren und den Anweisungen der Gesundheitsbehörde zu folgen. So wirklich weiß niemand, wie es weitergehen soll.
Bis am 11. April die erste Schutzkleidung aus der zuständigen Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) bei den freiberuflichen Hebammen ankommt, vergehen Wochen. Der Großteil der benötigten medizinischen Gesichtsmasken, Schutzkittel, Handschuhe und Desinfektionsmittel wird in China produziert. Zu diesem Zeitpunkt steht das Land als Krisenherd bereits unter wochenlanger Quarantäne. Weltweit entstehen Lieferengpässe.
„Bei meinen Hausbesuchen trage ich einen selbstgenähten Stoff-Mundschutz.“
In der Zwischenzeit löst Rebecca Teetzen ihr Dilemma provisorisch. Die Hebamme bittet alle Familien, sie vorab über bestehende Symptome und mögliche Risiko-Begegnungen zu informieren. „Ich begleite bis zu 18 Familien parallel durch die Wochenbettphase. Dadurch ist mein Kontaktkreis sehr groß. Ich bin mir meiner Verantwortung für die Gesundheit dieser Menschen bewusst“, erklärt Teetzen. Einen Großteil ihrer Termine führt sie alternativ per Videotelefonat durch.
In der Wochenbettphase sind Mutter und Kind besonders auf die häusliche Unterstützung ihrer Hebamme angewiesen. In dieser Zeit fährt Rebecca Teetzen zu den Familien nach Hause – auch zu Pandemiezeiten. Dabei folgt sie einem Grundsatz: Womöglich infizierte Frauen betreut sie ausschließlich per Videoanruf.
„Bei meinen Hausbesuchen trage ich einen selbstgenähten Stoff-Mundschutz, wasche mir gründlich die Hände und bitte die Familien, vorher gut zu lüften. Diese Schutzmaßnahmen reichen bei der Betreuung gesunder Frauen aus“, erzählt sie. Außerdem hält sie einen Mindestabstand zu Mutter und Kind. Das führt allerdings zu Schwierigkeiten: „Mit so viel Abstand kann ich nur schwer intensivere Stillhilfe leisten. Dort muss ich mir dann zum Beispiel mit einem Kuscheltier behelfen.“
Im Gesundheitszentrum St. Pauli entsteht eine kontaktlose Übergabestation
Nach fünf Wochen können der Hamburger Hebammenverband und die Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz (BGV) schließlich die erste Schutzkleidung an die freiberuflichen Hebammen verteilen. Dafür baut Vorsitzende Andrea Sturm mit ihren Kolleginnen eine kontaktlose Übergabestation im Innenhof des Gesundheitszentrums St. Pauli auf. „Die erste Lieferung enthielt etwa 16 Schutzkittel, 50 FFP-Masken und 12 Flaschen Desinfektionsmittel“, berichtet Sturm. „Der Bedarf unserer mehr als 320 Hebammen war weitaus größer, weshalb wir diese Schutzkleidung nur an Kolleginnen ohne jegliche Schutzausstattung verteilen konnten.“
Mittlerweile sind die Engpässe überwunden. Im Bedarfsfall händigt der Hamburger Hebammenverband innerhalb von 24 Stunden Schutzkleidung an betroffene Hebammen aus.
„Plötzlich habe ich nur noch 7 Euro pro Hausbesuch verdient.“
Zu Beginn der Pandemie belastet die freiberuflichen Hebammen auch ihre Tarifsituation. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen müssen zahlreiche Hausbesuche per Videoanruf durchgeführt werden. „Dadurch durfte ich 45-minütige Hausbesuche lediglich wie ein kurzes Telefonat mit den Krankenkassen abrechnen“, berichtet Teetzen. „Plötzlich habe ich nur noch sieben Euro pro Hausbesuch verdient.“ Auf die Stunde hochgerechnet liegt dieser Wert unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 9,35 Euro.
