Ein Wahlsieg des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden wird immer wahrscheinlicher. Doch dass die USA mit einer Niederlage Donald Trumps zu alter Stabilität zurückfinden und die gesellschaftliche Polarisierung schlagartig hinter sich lassen, ist eine Illusion.
Die Vereinigten Staaten sind das Land der selbsterklärten Superlative: the greatest, the finest, the best – you name it. Auch die Politik bleibt von der amerikanischen Vorliebe für Steigerungsformen nicht verschont. Laut Joe Biden ist die anstehende Wahl – und wie könnte es anders sein – „the most important election of our lifetime“.
Senator Bernie Sanders setzt noch einen drauf: „This is the most important election, not only in our lifetime but in the modern history of our country.”
Für die ehemalige First Lady Michelle Obama geht es gar um Leben und Tod: „Vote for Biden, like your life depends on it.“
Um es kurz zu machen: Die überschwänglichen Erwartungen an die anstehende Wahl am 3. November, die von den Demokraten geschürt werden, sind maßlos übertrieben. Sie suggerieren, dass die schwerwiegenden Probleme des Landes mit einer einzigen Wahl gelöst werden könnten; dass ein personeller Wechsel an der Spitze der amerikanischen Exekutive alle Wunden heilt und man so zu einer alten Normalität zurückkehren könnte.
Das Symptom Trump
Doch das ist ein Irrtum: Donald Trump ist nicht der Grund für die Polarisierung des Landes, er ist das Symptom. Wie kein anderer Präsident hat er die Entzweiung der Nation schamlos für seine Zwecke genutzt, hat es stets vorgezogen zu spalten als zu einen. Selbst in der Corona-Krise hat er bewiesen, dass er nicht willens ist, wenigstens auf einer symbolischen Ebene das Volk anzusprechen und zu versöhnen. Doch der Ursprung der tiefen sozialen Ungleichheit, der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung und des bröckelnden nationalen Zusammenhalts ist nicht personeller, sondern struktureller Natur.
Die US-Politik ist zu einem zermürbendem Null-Summenspiel geworden. Auf einen charismatischen, progressiven Demokraten folgt ein republikanischer Law-and-Order Präsident. Und das seit Jahrzehnten: Nach Bill Clinton kam George W. Bush, auf Barack Obama folgte Donald Trump. Der Nachfolger war stets bemüht, die Errungenschaften seines Vorgängers einzureißen. Zwei Schritte vor, zwei Schritte zurück. Das Land tritt auf der Stelle.
Verschnaufpause oder Neuanfang?
Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass ein künftiger Präsident Biden die tiefen Gräben der Parteipolitik und gesellschaftlichen Polarisierung mit einem Schlag überwinden kann. Sicherlich könnte seine Präsidentschaft dem Land eine dringend notwendige Verschnaufpause geben. Gerade auf der internationalen politischen Bühne und in der Zusammenarbeit mit westlichen Partnern wie Deutschland würde er für Entspannung sorgen. Um jedoch den großen Herausforderungen im Inland zu begegnen, bedarf es tiefgreifender Reformen – man denke an das undemokratische Wahlsystem oder die völlig dysfunktionale Gesundheitsversorgung. Es ist mehr als fraglich, ob der 77-Jährige einen solchen Neuanfang verkörpern kann – er wäre bereits bei seinem Amtsantritt im Januar 2021 der älteste US-Präsident der Geschichte.
Wenn es die Demokraten nicht schaffen, einen Schritt auf die abgehängte Landbevölkerung im Mittleren Westen und den Südstaaten zuzugehen, ohne dabei die Stammwählerschaft an den Küsten und in den Großstädten zu vergraulen, wird sich an der Polarisierung wenig ändern. Dieser Spagat ist riskant, aber notwendig, um das Land zu einen.
Der inflationäre Gebrauch von Superlativen wird da kaum weiterhelfen. Bereits bei der Wahl 2016 sprach Biden von der „most important election, in any of our lives“. So lieben es die Amerikaner halt.