gefragt: Nadia Kailouli über Seenotrettung

Wo hört Journalismus auf, wo beginnt Aktivismus? – Grimme-Preisträgerin Kailouli wird oft mit dieser Frage konfrontiert (Foto: Privat/RBB/NDR)

Die NDR-Reporterin Nadia Kailouli hat bereits mehrfach über zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer berichtet – zuletzt an Bord der Sea-Watch 3. Oft wird Kailouli dabei vorgeworfen, in ihrer Berichterstattung nicht ausreichend journalistische Distanz zu wahren. Wie sie mit solcher Kritik umgeht, hat sie KOPFZEILE im Interview verraten.

Kopfzeile: Frau Kailouli, wie haben Sie sich auf die Rettungsmission der Sea-Watch 3 vorbereitet?

Nadia Kailouli: Vorbereiten muss man sich auf jeden Fall. Aber nicht nur journalistisch. Natürlich prüft der Sender: Wie gefährlich ist das? Können wir unsere Leute da hinschicken? Auch die Seenotrettungsorganisationen konfrontieren einen mit ernsten Fragen: Können Sie Tote sehen? Haben Sie Angst davor, Menschen beim Ertrinken zu sehen? So wird einem bewusst, dass da draußen wirklich alles passieren kann. Meine beste Vorbereitung war allerdings, dass ich vor vier Jahren schon einmal an Bord eines Rettungsschiffes der französischen Nichtregierungsorganisation SOS Méditerranée mitgefahren bin. Die Erlebnisse haben mich damals sehr hart getroffen.

Sie haben damals mit Ihren eigenen Händen Schiffbrüchige an Bord gezogen.

Ja, ich war selbst Teil des Geschehens. An einem Tag war das Wetter so schlecht, dass nicht alle Menschen gerettet werden konnten. Bevor der Rettungseinsatz überhaupt losgehen konnte, waren bereits Menschen in den Schlauchbooten tot. Für die Crew waren es extreme Bedingungen: Die Wellen haben das Schiff von einer Seite zur anderen geworfen. Mein Kameramann Harris und ich wollten das Geschehen natürlich so gut es ging abbilden. Wir Journalisten sind da schließlich nicht zum Helfen, sondern zum Berichten. Doch dann kam ein Arzt und stellte uns vor die Wahl: „Ich brauche hier jede Hand. Entweder ihr bleibt an Deck und seht Tote, oder ihr geht in eure Kabinen.“

Wir Journalisten sind da schließlich nicht zum Helfen, sondern zum Berichten

Nadia Kailouli, NDR

Sie entschieden sich, an Deck zu bleiben und mitzuhelfen. Die Kamera ließen Sie zwischenzeitlich ruhen. Warum? 

Wir waren damals junge und unerfahrene Journalisten in einem Krisengebiet. Wenn da Menschen, die schon über zehn Stunden auf dem Mittelmeer unterwegs gewesen sind, nackt und schreiend vor dir stehen, dann kannst du da nicht mehr die Kamera draufhalten. Wir konnten das jedenfalls nicht. Ich denke heute immer noch darüber nach: Inwieweit konnten wir da noch Journalisten sein? Aber nicht, weil wir nicht neutral waren, sondern weil wir einfach nicht in der Lage waren, dieses Leid zu filmen – wie ein nackter Mensch kurz vor dem Tod auf so ein Schiff kommt. Das ist für diesen Menschen eine absolut würdelose Situation.

Hanns Joachim Friedrichs, ein Urgestein der Tagesthemen, hat ja stets beteuert, man dürfe sich als Journalist niemals mit einer Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten. Finden Sie, dass Sie Ihrer Rolle als Journalistin gerecht geworden sind? 

Die Debatte darum, wie weit Journalismus gehen darf oder wo er aufhört, hat es meiner Meinung nach in dieser Intensität vor vier Jahren noch nicht gegeben. Da gab es eher noch  eine Nachfrage nach Reportern, die mal mitmachen, die mal eintauchen, die mal miterleben. Das war auch diesmal der Auftrag: Geh raus und erleb‘ was mit. Komischerweise ist es bei der Flüchtlingshilfe immer eine große Debatte, wie weit man gehen darf und ob man da nicht seine journalistische Rolle verliert. Ich finde nicht. Wir stellen ja auch kritische Fragen: Zum Beispiel, ob es aufgrund der Seenotrettung einen sogenannten Pull-Faktor gibt, der die Menschen erst zur Überfahrt nach Europa ermutigen könnte. Da guckt man sich die Fakten an und lässt die Studien für sich sprechen. Da geht es nicht um meine Haltung oder um Aktivismus im Journalismus. Da geht es darum, dass wir den Zustand auf dem Mittelmeer wahrhaftig abbilden.

Nadia Kailouli ist freie Reporterin für den NDR und Autorin beim Reportageformat „strg_f“. 2019 war sie mit an Bord der Sea-Watch 3 und hat Carola Rackete auf ihrer dreiwöchigen Odyssee über das Mittelmeer begleitet. Für ihren Dokumentarfilm SeaWatch3 ist sie im März 2020 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet worden. 

Foto: Privat

Nicht jeder Zuschauer nimmt das auch so wahr. Wie gehen Sie mit den Vorwürfen um, dass Sie keine neutrale Berichterstattung verfolgen? 