Um massiven Verdienstausfällen entgegenzuwirken, erließder GKV-Spitzenverband – die zentrale Interessenvertretung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen – am 19. März eine befristete Vereinbarung über die alternative Möglichkeit der Leistungserbringung. Nach diesem Beschluss dürfen digitale Hausbesuche wie reguläre Termine der Schwangerschafts- und Wochenbettbetreuung abgerechnet werden. Demnach erhalten freiberufliche Hebammen für einen digitalen Wochenbettbesuch jetzt 38,42 Euro. Diese Sonderregelung wurde bis zum 30. September 2020 verlängert. Ergänzend kann ein befristeter Pandemiezuschlag von 62 Cent pro Hausbesuch in Wochenbettbetreuung berechnet werden.
Das Arbeitspensum steigt – der Lohn bleibt
Grundsätzlich ist das Lohnniveau der Hebammen im Verhältnis zu ihrer ausgeübten Tätigkeit niedrig. Im vergangenen Jahr veranlasste das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) ein umfangreiches Gutachten über die stationäre Hebammenversorgung. Mehr als zwei Drittel der befragten Hebammen gaben an, während ihrer Schichten drei bis fünf Gebärende gleichzeitig im Kreißsaal betreuen zu müssen. Zusätzlich sei die Arbeitszeit deutlich angestiegen. In Vollzeit angestellte Hebammen verdienen durchschnittlich 2250 Euro netto im Monat.
„Dieses Lohnniveau liegt vor allem in der tariflichen Eingruppierung und in der Gewinnorientierung der Kliniken begründet“, sagt die Vorsitzende. Und Andrea Ramsell, Beirätin für den Angestelltenbereich des Deutschen Hebammenverbands, ergänzt: „In Deutschland steht die Frauengesundheit nicht im Fokus der politischen Debatte.“ Demnach habe die Arbeit der Hebammen einen niedrigen gesellschaftlichen Stand. Außerdem werde die Situation der Hebammen von einem starken Gender-Aspekt beeinflusst. „Der Hebammenberuf wird fast ausschließlich von Frauen ausgeübt. Sie bilden in den Hierarchien der Krankenhäuser die Basis. Lohn- und Entscheidungsfragen werden hauptsächlich in Gremien getroffen, in denen Frauen deutlich unterrepräsentiert sind“, erklärt die Beirätin. Mit der Akademisierung des Hebammenberufes steigt in Fachkreisen die Hoffnung auf neue Karriere- und Lohnchancen.
„Wir brauchen eine 1:1-Betreuung!“
Die hohe Verantwortung und die Leistungsanforderungen belasten in Vollzeit tätige Hebammen. Da ihnen die Vollzeittätigkeit einen verhältnismäßig geringen finanziellen Vorteil verschafft, arbeiten immer mehr Hebammen in Teilzeit. Einige von ihnen denken darüber nach, ihre Tätigkeit komplett aufzugeben. Dadurch verschlechtert sich der Betreuungsschlüssel in den Kliniken weiter. Insgesamt mussten in Deutschland in den vergangenen fünf Jahren mehr als 90 Kreißsäle schließen. Rund 45 Prozent der Betreiber gaben an, aus wirtschaftlichen Gründen zu schließen. Einem Drittel fehlt es an Fachpersonal.
Auch Rebecca Teetzen musste sich schon anpassen. Wegen der besseren Bezahlung macht sich die 27-Jährige bereits im März 2019 zusätzlich zu ihrer Klinikanstellung als freiberufliche Hebamme selbstständig. Etwas später gründet sie mit ihrem Ehemann Andre die Unternehmensberatung „Einfach Hebamme“, welche Hebammen in ihrer Freiberuflichkeit berät. „Ich arbeite momentan 150 Prozent. Nur so komme ich auf einen monatlichen Nettoverdienst von 4.500 bis 5.000 Euro“, berichtet sie. „Große Verdienstausfälle hatte ich in der Corona-Pandemie durch meine Video-Sprechstunden zum Glück nicht.“
Rebecca Teetzen setzt sich täglich mit den Konflikten ihrer Tätigkeit auseinander. Sie kennt die Probleme – und trotzdem spricht sie ausnahmslos positiv über ihren Beruf. Die Hebamme hängt an ihrer Rolle als Bezugs- und Vertrauensperson junger Familien. „Ich habe hautnah miterlebt, wie Fabienne und Ayk zu Eltern geworden sind. Diese 1:1-Betreuung sollte jede Familie auch in Zukunft erleben können – egal, ob im Kreißsaal oder zu Hause.“