Ich finde schade, dass mir bei meiner Arbeit oft eine politische Positionierung nachgesagt wird. Ich möchte mir keine Vorwürfe anhören müssen, dass ich mich politisch positioniert habe, nur weil ich grundsätzlich darüber berichten möchte, wie Menschen leben, die aus Teilen Afrikas nach Europa geflüchtet sind. Einem Sportjournalisten würde man doch auch nicht vorhalten, dass er nicht neutral ist, weil er sich mehr für Fußball als für Handball interessiert.  Ich würde gerne noch viel öfter über die Seenotrettung auf dem Mittelmeer berichten. Doch ich arbeite für ein audiovisuelles Medium. Beim Fernsehen bedarf es ständig neuer Bilder. Wenn ich jetzt nochmal auf einem Schiff mitfahren würde, wäre es im Prinzip dieselbe Story. Bildlich würde sich da nicht viel ändern. Es ist natürlich traurig, dass man so schnell nicht wieder für denselben Sender solch eine Reportage machen kann.

In Ihrer Dokumentation SeaWatch3 kommen Geflüchtete oft selbst zu Wort und teilen intime Momente und Erinnerungen mit dem Zuschauer. Wie haben Sie dieses Vertrauen gewonnen? 

Man ist ja auf diesem Schiff permanent zusammen. Ich wollte nicht nur für ein paar Interviews vorbeikommen und mich dann wieder in meine Kabine verkriechen, sondern ich wollte wirklich erleben, was da passiert. Ich habe mit den anderen auf dem Boden gesessen und gegessen. Ich habe auch selbst mit angepackt, beispielsweise bei der Essensausgabe. Man lebt ja schließlich gemeinsam auf diesem Schiff. Ich konnte mich nicht in ein gemütliches Hotelzimmer zurückziehen und sagen: Drehtag ist zu Ende und morgen um 7:30 Uhr geht es wieder los. Dieser gemeinsame Umgang mit einer herausfordernden Situation schafft natürlich Vertrauen. Einige Geflüchtete haben trotzdem erst nach einer Woche mit uns gesprochen. Einer hat mir erklärt: „Weißt du, ich war so lange in Libyen, da darfst du eine Frau noch nicht mal angucken als Schwarzer. Wenn jemand sieht, dass sich deine Augen nur kurz auf eine Frau richten, bekommst du schon Schläge.“ Er hat gesagt, dass es ihm deshalb sehr schwerfiel, einfach nur mit mir oder der Ärztin an Bord zu sprechen. Mit der Zeit hat er sich aber an uns gewöhnt und Vertrauen gewonnen. 

Hat also die Zeit eine entscheidende Rolle gespielt? 

Natürlich macht die Zeit auch etwas aus. Wir haben damit gerechnet, vielleicht für eine Woche auf dem Schiff zu sein, aber nicht für drei. Das war völlig unerwartet. Wir konnten ja nicht ahnen, dass die Reise der Sea-Watch 3 zu so einer Odyssee und solch einem Politikum werden würde. Ich würde aber nicht sagen, dass drei Wochen unbedingt zusammenschweißen. Klar, meinen Kollegen Jonas Schreijäg und mich hat das als Team zusammengeschweißt. Aber nicht alle Personen an Bord. So ein Schiff ist so eng, da kann man sich auch richtig auf die Nerven gehen. Carola Rackete war als Kapitänin rund um die Uhr beschäftigt: Funken, navigieren, mit den italienischen Behörden kommunizieren. Wenn wir Reporter dann auch noch dazwischengefunkt haben, war das für sie eher nervig als angenehm.

Auch heute noch sterben jeden Tag Menschen auf dem Mittelmeer. Doch inzwischen findet das Thema in den deutschen Medien kaum noch statt. Woran liegt das? 

Dieses Thema begleitet uns jetzt schon seit so vielen Jahren. Seit 2016 sind Menschen aus der Zivilgesellschaft auf dem Mittelmeer unterwegs, finanziert von Spendengeldern, und retten Menschen in Seenot, die aus Libyen geflüchtet sind. Ich verstehe beide Seiten: Ich verstehe den Drang danach, mehr über das Thema berichten zu wollen. Es ist kein One-Hit-Wonder, es passiert andauernd, jeden Tag und mit den schlimmsten Ausmaßen. Aber dass es so ein Dauerzustand ist, ist auch problematisch für die Berichterstattung. Medien tun sich manchmal schwer, über etwas zu berichten, wenn sich nichts verändert. Ich möchte das nicht verurteilen, aber trotzdem frage ich mich: Wie können wir weiterhin über dieses Thema berichten, damit es im Blickfeld bleibt? Denn nichtsdestotrotz ist das Thema relevant und es muss darüber gesprochen und nachgedacht werden. 

Die Odyssee der Sea-Watch 3

Am 12. Juni 2019 rettet die Sea-Watch 3 vor der libyschen Küste 53 Menschen in Seenot. Kapitänin Carola Rackete nimmt Kurs auf die italienische Insel Lampedusa, anstatt einen 47 Seemeilen entfernten libyschen Hafen anzusteuern. Laut internationalem Seerecht müssen Gerettete an einen sicheren Ort gebracht werden. Rackete entscheidet: Libyen ist für die Schiffbrüchigen nicht sicher. Bis Lampedusa sind es über 250 Seemeilen. Die italienischen Behörden verhängen eine Hafensperrung und fordern Rackete mehrfach auf, ihren Kurs zu ändern. Nach 21 Tagen auf See läuft die Sea-Watch 3 trotz Verbot in den Hafen von Lampedusa ein und rammt dabei ein Schnellboot der italienischen Küstenwache. Noch im Hafen wird Rackete festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Die Vorwürfe: Beihilfe zur illegalen Einwanderung und Widerstand gegen ein Kriegsschiff. Am 18. Juli 2019 stellt sich Rackete rund vier Stunden den Fragen der Staatsanwaltschaft und wird anschließend ohne Auflagen freigelassen. 

Foto: Jon Stone/Sea-Watch.org